Bude: Ob Leistung zum Erfolg führt, ist unklar

Moderation: Gabi Wuttke · 11.10.2006
Der Kasseler Soziologe Heinz Bude hat den vom SPD-Vorsitzenden Kurt Beck beobachteten Trend zur Perspektivlosigkeit und Lethargie in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft bestätigt. Es gebe einen prekär gewordenen Zusammenhang von Leistung und Erfolg, sagte Bude. Viele Menschen sähen es daher nicht mehr ein, sich anzustrengen.
Gabi Wuttke: Den Begriff der Unterschicht hat SPD-Chef Kurt Beck vorsichtshalber anderen in den Mund gelegt, er selbst spricht in der "FAZ" von "armen Familien", die sich materiell und kulturell mit dem Abstieg arrangiert hätten und die - was den gelernten Elektromechaniker offenbar besonders fuchst - deshalb ihren Kindern auch keine Perspektive mehr geben. Auch Professor Heinz Bude vom Institut für Sozialforschung beobachtet "irritierende" Phänomene in unserer Gesellschaft. Guten Morgen, Herr Bude.

Heinz Bude: Guten Morgen, Frau Wuttke.

Wuttke: Hat Kurt Beck Recht, haben sich viele, zu viele damit abgefunden, Verlierer zu sein - ein Gefühl, das sie an ihre Kinder weitergeben?

Bude: Es gibt schon beängstigende Zahlen. Also wir haben Umfragen mit Berufsschullehrern gemacht. Und die gehen davon aus, dass es 15 Prozent ihrer Schüler - bis zu 20 - gibt, die sie als "ausbildungsmüde" bezeichnen. Das heißt, die das Gefühl haben, wenn sie die Mühe einer Ausbildung auf sich nehmen, dass das für sie nichts nützt. Und auch die Angebote an ihnen abprallen. Das war eine durchaus verzweifelte Aussage von den Berufsschullehrern, weil sie sagten: Wie kommen wir eigentlich an diese jungen Menschen heran, denen - wenn Sie so wollen - diese klassische, wir würden wahrscheinlich sagen: bürgerliche Leistungsmotivation fehlt, nach vorne zu kommen, weiterzukommen, über eine Berufsausbildung sich einen Sozialstatus zu erobern oder sichern?

Wuttke: War das denn früher anders?

Bude: Ich glaube schon, dass es etwas anders war. Weil es muss ja doch eine Möglichkeit geben für diese jungen Leute, ein Leben zu führen, wo sie irgendwie hinkommen, sonst macht man das ja nicht. Und es scheint offenbar eine Fülle von Bedingungen zu geben, wo sie das Gefühl haben, erstens: Wir sind nicht wirklich willkommen, also mit unseren Anstrengungen innerhalb der Gesellschaft, und zweitens: Vielleicht gibt es auch vielfältige Möglichkeiten von Einkommensmix, über die Tage zu kommen. Das ist auch ein interessantes Phänomen. Wir sind ja in Deutschland noch nicht so weit - vielleicht wollen wir auch nicht so weit sein - wie das etwa die Dänen sind, die sagen, dass in einem bestimmten Alter, in einem bestimmten jugendlichen Alter nur ein bestimmtes Maß von Sozialhilfe, wie so eine Art Gutschein-System, den Leuten gegeben wird. Und wenn die aufgebraucht sind, kriegen sie nichts mehr. Das ist eine harte Strategie. Wir sind ein bisschen gedämpfter in unseren Strategien. Das hat aber auch vielleicht manchmal etwas unangenehme Effekte.

Wuttke: Gedämpfte Strategien. Der SPD-Chef bleibt eine Erklärung schuldig, warum seiner Meinung nach Lethargie Leistung verdrängt. Er murmelt irgendwas von Gesellschaft und verlorener Durchlässigkeit. Was treibt in die Lethargie? Wo ist diese Ärmelaufkrempel-Mentalität hin, die wir eigentlich kennen?

Bude: Ich denke schon, dass - es gibt eine Situation, über die man sich Klarheit verschaffen muss, die nicht nur für Unterklassen oder vermeintliche Unterklassenleute zutrifft: Es gibt einen prekär gewordenen Zusammenhang von Leistung und Erfolg. Es ist unklar, welche Leistung eigentlich zu welchem Erfolg führt. Das heißt, wenn man eine Ausbildung macht, zum Beispiel als Elektro…, im Elektrogewerbe, ist es noch nicht sicher, dass man übernommen wird, vor allen Dingen bei einem Großbetrieb. Und es ist unklar, was einem das dann eigentlich bringt. Das heißt, es ist gerade für viele - und das scheint eine Art Motivationsproblem zu sein -, dass man sagt: "Ja für was strenge ich mich eigentlich an, wenn unsicher ist, was ich damit machen kann?" Und die Botschaft der Gesellschaft, die dann sagt: "Na ja, musste halt gucken, ob du Pech hast oder Glück hast", das ist ein bisschen wenig für die Leute.

Wuttke: Aber was heißt das, Herr Bude, für die Politik, also für den "vorsorgenden Sozialstaat", den Kurt Beck beschwört? Denn man muss auf der anderen Seite doch festhalten, es hat immer und wird immer Menschen geben, die aus ihrer Situation über den Schatten springen.
Bude: Richtig. Ich glaube, die Grundfrage, die wir in Deutschland auch in der gesamten Kultur unseres Sozialstaates noch nicht wirklich klargekriegt haben, ist die Idee einer gerechten Anstrengung. Was kann man eigentlich von Leuten verlangen und wofür muss die Allgemeinheit definitiv aufkommen? Und dieses Verhältnis von Selbstverantwortung, die in allen möglichen Zusammenhängen ja heute gefordert wird, und aber auch gleichzeitig Allgemeinheitsverpflichtung, das ist noch nicht neu balanciert. Und man muss vielleicht Beck, wenn man es positiv nimmt, zugute halten, dass er diese Frage aufbringt, wie dieses Verhältnis eigentlich zu sehen ist.

Wuttke: Selbstverantwortung. Sie fragen ja gerade oder haben auf dem Deutschen Soziologenkongress gerade gefragt: Was heißt das, wenn man den Sozialstatus am Zustand der Zähne ablesen kann? Was kann man daran ablesen?

Bude: Ich glaube, es ist etwas, was jedem heute auffällt, passiert in Deutschland, woran wir lange nicht mehr gedacht haben, dass es wiederkommt: Dass es so etwas wie eine Sichtbarkeit des Sozialstatus gibt. Und zwar eine körperliche Sichtbarkeit des Sozialstatus. Und die Zahnfrage ist deshalb so wichtig, weil da der Punkt ist, wo die Leute doch auch in Finanzierungsschwierigkeiten geraten - wenn sie nicht gerade nach Polen fahren können, um sich die Zähne machen zu lassen. Also es gibt diese Idee einer Selbstsorge, sich selbst zu sorgen, die, was die Zähne betrifft, finanziell sehr aufwändig geworden ist. Und das heißt, wir haben untergründig für diese Arten von Selbstdarstellungen, von Sich-fit-halten für die Öffentlichkeit, da beginnt eine Art von Klassenspaltung in unserer Gesellschaft deutlich zu werden. Auf den Arten und Weisen, wie man sich im Alltag und für andere gibt. Man kann das sogar in Umfragen relativ deutlich herausfinden, dass mehr und mehr Leute das Gefühl haben, dass es auf sie nicht mehr ankommt und dass sie mit anderen in öffentlichen Situationen nicht mehr so richtig mithalten können.

Wuttke: Der Soziologe Heinz Bude im Deutschlandradio Kultur. Herr Bude, Beck scheut ja das Wort von der Unterschicht. Sie haben eben von "Unterklassen" gesprochen. Wie ist dieser Begriff eigentlich definiert, ausschließlich materiell?

Bude: Nein, überhaupt nicht ausschließlich materiell. Da gehört auch eine kulturelle Dimension dazu, also die Idee eines Lebens, die unterschiedlich ist in unserer Gesellschaft. Und natürlich gehört etwas dazu, was man lange vielleicht nicht so richtig sieht, das sind die sozialen Beziehungen, die etwa deutlich werden bei Partnerwahlen. Da gibt es auch etwas, was für die Frühphase der Bundesrepublik, für die erste Nachkriegszeit - auch übrigens in der DDR ganz ähnlich - nicht so gegolten hat. Die sozialen Milieus, was die Partnerwahl betrifft, schotten sich mehr und mehr voneinander ab. Es gibt weniger herkunftsübergreifende Partnerwahlen. Das nimmt eher zu, diese Abschottung der sozialen Bereiche voneinander. Also das wäre diese Dimension der sozialen Beziehung, die durchaus untere und mittlere Soziallagen voneinander unterscheidet. Und da gibt es eine zunehmende Tendenz, dass Leute etwa mit gleichem Bildungsstatus sich heiraten und dass man nicht innerhalb der Ehe oder Partnerschaft, die man findet, einen unterschiedlichen Bildungsstatus zusammenbringt. Das spricht auch dafür. Denn unterschiedlicher Bildungsstatus, wenn wir mal klassisch nehmen, die Frau hat etwas weniger als der Mann, das führt zu einer Motivationsstärkung für die Kinder, um Aspirationen, um Ideen zu entwickeln, wie man im Leben weiterkommen kann. Wenn sich das angleicht, wie wir sagen: homogenisiert, hat das für die Kinder auch nicht unbedingt einen Motivationsaspekt. Das muss man sehen, das findet in unserer Gesellschaft heute statt. Das zweite Problem ist, wir haben für diese Probleme anders als die Briten oder als die Amerikaner eigentlich keinen Begriff. Für die ist klar: es gibt die "Underclass". Und das kann man negativ gebrauchen, wie das manche, so Konservative tun. Man kann das aber auch ganz positiv diesen Begriff als Appellationsbegriff, wie es eher von der linken Seite getan wird. Der ist da, zuhanden in Großbritannien und in Amerika. Wir haben Begriffe zur Skandalisierung von benachteiligten Lagen, haben wir keine guten Begriffe in Deutschland.

Wuttke: Aber ich muss noch mal einhaken bei Ihrer Schilderung der Ehen zwischen unterschiedlichen Klassen. Ich meine, es ist doch eine Sozialromantik, die 30 Jahre her ist in Deutschland, dass - um Ihr Beispiel mal umzudrehen - die Rechtsanwältin einen Automechaniker heiratet und diese Ehe hält und ist glücklich?

Bude: Sie wissen, dass manche Leute ja heute gut ausgebildeten Frauen raten, sie sollen eher sozusagen unter ihrem Sozialstatus heiraten - aber das ist vielleicht eher eine witzige Überlegung.

Wuttke: Ich glaube nicht.

Bude: Eben, genau. Aber es ist trotzdem so, es hat immer klassische Muster, gerade in Aufstiegsbewegungen. Einer der Grunderzählungen der Bundesrepublik war doch über eine lange, und von heute aus gesehen relativ glückliche Nachkriegszeit, dass es die Kinder mal besser haben sollten als die Eltern.

Wuttke: Eben das ist es ja, worauf Kurt Beck rekurriert und dabei auf seine eigene Geschichte guckt.

Bude: Genau, genau. Und diese Erzählung, also des Familienaufstiegs der gleich geht mit dem Gesellschaftsaufstieg, diese Erzählung ist nicht mehr so einfach weiterzuführen. Und das ist eine Gesamtatmosphäre, die in der Gesellschaft eine Rolle spielt, dass man eher, dass Leute vermehrt das Gefühl haben, wenn sie denn in Himmel kommen, dann werden sie wohl die Glocken läuten hören.

Wuttke: Sie haben, Herr Bude, am Anfang unseres Gesprächs gesagt, dass Sie es durchaus zu schätzen wissen, dass Kurt Beck dieses Thema angesprochen hat. Und noch ein kurzes Wort: Es gibt Kommentatoren, die sagen, dass der SPD-Vorsitzende das gesagt hat, sei fast "revolutionär". Finden Sie das auch?

Bude: Ich finde das auch, weil sich damit der Sozialdemokratie auch ein ganz anderes Stück soziale Aufmerksamkeit öffnet. Man wird etwa zum Beispiel auch darüber reden müssen, über Essverhalten von Leuten, von jungen Menschen in Schulen - die große Initiative von Bill Clinton in den USA, dass man mit den Softgetränk-Konzernen Übereinstimmung findet, dass das nicht an Schulen verabreicht wird. All solche Dinge, das steht uns alles noch bevor in Deutschland. Also eine Erweiterung der Perspektive für die soziale Frage. Und das finde ich, positiv gesehen, gut an der Bemerkung von Kurt Beck.

Wuttke: Lethargie statt Leistung. Eine Antwort auf den Befund von Kurt Beck von dem Soziologen Heinz Bude. Ich danke Ihnen sehr.

Bude: Ich danke Ihnen.