Buchkritik

Jüdisches Leben nach dem Nazi-Terror

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Der erste Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Hendrik George van Dam. Das Foto stammt aus dem Jahr 1970. © Hendrik George van Dam
Von Raphael Rauch · 06.06.2014
Der eine leitete eine jüdische Zeitung, der andere den Zentralrat der Juden: In einem neuen Buch porträtiert die Historikerin Andrea Sinn zwei Männer, die das jüdische Leben in der frühen Bundesrepublik entscheidend geprägt haben.
Andrea Sinn: "Wie kann man sein Kind Karl Marx nennen? Ich glaube, Karl Marx hat sich das womöglich auch manchmal gefragt, aber sich nicht ganz unwohl gefühlt mit dem Namen. Andere in seinem Umfeld haben immer mal wieder darüber gesprochen und gesagt: ja, der Namensvetter, und so weiter, dadurch, dass er auch noch in derselben Region geboren ist, Exil in England... Aber: Die ganz konkrete Antwort kann ich nicht geben."
Karl Marx kämpfte im Ersten Weltkrieg für Deutschland und bekam dafür das Eiserne Kreuz. Später arbeitete er in Berlin als freier Journalist. Als die Nazis an die Macht kamen, flüchtete er ins Exil. 1946 kehrte Marx nach Deutschland zurück und half zunächst den verbliebenen Juden, aus Deutschland auszuwandern. Doch schon bald erhielt er das Angebot, das Jüdische Gemeindeblatt in Düsseldorf zu übernehmen.
"Als Journalist war das für ihn natürlich eine unglaublich spannende Herausforderung, in dieser Umbruchphase eine Zeitung führen zu dürfen, ihr ein neues Gesicht geben zu können."
Gottesdienstzeiten, koscheres Essen und Heiratsannoncen – die Zeitung berichtete über praktische Themen ebenso wie über Politik. Das zeigt: Juden konnten im Land der Täter bleiben. Für viele noch ein Tabu, schließlich saßen die meisten Juden nach dem Nazi-Terror auf gepackten Koffern. Karl Marx nahm als Journalist kein Blatt vor den Mund. Als 1947 jüdische Flüchtlinge auf dem Schiff "Exodus" vor Palästina zurückgeschickt wurden, schrieb er in einem Kommentar:
"Es ist kein Wunder, wenn dieses Vorgehen der britischen Militärregierung in der ganzen zivilisierten Welt die stärkste Empörung auslöst. Es fragt sich nur, warum man in London so kriegerisch gegen die hilflosen Juden und so human gegen die noch massenhaft in der britischen Besatzungszone vorhandenen Kumpane des Naziregimes gesonnen ist!"
Hendrik van Dam war eher der Strippenzieher im Hintergrund. Wie Marx hatte auch van Dam einen Teil des Exils in England verbracht und war kurz nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekehrt. 1950 wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet, van Dam wurde der erste Generalsekretär.
Andrea Sinn: "Er war der erste und lange Zeit einzige fest angestellte Mitarbeiter und hat als solcher sich sehr, sehr eng verbunden gefühlt mit den Gemeinden. Das heißt: Hier war er sehr versiert, extrem gut vernetzt und sehr erfolgreich."
Ihr Beitrag für das jüdische Leben war immens
Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Funktionären Hendrik van Dam und Karl Marx war anfangs gut. Große Anerkennung erhielt Marx für sein Interview mit Konrad Adenauer kurz nach dessen Wahl zum Bundeskanzler 1949. Darin versprach Adenauer umfassende finanzielle Unterstützung für die Holocaust-Überlebenden und Waren im Wert von zehn Millionen Mark für Israel. Das Interview ging um die Welt.
"Und das war für Karl Marx der journalistische Höhepunkt, dass er dieses Vorrecht hatte, dieses Interview an die Öffentlichkeit weiterzugeben."
Auch später ging Marx bei Politikern in Bonn ein und aus und pflegte ein enges Verhältnis zu Kurt Georg Kiesinger.
Andrea Sinn: "Karl Marx sah hier einen Politiker, dem er durchaus einiges zutraute im Hinblick auf die deutsche Politik. Er hat hier einfach durch seine Unterstützung sich dem Vorwurf ausgesetzt, Persilscheine auszugeben für jene, die trotz einer NSDAP-Vergangenheit in der Bundesrepublik politisch Karriere gemacht haben."
Van Dam beäugte Marx' Treiben argwöhnisch und trieb ein Konkurrenzprodukt voran: den Jüdischen Presse Dienst – über 20 Jahre lang offizielles Mitteilungsblatt des Zentralrats. Trotz aller Differenzen waren sich Marx' und van Dams Ziele aber ähnlich. Auch van Dam war die finanzielle Entschädigung für die Nazi-Verbrechen wichtig. Der Generalsekretär hat sich...
"als Jurist für die Frage der Wiedergutmachung, der Rückerstattung eingesetzt und war als Experte für die jüdische Gemeinschaft von unschätzbarem Wert. Bis Ende der 1960er-Jahre war er der zentrale Ansprechpartner für die deutsche Politik."
Marx und van Dam waren sich auch darin einig, dass Hitler nicht gelingen sollte, jüdisches Leben für immer zu vernichten. Ihr Beitrag für den Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Deutschland war immens:
"Mit einer Kompetenz, die sie zu wichtigen Figuren haben werden lassen für diese Gemeinschaft, die heute wieder sehr lebendig und sichtbar in Deutschland vertreten ist, gerade aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit sich mit vielen existenziellen Fragen auseinandersetzen musste und diese Figuren brauchte, kompetent, sprachlich versiert, überzeugt von dem, für das sie kämpfen. Und das waren Marx und van Dam."