Gaël Faye: "Kleines Land"

Bildkräftiger Roman gegen das Vergessen

Der Schriftsteller Gael Faye bei der Verleihung des Prix Goncourt, im Vordergrund das Cover seines auf Deutsch bei Piper erschienenen Romans "Kleines Land" (Montage)
Autor Gaël Faye beginnt mit einer Welt, die die Vorzeichen aufbrandenden Hasses verdrängt. © picture alliance / dpa / Thomas Padilla
Von Marko Martin · 25.10.2017
Das Debüt des in Frankreich lebenden Musikers, Rappers und Autors erzählt von einer zerstörten Kindheit im ostafrikanischen Burundi. Er lässt das als "unvorstellbar" Bezeichnete verstörend konkret werden. Ein kraftvolles Buch, ohne jegliche Klischees.
Erinnert sich noch jemand an den Genozid in Ruanda, als 1994 binnen weniger Wochen knapp eine Million Tutsi ermordet wurden – unter Duldung von Francois Mitterands Frankreich, das zuvor die Killer militärisch ausgerüstet hatte? Es scheint, als sei das damalige Geschehen längst dem kollektiven Gedächtnis des Westens entrückt.

Konkretion in verstörender Intensität

Gegen derlei Vergesslichkeit helfen indessen wohl weniger historische Analysen als bildkräftige Romane, die tiefer loten als aller "Diskurs". Gaël Fayes Debüt "Kleines Land" ist ein solches Buch. Der 1982 in Burundi geborene und seit 1995 in Frankreich lebende Musiker und Rapper hat einen Ton gefunden – ebenso kompakt und vital wie poetisch und atmosphärisch dicht – , der das gemeinhin und bequem als "unvorstellbar" Bezeichnete konkret werden lässt in Szenen von verstörender Intensität.
Erzählt wird eine Kindheitsgeschichte im Schatten drohender Massaker – aus der Perspektive eines Jungen namens Gabriel, der in Bujumbura, der Hauptstadt von Ruandas Nachbarland Burundi, aufwächst. Seine Mutter war Anfang der sechziger Jahre als verfolgte Tutsi aus Ruanda geflüchtet, der Vater ist ein weißhäutiger Franzose. Die Ehe zerbricht Anfang der neunziger Jahre, und auch die binationalen Ehen der Eltern von Gabriels privilegierten Mittelschicht-Freunden sind alles andere als harmonisch. Auch deshalb führt der Klappentext des Buches, der von glücklich Mangos pflückenden Kindern plappert, deren "Paradies" vom Bürgerkrieg zerstört wurde, ziemlich in die Irre: Offenbar wird nämlich vor allem eine hochkomplexe Welt, welche die Vorzeichen aufbrandenden Hasses zwar sieht, doch verdrängt.

Kein sicherer Hafen

Bei einem Hochzeitsbesuch in Ruanda entkommen Gabriel und seine Mutter gerade noch den mordlüsternen Hutu-Milizen, ihre Verwandten indessen werden dann im Frühjahr 1994 alle dahingemetzelt. Doch auch Burundi ist kein sicherer Hafen, nicht einmal der kindliche Spielplatz hinter dem Haus. Hier sind es nun Tutsi, die aufgrund des ruandischen Genozids auf Rache an den Hutu sinnen, deren Dörfer niederbrennen, in den Straßen der Hauptstadt Blockaden errichten und ethnische Selektion betreiben. In einer kaum erträglichen Szene wird schließlich auch der junge, in Bücher anstatt in Waffen verliebte Gabriel dazu gebracht, ein Menschenleben auszulöschen.
Währenddessen ist seine Mutter aufgrund das Schicksals ihrer in Ruanda ermordeten Familie wahnsinnig geworden – obgleich der entsetzte Sohn gerade diese Bezeichnung anzweifelt, da ihm eher die umgebende Welt verrückt erscheint. Zusammen mit seiner Schwester Ana wird er schließlich in ein Flugzeug nach Paris gesetzt und aus seiner zerstörten Kindheit "ausgeflogen". Kurze Zeit später kommt der Vater in einem Hinterhalt in Bujumbura um.

Rückkehr ohne Happy End

Nach zwei Jahrzehnten beschließt der inzwischen erwachsene Gabriel, der in Frankreich "integriert" ist, jedoch nie wirklich heimisch wurde, nach Burundi zu fliegen und seine Mutter zu suchen. Doch geradezu lakonisch wird die Rückkehr auf den letzten Seiten dieses packenden Romans beschrieben: Dem Wiedersehen folgt kein Happy End.
Wenn es so etwas gibt wie literarische Ethik, dann zeugt dieses Buch davon: Aufrichtigkeit ohne Didaktik, ein Geschichtenerzählen, das an die Grenzen des Sagbaren geht und in keiner Zeile Stereotypen huldigt. "Ein kleines Land" ist ein großer Roman, den man so schnell nicht vergisst.

Gaël Faye: "Kleines Land"
Roman, aus dem Französischen von Brigitte Grosse und Andrea Alvermann
Piper Verlag, München 2017
223 Seiten, 20 Euro

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