Buchenwald-Gedenken

Mythen und Lügen des DDR-Antifaschismus

Besucher der Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Weimar-Buchenwald legen Blumen und Kränze vor die Figurengruppe des Bildhauers Fritz Cremer, die den Tag der Befreiung des Lagers am 11. April 1945 symbolisiert.
Die Figurengruppe des Bildhauers Fritz Cremer in Buchenwald symbolisiert den Tag der Befreiung des Konzentrationslagers am 11. April 1945. © dpa / picture alliance / Zentralbild
Von Sabine Adler · 03.02.2016
Die Logik war schlicht, die Rhetorik scharf: Die DDR sei ein Hort des Antifaschismus, die BRD eine gefährliche Brutstätte für Kriegstreiber. Doch rund um das Konzentrationslager Buchenwald und den berühmten Roman "Nackt unter Wölfen" wucherten Mythen und Lügen.
Für einen über Hundertjährigen gibt es nicht mehr viele Pflichttermine. Der 11. April hingegen ist für Marko Feingold ist er ein Muss, denn an diesem Tag wurde das Konzentrationslager Buchenwald befreit. Zum 70. Jahrestag, da war Feingold 102 Jahre alt, fuhr er wieder nach Weimar, von dort aus auf den Ettersberg. Neben dem Glockenturm von Buchenwald hielt er seine Rede. Frei, ohne Blatt, ohne Stock. Sichtbar aufgewühlt. Denn er war sich bewusst, dass das, was er sagte, nicht viele hören wollten: Dass das KZ Buchenwald von der US-Armee befreit wurde. Dass die Häftlinge sich nicht selbst befreit haben:
"70 Jahre habe ich gelitten unter der Lüge, die Häftlinge von Buchenwald hätten sich selbst befreit. Nur wer wie ich in Buchenwald war, der wird von dieser Selbstbefreiung nichts wissen. Ihr könnt beruhigt sein, ich gehe auf keine Politik ein. Das einzige, was ich sagen muss und gestehen muss: Als Nicht-Kommunist war mir das Leben in Buchenwald nicht sehr angenehm gestaltet, hatte ich immer Nachteile, auch nach dem Krieg. Aber es spielt keine Rolle, es muss die Wahrheit gesagt werden. Es ist kein Schuss geschehen. Das wäre ja auch nicht möglich. Auf wen hätten wir schießen sollen? Ab vormittags um halb elf gab es ja gar keine SS mehr hier. Weder auf den Türmen, noch im Lager."
Der über hundertjährige Jude aus Wien kämpft für die Wahrheit. Bis heute. Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs war das nicht ungefährlich:
"Da hätte mir passieren können, dass ich erschlagen werde. Erschlagen? Ja! Die waren so wild auf das. Die waren so versessen. Mit wem sie gesprochen haben und jeder war davon überzeugt. Wo ich noch gefragt habe: Wie kannst du sowas sagen?"
Der 102-jährige Max Feingold vor der Synagoge Salzburg.
Der 102-jährige Max Feingold vor der Synagoge Salzburg.© Deutschlandradio / Sabine Adler
Im Mai wird Feingold 103. Wer ihn nicht kennt, schätzt ihn auf höchstens 80. Zügig kommt er zum Eingangstor der Salzburger Synagoge. Von Salzburg aus hat der gebürtige Wiener nach dem Krieg Juden bei der Ausreise nach Palästina geholfen. Er entschloss sich danach, in der Mozartstadt zu bleiben, gründete ein Geschäft für Herrenmode. Man sieht, dass er gute Kleidung bis heute schätzt, eine Leidenschaft. Im schicken Dreiteiler mit Krawatte, polierten Schuhen und gepflegtem Schnauzbart geht er voran durch den Garten Richtung Synagoge:
"Die ist jetzt 150 Jahre alt, wurde erheblich zerstört während des Krieges und ist seit 1968 wieder aufgebaut worden."
Als er die "Wiener Moden", eine Herren-Boutique, aufgab und in Rente ging – das war vor über 35 Jahren – wurde Marko Max Feingold Präsident der Israelitischen Gemeinde Salzburg und ist es bis heute. Bis 1938 war ihm sein Judentum wenig bewusst. Seit der Verhaftung in Wien, der Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz, nach Dachau, Neuengamme und schließlich Buchenwald war er nur noch Jude, Häftling, eine Nummer. Noch wichtiger aber wurde, was er nicht war: Kommunist. Die fehlende Gesinnung erwies sich als lebensbedrohlich:
"In der größten Not haben sie ja nicht gewusst, wer ist Kommunist und wer ist nicht Kommunist. Nur, wenn einer die Macht hatte, spielten die Kommunisten sie aus. Wurden die Kommunisten vorgezogen. Und kein Feingold. Feingold war überhaupt ein Dorn im Auge. Auch auf dem Block. Man hat mich dargestellt, als ob ich vorher ein Großunternehmer, ein Industrieller gewesen wäre. Und jetzt unter den kleinen Leuten, was tut der eigentlich da? So ungefähr. Wer einmal ein Krösus war, ist jetzt ein Niemand."
Arbeitslos und Anfang 20 hatte er seine Heimatstadt Wien verlassen und sich als Vertreter in Italien durchgeschlagen. Anfangs mühsam. Später lief das Geschäft wie geschmiert, als er in Hotels und an Hausfrauen Bohnerwachs verkaufte. Ein Glücksgriff:
"Natürlich muss ich sagen: Das war Bohnerwachs. Mit einer Spritze aufgetragen: ein wundervoller Glanz. Mit dem sind wir reich geworden. Es ist mir so gut gegangen. Wenn wir manches Mal von einer Stadt in eine andere gefahren sind und sind am Bahnhof angekommen, dann mussten wir zwei Taxis nehmen, denn in eines sind die Koffer nicht hereingegangen. Aber was tut man als 22-Jähriger oder als 25-Jähriger? Die Kleider haben gepasst, die Figur war dementsprechend. Und die Italiener haben eine wunderbare Konfektion gehabt. Man kauft und kauft und es wurde immer mehr."
Den fetten acht Jahren folgten sieben entsetzliche, die meisten verbrachte er in Buchenwald. Dort traf er den Schriftsteller Bruno Apitz. Was der später in seinem Buch schrieb, "Nackt unter Wölfen", hat Marko Feingold so nicht erlebt. Auch Apitz verbreitete die Lüge von der Selbstbefreiung und ihr folgten weitere. Der Antifaschismus in der DDR zum Beispiel, den fand er unglaubwürdig, überhaupt nicht haltbar:
"Nicht haltbar. Wir haben gewusst, das kann sich nicht lang halten. Man wusste ja außerhalb der DDR, dass das eine faule Angelegenheit ist."
Eine faule Angelegenheit, fand Feingold. Staatsräson, sagte die DDR-Führung und setzte sie mit aller Härte durch. Galt doch der Antifaschismus als Daseinsberechtigung für den zweiten deutschen Staat.
Der Gründungsmythos kannte nur Schwarz und Weiß
Etwas anderes hatte der nicht zu bieten, meint der Historiker Rüdiger Bergien vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung:
"Dieser Mythos Antifaschismus war natürlich der Legitimationskern der DDR. Das war letztlich ja auch das einzige Identifikationsangebot, das die SED-Führung der Bevölkerung machen konnte. Der Marxismus-Leninismus hatte nie eine breite Basis, aber der Antifaschismus schon."
"Wichtig ist, dass der DDR-Antifaschismus als Gründungsmythos von Beginn an schwarz-weiß war. Es war klar, wer sind die Guten, wer sind die Bösen. Während der bundesdeutsche Weg verschlungen, wechselhaft, aber eben auch offen war für all die Nuancierungen, für die unterschiedlichen Verstrickungen. Dieses Bewusstsein ist in der DDR sicherlich nicht entwickelt worden."
So Rüdiger Bergien. Die Logik war schlicht, die Rhetorik scharf, vom Kalten Krieg geprägt: Die DDR ein Hort des Antifaschismus, die Bundesrepublik Deutschland eine noch immer gefährliche Brutstätte für Kriegstreiber.
Karl Schirdewan, Mitglied des Politbüros der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, sprach auf einer Kundgebung für die Opfer des Faschismus und bediente sich der seinerzeit üblichen Formeln:
"Heute verkörpert die Deutsche Demokratische Republik die Ideen des antifaschistischen Widerstandskampfes. Daher ist sie die lebendige Fortsetzerin und Walterin des Vermächtnisses aller unserer Toten. ...
Zwei verschiedene Wege ist man in Deutschland gegangen. Wer geglaubt hat, dass die alten Kräfte des Militarismus und der Reaktion mit Worten allein bekämpft werden können, der sieht an der Entwicklung Westdeutschlands, dass das eine gefährliche Illusion ist. ...
Die Monopole und Junker bestimmen mit den ihnen verbundenen reaktionären Kräften über das werktätige Volk. Die Reaktion feiert ihre faschistischen Führer. Die SS-Mörder sind treue Gefolgsleute Adenauers und der CDU-Kriegspartei. Frech erheben sie ihr Haupt und tragen die Kainsmale des Verbrechens, die faschistischen Orden und Abzeichen provokatorisch zur Schau."
Karl Schirdewan 1957 auf dem Ostberliner August-Bebel-Platz. Auf dem Gelände des Konzentrationslagers Buchenwald wird ein Jahr später die Nationale Mahn- und Gedenkstätte eröffnet. In diesem Umfeld erscheint der Roman von Bruno Apitz "Nackt unter Wölfen". 13 Jahre nach Kriegsende. Eine Zeit, in der die SED Schriftsteller längst an die Kandare genommen hat.
Den zensierten, unterdrückten, bevormundeten Literaten ist das aktuell erschienene Buch "Gesperrte Ablage" von Ines Geipel und Joachim Walter gewidmet.
Bruno Apitz
Bruno Apitz (1900−1979)© dpa / picture alliance / ADN
Ines Geipel beginnt mit einem Porträt von Bruno Apitz, denn er war der einzige Bestseller-Autor der DDR und in den Anfängen des jungen Staates der allerwichtigste:
"Er ist Buchenwald-Häftling, mehrjähriger. Stand auf der Todesliste. Am Ende, kurz bevor das Lager von den Amerikanern befreit wurde. Und merkt über die Jahre hinweg die Diskreditierung der Buchenwald-Häftlinge. Es ist ja ein heißer Streit über die Geschichte der Verstrickungen. Und das ist das innere Motiv. Er will seine Kommunisten rehabilitieren. Man weiß, dass er sehr lange an diesem Buch gearbeitet hat, dass der Stoff nicht gewollt war und in dem Moment öffentlich wurde , als die große Weihe ´Buchenwald` geschehen sollte."
Bruno Apitz erzählt die Geschichte des jüdischen polnischen Jungen Stefan Jerzy Zweig, der durch die Kommunisten im Lager "Buchenwald" gerettet wird. Eine Heldengeschichte, die als authentisch verkauft wird, an der jedoch fast nichts stimmt. Und das hat nichts mit künstlerischer Freiheit zu tun.
Ines Geipel: "Klar ist, dass der Text, der erscheint, ein absolut frisierter Text ist. Kommunisten, die die Überwindung, das Ende des Nationalsozialismus möglich gemacht haben. Das Kampfkollektiv in Buchenwald. Das ist aber nicht der Urtext. Der Urtext ist sehr viel ambivalenter und verdeckt gleichzeitig das große Problem, dass die Häftlinge alle in einer absoluten Zwangsgemeinschaft sind – Konzentrationslager – und gleichzeitig gibt es eben die Verstrickung des kommunistischen Widerstands im Lager mit der SS. Wenn man sich die Originale anschaut, und dann das, was als Buch 1958 erschienen ist, sieht man schon mehrere Zensurschlaufen. Und da gibt es ja mehrere Beteiligte. Er selbst nennt Walter Ulbricht seinen schärfsten Zensor in einem Interview."
Kaum etwas in dem gefeierten Heldenepos entspricht der Wahrheit. Der Stoff wird trotzdem gleich dreimal verfilmt, 1960, 1963 und 2014, immer nach Bruno Apitz' Vorlage. Zuletzt zwar nach einem der unveröffentlichten Manuskripte, von denen es mehrere gab, doch immer noch ist manches historisch falsch. Trotzdem gewann die jüngste Fassung den Deutschen Fernsehpreis 2016.
Ines Geipel: "Die Forschung ist ja sehr viel weiter in den letzten 25 Jahren, also nachdem im Grunde überhaupt erst Forschung möglich wurde. Das Problem fängt ja da an, wenn die historische Wahrheit in der Weise verdreht wird. Ich glaube, dass eine politische Gruppierung versucht zu überleben, ist legitimiert aus dieser Notsituation, aber dass man danach so eine Mega-Erzählung baut, die auf der Lüge basiert – das ist, glaube ich, das große Problem."
Es gab keine Solidarität mit den Juden
Apitz gibt mit dem geretteten jüdischen Lagerkind Stefan Jerzy Zweig dem DDR-Antifaschismus ein Gesicht. Das Buch "Nackt unter Wölfen" dient dem neuen Staat als emotionale Grundlage. Doch dass der Vierjährige sein Überleben eher den Kommunisten im Lager als seinem jüdischen Vater verdankt, ist falsch. Ebenso wie die Solidarität von jüdischen und kommunistischen Häftlingen. Im Kampf ums Überleben erwiesen sich die Kommunisten als deutlich stärker, mitunter auf Kosten der Juden.
Ines Geipel: "Insofern wäre das ein sehr lohnenswertes Projekt, diese vielen Geschichtsfäden, Verdrehungen bis hin zum Kern aufzudröseln. In jedem Fall fände ich das absolut wichtig. Das ist ein großer Stoff. Und eben weil er so in den Köpfen ist, weil er das emotionale Fundament der DDR gewesen ist. In all den Auseinandersetzungen, in denen wir jetzt stecken, wäre es wirklich eine Schlüsselerzählung und umso wichtiger, den Code zu knacken."
Dabei hatte der Ex-Buchenwald-Häftling Bruno Apitz in seinem Roman den grausamen Lageralltag ursprünglich durchaus differenziert erzählen wollen. Und seine kommunistischen Genossen rehabilitieren, denn er hatte die unguten Diskussionen über sie mitbekommen, die hinter vorgehaltener Hand innerhalb der Partei geführt wurden. Darüber, dass sich kommunistische Häftlinge mitschuldig gemacht haben. Doch dieser Erzählstrang fehlt komplett. Wichtige, unangenehme Wahrheiten lässt Apitz aus.
Ines Geipel: "Verschwiegen wird das systematische Töten durch Phenolspritzen oder durch Luftspritzen oder Spritzen mit Erreger-Bakterien. Und das eben massenhaft. Und da gibt es eben verschiedene Zeugen, die darüber berichtet haben. Und verschwiegen wird auch die Systematik, das Unentrinnbare in dem Ganzen. Also wer wurde von Seiten der kommunistischen Lagerpolitik auserkoren, sozusagen vom Spritzer-Kommando heimgesucht zu werden und warum? Und man spricht vom massenhaften Töten im Lager selber unter der Obhut des kommunistischen Lagerkomitees und das ist natürlich ein schwerer Vorwurf."
KZ-Häftlinge, die von ihren kommunistischen Mitgefangenen zu Tode gespritzt worden sind. Freilich in der Zwangsgemeinschaft des Konzentrationslagers. Auch der Wiener Jude Marko Feingold ist diesem sogenannte Abspritzen begegnet:
"Ich erinnere mich an drei Häftlinge, drei Juden, die Maurer geworden sind und irgendwann vorzeitig Schluss gemacht haben. Und ein SS-Mann kommt herein in die Halle und sieht da, wie sie vorzeitig Schluss machen und schreibt alle drei auf. Der Scharführer Spät war das. Der besteht darauf, dass man die drei abspritzt. Und am Abend auf dem Block bekommen sie einen Zettel und da steht, sie müssen am Morgen ins Revier gehen zum Abspritzen."
Bruno Apitz schrieb drei Jahre an dem Buchenwald-Roman. Er wusste um das Töten mit Spritzen. In der ersten Fassung des mehrfach überarbeiteten Manuskripts schafft er die Figur des Papa Berthold, der auf diese Art mehrfach Häftlinge ermordet. Die Figur taucht in allen späteren Fassungen nicht mehr auf.
Befreite Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald 
Befreite Häftlinge des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar (Thüringen), aufgenommen am 16.04.1945 in der Baracke 56 des kleinen Lagers.© picture alliance / dpa / DB NARA / Harry Miller
Als Buchenwald im April 1945 befreit wird, wundern sich die amerikanischen Soldaten über den auffallend guten körperlichen Zustand einiger Gefangener. Es handelt sich um kommunistische Vorzugshäftlinge. Wie in Auschwitz wird auch in Buchenwald eine gründliche Bestandsaufnahme vorgenommen, gilt es doch, Kriegsverbrechen zu dokumentieren, sagt Ines Geipel:
"In dem Moment, als die Alliierten im Lager sind, kommt es vor allem von Seiten der Franzosen und von Seiten der Polen zu schweren Anwürfen gegenüber dem kommunistischen deutschen Widerstand. Das wird alles aufgenommen, da gibt es Dossiers. Und das erste Dossier im April 1945 sagt aus, dass es unterhalb des SS-Terrors einen deutschen kommunistischen Terror gab, der das Lager hat disziplinieren können."
Die kommunistischen Gefangenen bekommen von den SS-Mannschaften die Vollmacht, für die Lagerdisziplin zu sorgen. Kommunisten werden somit weisungsberechtigt. Die Nazis hatten die Häftlinge bereits in Kategorien sortiert, diese Einteilung wird nun ergänzt. Für die Kommunisten gibt es wertvolle Häftlinge und weniger schützenswerte. Das hatte Einfluss auf die Zusammenstellung von Transportlisten, beispielsweise nach Auschwitz oder für die Todesmärsche.
Auch der polnische Junge, die Hauptfigur bei Bruno Apitz, ist in Buchenwald vor einer Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz bewahrt worden, im Austausch für den Sinto-Jungen Willy Blum.
In dem Werk, das alle DDR-Schüler seit 1960 lesen müssen, findet sich von diesem Opfertausch kein Wort. Doch er ist belegt. Ebenso wie der noch schwerere Vorwurf, dass Kommunisten selbst Häftlinge mit Spritzen getötet haben.
Einer dieser Täter hieß Helmut Thiemann. Thiemann nannte sich Rolf Markert. Möglicherweise auch, weil US-Behörden nach ihm wegen seiner Rolle im KZ fahndeten. Als kommunistischer Häftling in Buchenwald mordete er aus politischen Gründen.
Ines Geipel: "Er spricht von einer Ambivalenz und dass es eine Kategorie von Häftlingen gab. Und dass der kommunistische deutsche Häftling der wertvollste Häftling war. Und dass sich aus dieser Hierarchie im Lager eine bestimmte Politik ergeben hat."
In einem internen Bericht für die Partei schrieb Helmut Thiemann nach Kriegsende:
"Im Lager hatten wir eine Zeit lang circa tausend freiwillige Wlassow-Leute. Die russischen Genossen verlangten von uns die Beseitigung derselben. Wir konnten ungefähr 176 Mann vernichten."
Helmut Thiemann hat gestanden, dass von ihm und seinen Genossen 176 Menschen durch das sogenannte Abspritzen getötet wurden. Die Dunkelziffer in Buchenwald und anderen Lagern dürfte weit höher sein. Unter den Kommunisten in Buchenwald befanden sich demnach Mörder.
"Die Kommunisten waren unwahrscheinlich effektiv"
Ines Geipel: "Ich meine, worüber sprechen wir? Wir sprechen über ein Konzentrationslager. Und das ist klar, dass wenn es die Möglichkeit gegeben hat zu überleben, dann wird man das natürlich versucht haben. Und insofern war die Lager-Organisation der Kommunisten unwahrscheinlich effektiv. Wenn man weiß, es gibt 56.000 Tote in Buchenwald und 72 davon waren Kommunisten. Dann ist das eine Aussage für sich und stellt ganz massiv die Frage: Wie ist das möglich gewesen?"
Die Erkenntnisse über die Mittäterschaft sind keineswegs neu. Das Gegenteil ist der Fall. Ines Geipel verweist auf das Datum, an dem die Zeugnisse abgelegt wurden: kurz nach Kriegsende.
Ines Geipel: "Alle die Personen, die dazu befragt wurden, zum Beispiel eben Helmut Tiemann, alias Rolf Markert, der dann unter Decknamen in der DDR gelebt hat, sagt über diese Politik im Lager eigentlich sehr klar aus. Nur sind eben diese Dokumente in der DDR auf keinen Fall öffentlich geworden."
Diese Geständnisse wurden in der DDR unter Verschluss gehalten, weil es Verbrechen von Nazis, an denen Kommunisten mitgewirkt haben, nicht geben durfte. Hätte doch diese Wahrheit den Mythos vom Antifaschismus in seinen Grundfesten erschüttert.
Ines Geipel: "Das obliegt natürlich dieser strengen Tabuisierung, diesem Schweigekollektiv der Kommunisten unmittelbar nach dem Ende des Krieges."
Marko Feingold als ehemaliger Buchenwald-Häftling machte mit einigen Kommunisten in unterschiedlichen Vernichtungs- bzw. Konzentrationslagern eine Reihe schlimmer Erfahrungen. Er erlebte, dass sie ihre Gesinnungsgenossen schützten, andere Häftlinge opferten. So hatten Häftlinge in Buchenwald weitaus größere Chancen zu überleben, wenn sie in das sogenannte Maurerkommando aufgenommen wurden, das immer neue Gebäude auf dem KZ-Gelände errichtete.
Marko Feingold: "Ich durfte nicht Maurer werden und das war eine Lebensfrage. Wer hat das verhindert? Wer war das? Der Karlebach. Er hat mich nicht nennen wollen: Du bist kein anständiger Kommunist. Er war in Buchenwald der Blockälteste von Block 22. Ein ausgesprochener Judenblock. Auch nachher, als 450 Juden von Buchenwald nach Auschwitz transportiert worden sind, die keine Maurer waren, war er dafür zuständig. Er hat gesagt: Du nicht. Du bist kein anständiger Kommunist. Ich habe seine Worte noch im Ohr. Da konnte man nichts dagegen tun."
Die DDR – ein Land von Antifaschisten. Marko Feingold hat diese Stilisierung des zweiten deutschen Staates nach dem Krieg beobachtet. Er hat diese Propaganda nie geschluckt. Als Österreicher befand er sich in sicherer Distanz, in der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR war jeder, der zweifelte, gut beraten, dies nicht öffentlich zu tun.
Die Schriftstellerin Ines Geipel
Die Schriftstellerin Ines Geipel© Deutschlandradio / Bettina Straub
Ines Geipel: "Das ist ein neuer und ein junger Staat. Und ganz am Anfang werden natürlich Machtinteressen geklärt. Es gibt diese Gruppe der 218 Moskauer, die zurückkommen, unter Walter Ulbricht, und die die Macht an sich ziehen. Und es gibt die knapp 800 Buchenwald-Häftlinge, deutsche Kommunisten. Und diese Trauma-Gruppe wird dann maßgeblich die Truppe sein, die die politischen Strukturen im Osten aufbaut. Und sich diese Aufbau-Generation mit all diesen Bruchlinien anzuschauen, steht immer noch aus. Vor allem: Was bedeutet ein so massives Schweigekollektiv für eine Gesellschaft. Was heißt das für die Gedächtnispolitik der DDR. Das ist ja eine vielfache Verdrehung im Sinne der abgeforderten Loyalität. Jeder, der nur die leiseste Frage gestellt hat in der Anfangszeit, kam dran."
Offiziell wurde die DDR ausschließlich als antifaschistischer Staat dargestellt, in dem es keine Täter gab. In den Partei- und Regierungskreisen kannte man dagegen die wahre Vergangenheit der meisten Genossen. Dass sich ehemalige KZ-Häftlinge schuldig gemacht und kollaboriert hatten, war für Exil- Kommunisten wie Walter Ulbricht eine überaus wertvolle Information. Die sogenannten Moskauer hatten den Krieg in der Sowjetunion abgewartet und waren nicht gewillt, die Macht den angeblich moralisch überlegenen Widerständlern der Lager zu überlassen. Mit den Dossiers hatten sie ein wertvolles Druckmittel in der Hand, die ehemaligen KZ-Häftlinge gefügig zu halten.
Ines Geipel: "Pieck und Ulbricht haben auch in handschriftlichen Dossiers eben über diese Disziplinierungsmaßnahmen der deutschen Kommunisten in den Lagern erfahren, genau erfahren. Die wussten davon."
Doch nicht nur die belasteten Kommunisten waren erpressbar. Die Mitläufer und Täter, von denen es weitaus mehr gab, hatte die Parteiführung in der Hand. Wer sich loyal verhielt, am Aufbau des Sozialismus beteiligte, durfte in bestimmtem Umfang Karriere machen, trotz brauner Vergangenheit.
Starke Kontinuität mit Minderbelasteten
Bergien: "Es gibt nicht eine Elitenkontinuität, die sich auf die Leitungsebene erstreckt. Das MfS war schon ein Bereich, der Nazi-frei war. Aber auf der zweiten und dritten Ebene gibt es eine starke Kontinuität mit Minderbelasteten. Und es gibt, und das ist sicherlich ein Knacks im Bild des antifaschistischen Staates, es gibt Kontinuitäten in Mangelberufen. Insbesondere Mediziner. Mediziner waren ein großes Problem. Da war man ausgesprochen duldsam. Hermann Voss, der bekannte Anatomieprofessor der DDR, schrieb das zentrale Lehrbuch. Und der hatte eine Vorgeschichte vor 1945. Er hatte die medizinische Fakultät der Reichsuniversität Posen aufgebaut. Diese medizinische Fakultät war in die Vernichtungspolitik gegen Juden und Polen involviert."
Marko Feingold war nicht überrascht zu erfahren, dass die angeblich antifaschistische DDR nicht nur Mitläufer, sondern auch Täter duldete:
"Wir wussten, dass sie viele Nazis geschützt haben. Es hat einige Personen gegeben, die sich darum gekümmert haben und Namen, die ich aufzählen konnte, wer bei ihnen alles geschützt ist. Aber bei wem soll man sich beschweren?"
Ob Nazis oder Kommunisten, die in Buchenwald Schuld auf sich geladen hatten: Hohe Positionen waren für sie durchaus erreichbar, sofern sie sich in der DDR als bedingungslos loyal erwiesen.
Helmut Thiemann behielt seinen Decknamen Rolf Markert, wurde in den Dienst der Volkspolizei aufgenommen und ging als Generalmajor 1981 in den Ruhestand. Der SED-Bezirksleitung Dresden gehörte er bis 1989 an.
Walter Ulbricht beim 6. Parteitag der SED 1961
Walter Ulbricht, erster Sekretär des Zentralkomitees der SED, eröffnet am 15.1.1963 den 6. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands.© picture alliance / dpa-Zentralbild / ADN
Nazis stiegen selbst bis in den Verwaltungsapparat des Zentralkomitees der SED auf, wie der Historiker Rüdiger Bergien belegt:
"Ich habe mich beschäftigt mit dem Apparat des Zentralkomitees. Das Zentralkomitee ist die gewählte Versammlung, also das höchste Gremium der Partei. Wenn man es vergleichen will mit der Bundesrepublik, dann wäre das das Bundeskanzleramt. Ein sehr viel größeres und mächtigeres Bundeskanzleramt, das den Ministerien Anweisungen gegeben hat. Und das waren tausend Mitarbeiter. Und da war es tatsächlich so, dass es einen Anteil gab von 10 Prozent der Personen, die vor 1945 in der NSDAP waren. Das ist etwa der Bevölkerungsdurchschnitt. Interessant ist aber, wie geht die SED damit um. Und da ist die Tendenz doch ganz stark: am besten nicht darüber reden, Diskretion walten lassen, die Sachen unter den Teppich kehren. Ein Spruch der Zeitgenossen in den späten 40er Jahren war: Die SED ist der große Freund der kleinen Nazis. Die SED war die Partei mit dem größten Anteil an NSDAP-Mitgliedern unter allen Parteien in der DDR."
Ungeachtet dieser Praxis, Nazis wie auch mit ihr kollaborierende Kommunisten in ihre Dienste zu stellen, wurde die DDR-Führung nicht müde, den zweiten deutschen Staat als antifaschistischen Schutzwall zu preisen, die Bundesrepublik zu verteufeln. Karl Schirdewan vom SED-Politbüro legte sich besonders in Zeug:
"Der faschistische, nationalistische Kult um Adenauer steht in voller Blüte und erinnert an die Führerorgien des Faschismus vor und während seiner Macht. Die Fratze des Faschismus, der herannahenden brutalen militaristischen Diktatur, ist nicht mehr zu übersehen. Die Mörder unserer deutschen und ausländischen Kameraden, die Blutrichter von damals sind heute wieder in Amt und Würden."
Mehrere Amnestiewellen in den 50er-Jahren
Ende der 50er Jahre hatte die DDR ihre Entnazifizierung bereits lange hinter sich. Dank eines Schnelldurchlaufs. Allerdings mit zweifelhaftem Erfolg.
Rüdiger Bergien: "Wir haben eine Phase sehr scharfer Strafverfolgung, das waren die späten 40er-Jahre. Also noch unter der sowjetischen Besatzung, wo rigide verurteilt wurde. Wir haben mehrere Tausend Verurteilungen von NS-Tätern, wir haben viele Todesstrafen und wir haben die Waldheimer Prozesse. Aber Mitte der 50er Jahre haben wir mehrere Amnestiewellen. Und da ist es also wirklich frappierend. Mitte der 50er Jahren saß von den mehrere Tausend verurteilten NS-Tätern kaum noch jemand in Haft. Die waren alle wieder entlassen worden. Und das war im krassen Gegensatz, was in der Bevölkerung und auch unter den Opfern in der DDR geglaubt wurde. Also da war das Bild vorhanden, dass da hart durchgegriffen wurde, im Gegensatz zur Bundesrepublik. In den Gefängnissen sitzen sicherlich noch mehrere Tausend Täter, aber es waren tatsächlich nur noch wenige Dutzend Ende der 50er-Jahre. In einer Zeit, wo es in der Bundesrepublik mit der Aufarbeitung vor Gerichten gerade erst losging."
Allein in den Waldheimer Prozessen von April bis Juni 1950 wurden fast 3.500 Urteile gefällt. Wie wenig es um individuelle Schuld ging, zeigen die Eile wie die Schuldsprüche. 80 Prozent der NS-Täter wurden mit 10 bis 25 Jahren Freiheitsentzug bestraft. Standard-Maße der stalinistischen Justiz, sagt der Historiker Rüdiger Bergien:
"Das waren Schnellprozesse, wo im stalinistischen Stil, ohne weitergehende Zeugenvernehmungen, erpressten Geständnissen verurteilt wurde. Die NS-Täterschaft war ein Aspekt von mehreren. Gewichtiger war, ob Widerstand gegen die sowjetische Besatzung geleistet worden war oder ob man der neuen Ordnung gegenüber feindlich gesinnt war. Also man evaluierte nicht genau, inwiefern war die Person Mitglied eines Erschießungskommandos oder hat verbrecherische Befehle gegeben. Das war ein radikaler Schnitt, bei dem beließ man es dann auch und propagierte anschließend: Wir haben unsere historische Arbeit geleistet. Alles was dann an Tätern noch hoch kam, war für die DDR ein massives legitimatorisches Problem, weil man so stark argumentierte: Wir haben das schon erledigt, im Gegensatz zum Westen."
Eine wirkliche Aufarbeitung von individueller Schuld im Nationalsozialismus hat die DDR nicht geleistet und war wohl auch von der SED nicht gewollt. Das schematische Verständnis, wer Faschist und wer Antifaschist ist, hat bis heute überlebt. Wenn die ukrainische Bürgerbewegung auf dem Maidan von Russlands Führung als Faschisten verunglimpft wird, regt das in Osteuropa kaum jemanden auf, denn dort wird der Begriff Faschist vor allem als Schimpfwort verstanden. Jeder Gegner, der für nationale Interessen eintritt, war schon zu Sowjetzeiten ein Faschist. Russische Propagandaprofis haben gelernt, dass man im Westen empfindlich auf den Begriff Faschist reagiert, dass in Westeuropa ein politischer Akteur kaum effektiver diskreditiert werden kann. In Deutschland machten sich vor allem jene diese Lesart zu eigen, die von der demokratischen Gesellschaft als Ganzes wenig halten, immer noch auf starke Führer setzen. Ines Geipel verweist auf Plakate bei Pegida-Demonstrationen, auf denen steht "Putin hilf" - ein Indiz für die Nähe von Rechtspopulisten zur Moskauer Führung.
Ines Geipel: "Man sieht daran heute, wie die AfD heute diese Putin-Lüge benutzt. Wir wissen, wie der Osten dahingehend tickt. Wir wissen, was in Dresden auf den Pegida-Demonstrationen in Sachen Putin gesagt wird. Deswegen ist es so wichtig, wie wenig Aufarbeitung da geschafft ist."
Der von der Obrigkeit diktierte Antifaschismus der DDR hat die Illusion erzeugt, in einem Land frei von Tätern zu leben. Und wo es keine Täter mehr gibt, muss sich niemand verantworten. Der Preis: Loyalität dem Regime gegenüber.
Ines Geipel: "Diktaturen sind immer Verantwortungsentlastungen, große Verantwortungsentlastungen. Davon hat sich der Osten nicht emanzipiert. Das ist ja das Interessante am Osten, dass du dort eine Überlagerung von zwei Diktaturen hast. Und wenn die erste wie ein Siegel im Grunde verschlossen wird – das ist alles ein Nachhall oder wie ein langes Ausatmen nach der Diktatur, was wir jetzt erleben."
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