Buch zum Marathon

Die Freude bei Kilometer 36

Marathon in Stralsund
"Gäbe es nur Läufer auf der Welt, es gäbe nirgendwo mehr Krieg..." © picture alliance / dpa / Foto: Stefan Sauer
Von Katrin Weber-Klüver  · 12.04.2015
Marathon ist ein Massensport geworden. Berlin, New York, Sydney – auf der ganzen Welt wird gelaufen. Aber warum nur? Der Autor Matthias Politycki hat sich in "42,195 – Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken“ so seine Gedanken darüber gemacht.
300 Seiten dick ist das Buch des laufenden Literaten. Eine konditionell anspruchsvolle Leselangstrecke es allerdings nicht. Trotz dieses Umfangs. 47 Kapitel, eins für jeden der Marathon-Kilometer plus ein paar Extras, das macht im Schnitt sechseinhalb Seiten, also eher Sprinteinheiten.Transzendiert vom Schreibtisch auf die Laufstrecke kommt man auf einen ordentlichen Kilometerschnitt von sechseinhalb Minuten. Politycki läuft schneller. Spielt das eine Rolle? Und wie. Denn seine PB ist dem echten Marathoni heilig.
PB? Marathoni? Begriffsstutzigen und Nichtsportlern erklärt Politycki sein umfangreiches Insiderwissen in umfangreichen Fußnoten. PB ist...
"Läuferdeutsch für persönliche Bestzeit."
Und...
"Marathoni darf sich nennen, wer seinen dritten Marathon gerannt ist."
Über Mitteilungen dieser Art kann man in PB in schwere Lesemelancholie geraten. Wie schade. Ein passioniert laufender und professionell schreibender Mensch leuchtet das wundersam wuchernde Massenphänomen Marathon aus – das klingt verlockend kompetent. Doch dann fängt es schon an mit der dröhnenden Überschrift:
"Dem Tod davonrennen"
Bahnbrechende Erkenntnis des mittelalten Mannes
Womit es um die nicht eben bahnbrechende Erkenntnis des mittelalten Mannes geht, dass sein Dasein endlich ist, dass auch er verfallen und sterben wird. Wenn man sich in der Gesellschaft umsieht, scheint es für diesen Typus Mann genau zwei Möglichkeiten zu geben, der markerschütternden Selbsterkenntnis ein Schnippchen zu schlagen: Entweder er setzt erstmals oder mal wieder Kinder in die Welt. Oder aber er läuft der Gewissheit davon. Matthias Politycki, Jahrgang 1955, hat sich entschieden für die...
"Weltgemeinschaft der Läufer"
...und knapp vor seinem 60. Geburtstag und dem Beginn seines siebten Lebensjahrzehnts dieses Buch über und wohl auch für seine Gemeinschaft geschrieben. Die hat, man kann es nicht anders sagen, ein tolles Leben. Bei Kilometer sieben trifft Politycki...
"Schöne Frauen im Rennen"
Die sind aber im Wettkampf einfach Mitläufer, nur bedingt Sexualobjekte. Groß daher die Freude bei Kilometer 36:
"Blondinen jubelten uns zu."
Diese weibliche Bewunderung haben sich Politycki und Kumpel bei Kilometer 34 gerade erst verdient:
"Schmerz geht, Stolz bleibt."
Das Buch endet, kein Scherz, mit dem Kapitel:
"Friede auf Erden".
Darin diese Weisheit:
"Gäbe es nur Läufer auf der Welt, es gäbe nirgendwo mehr Krieg – jedenfalls solange man die Läufer am Laufen hält."
Der pazifistische Gemeinschaftsgedanke
Das ließe sich auch von Köchen oder Klempnern sagen, aber gut. Der pazifistische Gemeinschaftsgedanke ist einfach zu schön. Und erst der männliche Gemeinschaftsgedanke. Männer, die zusammen trainieren, Wettkämpfe laufen, das Bier danach kippen, in stinkender Funktionskleidung. Wir Kerle, Kerle wie wir. Vieles, was er zu dieser Welt-Männergemeinschaft samt des weiblichen Beiwerks mitteilt, meint Politycki vermutlich und hoffentlich wimpernklimpernd ironisch. Nur: Wozu?
Dies ist der Moment den schmalen Band "Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ zu empfehlen. Der japanische Beststeller-Autor Haruki Murakami war auch schon Ende 50, als er seinen Essay 2007 veröffentlichte. Doch Marathon gelaufen ist Murakami schon mit Anfang 30, nicht erst in einem Alter, als er dem Tod davonrennen musste. Und er läuft, in Training wie Wettkampf, meist: allein. Kein Kumpelkram. Das hat es Murakami womöglich leichter gemacht, bei aller martialischen Selbstdisziplinierung nicht testosterongetränkt übers Laufen zu schreiben.
Seine 160 Seiten sind kontemplativ, klug, kunstvoller Einfachheit. Laufen und Schreiben, könnte man nun sagen, sei ja sowieso einfach. Das eine wie das andere kann schließlich praktisch jeder. Nur bedeutet, dass einer etwas kann, noch nicht, dass er ein Könner ist.

Matthias Politycki: "42,195 – Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken"
Hoffmann und Campe, 2015
320 Seiten, 20 Euro
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