Buch mit Sprengkraft

Stephan Meyer im Gespräch mit Ulrike Timm · 27.07.2010
Die Richterin Kirsten Heisig beschreibt das Behördenversagen im Kampf gegen die Kriminalität unter jungen Migranten. Der Programmleiter ihres Verlags, Stephan Meyer, glaubt, dass sich durch Heisigs Buch "Das Ende der Geduld" viele Menschen provoziert fühlen.
Ulrike Timm: Mit ihrem Buch "Das Ende der Geduld" wollte die Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig eine Debatte über den richtigen Umgang mit kriminellen Kindern und Jugendlichen entzünden. Und diese Diskussion, die diese Streitschrift mit Sicherheit hervorrufen wird, die wird ohne die Autorin stattfinden. Kirsten Heisig hat sich vor wenigen Wochen das Leben genommen. Insofern ist das Ende der Geduld auch ein Vermächtnis. Kaum jemand kennt dieses Buch so gut wie ihr Lektor, der die Entstehung begleitete: Stephan Meyer, Verlagsleiter im Herder-Verlag, ich grüße Sie!

Stephan Meyer: Ich grüße Sie auch, guten Tag!

Timm: Herr Meyer, Kirsten Heisig hat zwei wichtige Forderungen immer wieder formuliert. Erstens: Kriminelle Jugendliche müssen innerhalb von Wochen nach einem Raub oder einer Körperverletzung bestraft werden, nicht erst nach Monaten oder Jahre später. Und zweitens: Die Gesetze, die man hat, die muss man auch anwenden. Warum war dieses Neuköllner Modell, so hat man es genannt, warum war das für viele so provozierend?

Meyer: Ich denke, das hat zwei Gründe. Wenn ich Ihre Aufzählung vielleicht um einen Punkt ergänzen darf: "Das Ende der Geduld" bezieht sich sicherlich nicht nur auf das Ende der Geduld mit den Kriminellen, sondern es bezieht sich auch auf eine Unzufriedenheit mit den eigenen Einrichtungen. Denn Kirsten Heisig war beunruhigt und frustriert über die Ineffizienz der öffentlichen Einrichtungen, die sich mit jugendlichen Kriminellen und Gewalttätern beschäftigen.

Sie hat immer wieder betont, dass im Grunde jeder Jugendliche, der bei ihr vor Gericht erscheint, eigentlich schon ein Fehler ist, denn die gesellschaftlichen Einrichtungen müssten deutlich vorher eigentlich schon eingreifen und dafür gibt es auch Möglichkeiten. Auf Ihre Anfangsfrage zurückzukommen: Provozierend ist das Neuköllner Modell natürlich deswegen, denke ich, weil es die Schwachstellen des bisherigen Vorgehens offenlegt. Und ich weiß, dass vor gar nicht so langer Zeit dieses Neuköllner Modell zumindest auf ganz Berlin jetzt übertragen worden ist, weil es eben deutlich effizienter ist, wirksamer ist als die Verfahren, die man zuvor gewählt hatte, sodass natürlich auch diejenigen, die bislang in anderer Form agierten – egal, ob sie jetzt in der Jugendhilfe, Lehrer, Anwälte, Richter oder was auch immer waren oder Polizisten –, Kritik vermuten an ihrem bisherigen Tun.

Und ich denke, ich tue meiner Autorin nichts Unrechtes, wenn ich behaupte, dass sie das auch genau so verstanden haben wissen wollte: als eine wohlmeinende, aber doch grundsätzliche Kritik an den bisherigen Prozeduren der Strafverfolgung und vor allem auch der vorbeugenden Kriminalitätsvermeidung.

Timm: Sie betont ja auch immer wieder, dass sie und ihre Richterkollegen am Ende von Fehlentwicklungen stehen – sie musste den 15-jährigen Dealer dann verknacken, aber andere hätten ihn erziehen müssen –, und dass man ihre Vorstellung oft diskutiert, aber nur schleppend umgesetzt hätte. Ist das in dieser Härte heute noch aktuell? Denn man hat das Neuköllner Modell ja ausgeweitet, der ganze Ruhrpott interessiert sich dafür. – Kann man das so hart sagen, wie sie es gesehen hat?

Meyer: Ich kann nur aus den Reaktionen im Vorfeld des Bucherscheinens bemerken oder urteilen, dass allein schon die Ankündigung, dass Kirsten Heisig ein Buch schreibt, in dem auch selbstkritisch über die eigenen Versäumnisse oder Fehler berichtet wird und kritisiert werden: Dass das so viel Neugier und teilweise auch Nachfragen hervorgerufen hat, dass es offenbar so ist, dass sich immer noch viele durch ihre Überlegungen, Thesen und Analysen so provoziert fühlen, dass dieses Buch einiges an Sprengkraft enthält – mehr, als ich selber anfangs vermutete.

Timm: Sie wollte ja zum Beispiel keine Herabsetzung der Strafmündigkeit. Meinte nämlich, dann hätten wir eben in Berlin zehnjährige Drogendealer, weil die von ihren Familienclans zu Kriminellen abgerichtet würden. Kirsten Heisig wollte im Umfeld ansetzen. Welche konkreten Vorstellungen hatte sie denn dafür?

Meyer: Sie hat vor allem geworben für eine viel engere Verzahnung der Einrichtungen, die sich mit Jugendlichen beschäftigen: Schule, Jugendhilfe, Staatsanwaltschaft, Polizei und ähnliche Einrichtungen, die oftmals gar nicht voneinander wissen, was – so scheint es mir jedenfalls nach den Beschreibungen in dem Buch und aus ihren Erzählungen zu sein –, was sich im Einzelnen abspielt. Auch dieses unsägliche Verweisen von Schülern von einer Schule auf die nächste, ohne dass sich substanziell was verändert, war ihr schon immer ein Stein des Anstoßes bis hin zu dem Faktum, dass es eben auch Bereiche gibt – sicherlich nicht nur in Berlin –, in denen unsere Rechtsprechung, unsere Werteordnung, unsere Rechtsordnung vor allem von den Familien gar nicht akzeptiert werden.

Das heißt, unsere Rechtsordnung erreicht diese Leute gar nicht, so würde wahrscheinlich Kirsten Heisig argumentieren. Und das heißt, man muss dann nach anderen Methoden und Formen suchen, überhaupt sozusagen in diese Familien, zu diesen Jugendlichen hinzukommen, damit man überhaupt etwas bewirken kann.

Timm: Ich mach es mal konkret: Sie hat zum Beispiel gesagt, es gibt arabische Großfamilien, die sich nicht integrieren wollen, die ihre Kinder in die Kriminalität schicken, weil sie wissen, dass die Kinder nicht bestraft werden können. Hat sie damit ausgesprochen, was, in Anführungsstrichen, "alle dachten"?

Meyer: "Alle denken" ist mir ein bisschen zu stark.

Timm: Ja.

Meyer: Aber ich weiß, dass sie mit dieser Sichtweise auf sehr viel Widerstand gestoßen ist, gleichwohl ich von interessierten Lesern jetzt schon weiß – also Leuten, die in der Jugendhilfe arbeiten, auch Lehrern –, dass genau das das Problem ist, dass sie die Familien nicht erreichen.

Timm: Ein Vorwurf an Kirsten Heisig war, sie würde schlimme Einzelfälle skandalisieren. Statistisch gesehen nämlich nähme die Jugendkriminalität ab. Wie setzte sie sich denn mit dieser Kritik auseinander?

Meyer: Also, ich habe wenige Autorinnen oder Autoren, die sich so skrupulös mit ihren Thesen auseinandersetzen wie sie. Es gibt in dem Buch einen ziemlich ausführlichen Teil, in dem sie sich kritisch mit Statistiken auseinandersetzt, und sie hat, soweit ich das beurteilen kann, nicht die Tatsache bestritten, dass die Jugendkriminalität insgesamt zurückgeht, sondern die daraus oft gemachte in ihren Augen wohl falsche Schlussfolgerung, dass damit auch der Anteil der Gewaltkriminalität und der Schwellenkriminalität zurückgehe. Dem, soweit ich das verstanden habe, würde sie nicht zustimmen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit Stephan Meyer, dem Lektor von Kirsten Heisigs Buch "Das Ende der Geduld". Sie nennt Namen, sie nennt Details. – Rechnen Sie als Verlag eigentlich noch mit rechtlichem Ärger?

Meyer: Also, es hat verschiedene Manuskriptversionen gegeben. Die Manuskriptversion, die jetzt in dem Buch nachzulesen ist, ist eine, die juristisch geklärte, persönlichkeitsrechtlich untersuchte Variante; in der ursprünglichen Version, die sehr viel umfangreicher also an Seitenzahlen als auch konkreter in den Zusammenhängen und Namen war, da hätten wir sicherlich Vorgänge, wie Sie gerade beschrieben haben, befürchten müssen. Ich glaube schon, dass etwas kommen kann, das kann man sowieso nicht immer ausschließen. Aber dafür sind auch hier die Fälle, gibt es Möglichkeiten, wenn man das unbedingt will, auf juristischen Wegen gegen das Buch vorzugehen. Aber ich glaube, es wird jetzt sehr viel schwieriger, weil wir versucht haben, da zu wappnen.

Timm: hat man als Verlag oder hatte auch Kirsten Heisig Angst vor Rache aus dem Milieu?

Meyer: Also, als Verlagsmensch kann ich Ihnen sagen, dass ich keine Angst habe, vor dem Milieu sowieso nicht. Das kann ich aber auch gut sagen, weil ich hier im beschaulichen Freiburg sitze und Berlin weit weg ist. Frau Heisig selbst, glaube ich, hat Grund gehabt, sich nicht immer allzu sicher zu fühlen, aber genaue Hintergründe und Details hat sie mir nie so beschrieben. Und die, die sie beschrieben hat, möchte ich hier jetzt auch nicht nennen. Aber sie war sicherlich eine Person, die nicht so unbehelligt und ganz frei durch die Straßen gehen konnte, wie ich oder Sie das können.

Timm: Man hat sie gerne bezeichnet als Mrs Tough oder Richterin Gnadenlos. Unabhängig vom Wahrheitswert: Wie ist sie mit dieser Rolle klargekommen oder mit dieser Bezeichnung?

Meyer: In meinen Augen hat sie darunter gelitten, weil sie erstens es als ungerecht empfand, so bezeichnet zu werden, denn sie hat eigentlich ihre Rolle selbst eigentlich eher verstanden als jemand, der nichts anderes wollte, als dem Geltung zu verschaffen, was vorliegt, der Gesetzeslage, und sie wollte sich einfach nicht abfinden mit der Ineffizienz der bisherigen Verfahrensweisen. Dass sie selber dann sozusagen konkret vorangeschritten ist und das versucht hat umzusetzen, was sie von anderen fordert, hat sie eigentlich immer als etwas ganz Normales und Richtiges empfunden.

Und die Bezeichnung, die Sie gerade genannt haben, hat sie einfach in dieser Hinsicht einfach als ungerecht empfunden, zumal sie keineswegs eine Vertreterin einer Verschärfung oder Verlängerung von Strafe oder so etwas war. Sie war weiß Gott nicht eine Richterin im Sinne von eine Frau sieht rot oder irgendetwas, sondern sie war eine sehr nachdenkliche, aber eben auf Effizienz ausgehende Person. Und deswegen hat ihr das, glaube ich, wehgetan und es hat natürlich auch eine Funktion gehabt im politischen Diskurs nicht nur in Berlin, sondern auch woanders, Beifall von der falschen Seite wie auch Versuche, sie zu diskreditieren. Das lässt sich mit solchen Schlagworten natürlich leichter tun als in anderer Weise.

Timm: Stephan Meyer, Kirsten Heisig hat ein ziemliches Fanal gesetzt: Sie hat Ihnen, dem Lektor, letzte Korrekturen übermittelt und sich dann umgebracht. Insofern liegt es nahe, dieses Buch als Vermächtnis zu lesen. Lesen Sie es auch so?

Meyer: Ich lese es nicht als Vermächtnis, weil ich glaube dieser Begriff was anderes bedeutet als jetzt naheliegt. Das hätte bedeutet, dass sie dieses Buch sozusagen auf diesen Punkt ihres Abschieds aus ihrem Leben sozusagen hingeschrieben hat. Dafür gibt es für mich jedenfalls keine erkennbaren Anzeichen und ich lese es eher als eine posthume Veröffentlichung, die einfach in kompakter, gut verständlicher Weise zum Ausdruck bringt, woran Kirsten Heisig ihr Leben lang gearbeitet hat, sich abgearbeitet hat und sich bemüht hat, versucht hat, Mitstreiter zu finden. Und in dem Sinne ist es natürlich eine kompakte Zusammenfassung dessen, was ihr Lebenswerk war.

Dass das durch ihren tragischen Tod jetzt im Nachhinein zu einem Vermächtnis geworden ist, liegt leider in der Natur der Sache, aber ist sicherlich, soweit ich das sagen kann, nie von ihr so beabsichtigt gewesen. Und ich möchte es dann so auch nicht lesen. Ihr selber, die sich sehr auf dieses Buch gefreut hat und es gar nicht erwarten konnte, dass das Buch Streit und Diskussion und Engagement hervorruft, war es sehr wichtig, dass dieses Buch pünktlich erscheint. Sie hat sich sehr darauf gefreut und insofern ist, kann ich nur noch mal betonen, ist von einem Vermächtnis in dem strengen Sinne dieses Begriffs, glaube ich nicht die Rede.

Timm: Stephan Meyer vom Herder-Verlag über Kirsten Heisigs Buch "Das Ende der Geduld", das in dieser Woche erschienen ist. Herzlichen Dank fürs Gespräch!

Meyer: Danke auch!
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