Brumlik: "Menschen vor den Kopf gestoßen"

Moderation: Holger Hettinger · 09.05.2006
Das Bündnis für Erziehung von Ursula von der Leyen sieht der Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik kritisch. Die Familienministerin wolle in erster Linie ein christliches Erziehungsdogma vermitteln und habe die Muslime bei dem Bündnis nicht eingebunden. Um erschreckenden Verrohungstendenzen bei Jugendlichen entgegenzuwirken, müsse man ihre Chancen verbessern, so Brumlik.
Hettinger: Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen und die katholische und evangelische Kirche sind ins Gespräch gekommen, um dem Werteverfall bei Jugendlichen entgegenzuwirken. Ob dieses Bündnis für Erziehung ein glücklicher Wurf ist und ob eine solche kirchlich-staatliche Allianz überhaupt dazu taugt, das Problem des Werteverfalls in den Griff zu bekommen, darüber sprechen wir nun mit Micha Brumlik. Er ist Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Schönen guten Tag, Herr Brumlik!

Brumlik: Guten Tag!

Hettinger: Herr Brumlik, ein Bündnis für Erziehung, jetzt mit den beiden großen, in Anführungszeichen, Kirchen, der katholischen und der evangelischen. Wie stehen Sie grundsätzlich zu einer solchen Idee dieses Bündnisses?

Brumlik: Ich finde die grundsätzliche Idee, all jene, die in Erziehungsinstitutionen tätig sind, noch einmal zu einer Reflexion über ihre Wertbasis anzuhalten, grundsätzlich sinnvoll. Die Art und Weise, wie die Familienministerin das freilich umgesetzt hat, hat mehr Menschen vor den Kopf gestoßen, und damit dem selbst gesetzten Ziel außerordentlich geschadet, denn wir wissen, dass jene Kinder und Jugendlichen, bei denen wir vom Werteverfall sprechen, in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht diejenigen sind, die aus christlichen Elternhäusern kommen und von ihren Eltern in christliche oder kirchliche Kindergärten geschickt werden.

Hettinger: Das heißt, diese Jugendlichen, die sind überhaupt nicht zugänglich für solche Ideen, wenn quasi das bürgerliche Deutschland, in Anführungszeichen, versagt, werden das die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland schon gar nicht richten.

Brumlik: Das ist genau das Problem, das, was uns hier in den letzten Wochen sehr beschäftigt hat, Stichwort Rütli-Schule, verweist auf männliche Unterschichtsjugendliche vor allem nicht ausschließlich aus Immigrantenfamilien in sozial schwachen Gebieten, etwa in Berlin, und dort ist ja die Entkirchlichung nun besonders weit fortgeschritten. Also die werden nun die am stärksten belasteten Problemgruppen werden von diesem Bündnis überhaupt nicht erreicht.

Hettinger: Das heißt, wenn man jetzt die Muslime mit ins Boot nähme, wäre das Problem erledigt?

Brumlik: Damit ist das Problem nicht erledigt, aber man hätte damit zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Man hätte erstens einen deutlichen Beitrag zur heftig geforderten Integration, gerade der muslimischen Einwanderer, leisten können und hätte sie bei dem, was ja nun gläubige Muslime besonders beschäftigt, nämlich ein moralisches Leben führen zu sollen, einbinden können. Das wäre der eine Punkt, den man damit gewonnen hätte. Zum anderen hätte man damit gewonnen einen Zugang zu diesen Problemjugendlichen und ihren Familien. Das ist versäumt worden.

Hettinger: Lassen Sie uns noch mal kurz über das christliche Menschenbild reden, das dahinter steckt, hinter dieser Initiative. Der Philosoph Ulrich Ruschig schreibt heute in der "taz", dass dieses christliche Menschenbild in der Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen und damit im christlichen Gottesbild gründet, im Gottesbild allerdings unterscheiden sich die Religionen, wenn aus dem Gottesbild Werte abgeleitet werden sollen, dann unterscheiden sich die so abgeleiteten Werte eben auch. Das würde ja bedeuten, egal, welche religiösen Gruppierungen man berücksichtigt, im Ergebnis kann man gar nicht auf einen Nenner kommen.

Brumlik: Also, das scheint mir in mehrerer Hinsicht unrichtig zu sein. Zunächst einmal gilt, dass das, was die Frau Ministerin als christliche Werte vorgeschlagen hat, nämlich Anstand, Pünktlichkeit und gutes Benehmen, dass das keine christlichen Werte sind. Und wenn das die christlichen Werte wären, dann bräuchte man nun den christlichen Glauben überhaupt nicht, der ja sehr viel anspruchsvollere Ziele formuliert, die Nächstenliebe und gar die Feindesliebe. Also noch einmal, wenn Anstand und Pünktlichkeit christliche Werte sind, dann ist das Christentum in seiner jetzigen Form definitiv überflüssig. Zweitens, es ist richtig, dass sowohl Judentum als auch Christentum als auch Islam von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ausgehen, allerdings gebietet es die Redlichkeit mitzuteilen, dass die monotheistischen Religionen außerordentlich lange, bis ins 20. Jahrhundert, gebraucht haben, um die Würde des Menschen als einen Eigenwert anzuerkennen. Der Gedanke der Würde des Menschen, so wie sie im Grundgesetz verankert ist, ist ein Produkt der Aufklärung und nicht der monotheistischen Religionen, die dafür eine unter mehreren Voraussetzungen darstellen.

Hettinger: Natürlich besonders pikant, dass gerade eben jene Aufklärung von der Religion natürlich auch sehr vehement bekämpft wurde. Kann man sagen, dass man so etwas wie einen, ja, einen moralischen Grundsatz, ein moralisches Grundkonzept in Deutschland hat, das irgendwie verschütt gegangen worden ist und das man, mit welchen Mitteln auch immer, wieder beleben müsste?

Brumlik: Also, ich glaube, dass das explizite Wissen um Moral, dass das explizite Wissen, was nun eigentlich Artikel 1 unseres Grundgesetzes, die Würde des Menschen ist unantastbar, wirklich bedeutet, dass das vielerorts nicht bekannt ist und keineswegs nur bei Schülerinnen und Schülern aus sozial schwachen Gebieten, sondern wie man etwa an der Folterdebatte oder an populistischen Kampagnen von Politikern sehen kann, bis weit in die politische Klasse hinaus auch nicht, und das ist nun eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, das klar zu machen. Allerdings, und das muss immer wieder betont werden, das Erwerben all dieser Werte kann nicht durch das Predigen dieser Werte befördert werden, sondern dadurch, dass in Schulen, in Kindergärten und sonstigen Erziehungsinstitutionen ein tolerantes, den Anderen achtenden, auf Empathie beruhendes Miteinander vorgelebt wird.

Hettinger: Aber wenn doch jetzt die Erwachsenen diese Werte wie eine Monstranz vor sich her tragen, dann ist das doch eigentlich ein willfähriges Ziel für diejenigen auf den Schulhöfen, die sich ja genau in ihrem Protest dagegen reden. Es ist doch cool gegen die zu sein, die gerade dieses Wertegerüst wie ein Gesetz, wie eine Instanz, ihnen vorhalten.

Brumlik: Ja, ich glaube aber, dass es leider nicht nur um den Wunsch geht, cool zu sein, sondern man muss leider feststellen, dass es in diesen Bereichen der Gesellschaft und der Jugend zu echten erschreckenden Verrohungserscheinungen gekommen ist. Also, wenn sich männliche Jugendliche daran ergötzen, auf ihren Handykameras Videofilme anzuschauen, die zeigen, wie andere Gleichaltrige erniedrigt und gepeinigt werden, dann ist das mehr, als nur der Protest gegen leer gewordene Wertehülsen.

Hettinger: Was soll man dem entgegensetzen?

Brumlik: Dem muss man entgegensetzen natürlich Sozialpolitik. Man muss die Lebenschancen dieser Jugendlichen objektiv verbessern. Man muss, man darf sie nicht aufgeben. Man muss ihnen die deutsche Verkehrssprache beibringen und man muss den in der Tat mühsamen Versuch unternehmen, auch und gerade in diesen Schulen selbst, zu so etwas wie einem demokratischen und toleranten Miteinander zu kommen, und dazu gehört in erster Linie, dass Grausamkeit und körperliche Aggressionen und auch verbale Aggressionen rigoros verboten werden. Allerdings nicht nur, indem man sagt, ich verbiete es, sondern indem man versucht, das zu begründen.

Hettinger: Micha Brumlik war das. Er ist Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
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