Brüchige Bürgerrechte

23.02.2012
Steckt die Demokratie durch die Globalisierung in der Sackgasse? Das ist die Kernfrage des Buches der Philosophin Catherine Colliot-Thélène. Eine Frage, die gerade in Europa die Menschen umtreibt, scheint doch der wahre Inhaber der Macht die Finanz- und Bankenwelt zu sein.
Eine Kontrolle durch die Politik oder das Volk findet nicht statt. Catherine Colliot-Thélène findet keine schnelle Antwort, sie begibt sich auf die Suche in den letzten 200 Jahren, in denen sich die moderne Demokratie entwickelte. Mit Rousseau über Kant und Hegel zeichnet sie die großen historischen Umwälzungen nach bis zur Entwicklung der Nationalstaaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Das Erbe der Aufklärung und der Französischen Revolution spielen auch in der modernen Demokratie eine Rolle, die Individualisierung der Rechte brachte eine grundlegende Veränderung der Form politischer Machtausübung.

Das Buch ist keine leichte Lektüre, die Philosophin argumentiert auf hohem Niveau. Sie bietet eine Fülle von Anregungen und Zitaten, nicht nur aus der Philosophie, sondern auch aus der Politik- und Rechtswissenschaft. Es ist hilfreich in der Argumentation gegen die schnellen und populistischen Antworten auf die Globali-sierung. Die Rolle des Volkes, das der Macht die Legitimation gibt und letztlich durch Wahlen die Politik bestimmt, nimmt eine zentrale Stellung im Buch ein. Aber wer ist das Volk, wer ist Inhaber der Rechte im demokratischen Staat? Die politischen Rechte – an erster Stelle das Wahlrecht – sind an die Staatsbürgerschaft gebunden. Die Menschenrechte dagegen sind global, auch der Ausländer hat im demokratischen Staat Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben. Aber zur Wahl gehen darf er nicht. Das ist die Demokratie, die wir heute kennen, die sich aber aufzulösen scheint.

Denn die Bürger gehen zwar zur Wahl, aber die Regeln, die letztlich ihr Leben bestimmen, werden woanders gemacht, zum Beispiel in der Europäischen Kommission. Die neuen Machtinstanzen heißen Weltwährungsfonds und Weltbank. Die demokratischen Bürgerrechte scheinen brüchig zu werden, der ständig schrumpfende Handlungsspielraum der nationalen Politik scheint es unmöglich zu machen, sie einzufordern. Dennoch – Catherine Colliot-Thélène ist optimistisch – bedeutet das nicht das Ende der Demokratie. Sie plädiert für ein neues Verständnis von Demokratie, von Mitbestimmung, von Einflussnahme, die sich nicht auf die Kontrolle der nationalen Regierung beschränkt. Demokratie ist für sie die Form, das Verhältnis von Beherrschten und Herrschenden zu gestalten, der Kern dieses Verhältnisses ist die Forderung nach gleichen Rechten. Wenn die Machtinstanzen auf mehrere Ebenen verteilt sind, wie in Europa, dann müssen die Rechte auch auf verschiedenen Ebenen ausgehandelt werden. Zum Teil geschieht dies längst, ein Beispiel bietet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, an den sich europäische Bürger von 47 Staaten wenden können, also weit über die EU hinaus.

Die Grenzen zwischen Politik, Recht und Wirtschaft sind fließend, die Kämpfe um Rechte sind zersplittert. Man kann der Autorin nicht vorwerfen, die Lage der Dinge zu beschönigen. Aber "jeder hat das Recht, Rechte zu haben", dieses von Hannah Arendt formulierte Postulat durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Für Catherine Colliot-Thélène ist es die Triebkraft für eine stets mögliche Demokratisierung, auch für eine "Demokratie ohne Volk". Politik wird nicht ausschließlich von Berufspolitikern gemacht, schreibt sie am Ende ihres Buches. Welche Mittel dabei anzuwenden sind, auch darauf hat die Philosophin keine eindeutige Antwort. Aber sie hat die Fantasie angeregt, wie der politische Mensch – auch in neuen Kollektiven – Einfluss auf die Politik nehmen kann. Sie erinnert nachdrücklich daran, dass die Proteste und Forderungen der Machtlosen entscheidend dazu beigetragen haben, die Demokratie zu dem zu machen, was sie heute im Idealfall ist.

Catherine Colliot-Thélène: Demokratie ohne Volk
Hamburger Edition, Hamburg 2011
251 Seiten, 28 Euro
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