Bruch mit den Konventionen des Unglücklichseins

11.03.2010
"Alle glücklichen Familien gleichen einander", heißt es in Tolstois "Anna Karenina", "jede unglückliche indessen..." Was aber, wenn im Laufe der nachfolgenden Jahrzehnte aus der berühmten skrupulösen Differenzierung eine zunehmend pikierte Exklusivitäts-Litanei geworden wäre, eine (Kunst-)Doktrin, nach welcher das Glück bestenfalls eine Illusion sei und die Ehe ohnehin der Inbegriff kleinbürgerlicher Repression?
Um nicht missverstanden zu werden: Von Alberto Moravias konventionskritischen Romanen, Pasolinis subversiver "Teorema"-Ästhetik bis hin zu Henry Millers jubelndem Hedonismus haben Literatur und Leser von tabubrechenden Horizonterweiterungen stets ausgiebig profitiert. Dennoch: Ist es nicht schon seit Langem (und nicht allein im bräsig gewordenen Regie-Theater) zu eine Art säkularem Glaubenssatz ohne Widerspruchsmöglichkeit geworden, dass man "die Brüchigkeit und den Zerfall hinter den Kulissen" wieder und wieder zeigen müsse, da angeblich nur dies das Eigentliche darstelle, den Kern der faulen Frucht?

Wer all dessen inzwischen überdrüssig ist und dennoch nicht reif für die Trivial-Insel der Rosamunde Pilchers und Hera Linds, dem sei Rafael Yglesias' Roman "Glückliche Ehe" in die Hände und ans Herz gelegt. Schon der Titel nämlich ist Provokation und tapferer Einspruch - gegen die schein-progressiven Unzufriedenheitsspießer wie auch gegen das Leben selbst: Am Ende nämlich stirbt Margaret Cohen, in die sich im Manhattan der 70er-Jahre der damals 21-jährige Enrique verliebt hatte, elendig an Krebs.

Dazwischen aber liegen mehr als drei Jahrzehnte erfüllter Existenz, will heißen, Erfüllt selbstverständlich nicht nur mit der Schwärmerei und romantischen Unsicherheit der ersten Jahre, sondern auch mit sexuellem, ja selbst emotionalem Überdruss, mit Kinderaufzucht und Therapeutenbesuchen, mit Seitensprüngen und doch – mit einer Treue, die sich letztlich nicht nur größer als der Tod erweist, sondern auch konsistenter als das sogenannte "reale Leben".

Der amerikanische Schriftsteller Rafael Yglesias, geboren 1954 und von 1977 bis zu ihrem Tod 2004 mit Margaret Joskow verheiratet, hat hier einen autobiografischen Roman voller Weh, aber ohne jegliche Wehleidigkeit geschrieben, ein Buch, das dem Leser alsbald das schlimme Ende ahnen, ihm gleichzeitig jedoch durch konzise Rückblenden und (zum Teil schreiend komische) Detailbeschreibungen dem linearen Terror des Schicksals eine Nase drehen lässt.

All das ist nicht nur spannend zu lesen (in 30 Jahren Ehe sammeln sich eben so manche Plots und dramatische Höhepunkte an), sondern auch unkonventionell im wahrsten, existenziellen Sinn: Dass ein aufstrebender Jung-Schriftsteller eine Tochter aus vornehmem New Yorker Haus für sich erobert, indem er seinen Charme spielen lässt und effektvolles, pseudo-intellektuelles Name-Dropping betreibt, mag ja noch durchaus im Rahmen des gemeinhin Vorstellbaren sein.

Dass schließlich aber beide ihre Liebe auch gegen sich selbst und die Versuchungen von Routine und vorhersehbaren "Ausbrüchen" verteidigen, ohne sich gleichzeitig in etwas zu fügen und ohne auch nur ein Yota von ihrem Glücksanspruch aufzugeben, ist alles andere als gängig.

Eine Love-Story ohne Ryan-O'Neil-Kitsch, ein Roman stattdessen, der seine beiden Protagonisten Margaret und Enrique auf jenem Weg begleitet, an dessen Ende schon Philemon und Baucis winkend auf sie warten. Was ist angesichts dieses unwahrscheinlichen Triumphs schon so etwas schnöde Banales wie ein Krebs?

Besprochen von Marko Martin

Rafael Yglesias: Glückliche Ehe
Roman
Aus dem Amerikanischen von Cornelia Holfelder-von der Tann
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2010
429 Seiten, 22,90 Euro