Britischer Politikwissenschaftler über Brexit

"Die Deutschen sind optimistisch, aber schwammig"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der britische Premierminister David Cameron auf der Syrien-Geberkonferenz in London.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der britische Premierminister David Cameron auf der Syrien-Geberkonferenz in London. © afp/Tallis
Anthony Glees im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 19.02.2016
Die EU und Großbritannien: Gibt es noch einen Weg zueinander – oder sagen die Briten bald "Byebye"? Der Politikwissenschaftler Anthony Glees kritisiert seine Landsleute für ihre negative Haltung. Und den Deutschen wirft er vor, nicht deutlich zu machen, was sie wirklich wollen.
Der britische Politikwissenschaftler und Europa-Experte Anthony Glees sieht Deutschland, Großbritannien und die EU derzeit in einer kaum auflösbaren problematischen Situation. Das Thema lässt den Wissenschaftler nicht kalt. Im Deutschlandradio Kultur äußerte Glees sich mit großer Emphase zum Thema "EU-Reform".
Glees sagte, ein großes Problem sei, dass deutsche Regierungschefs "mehr Europa" einfordern würden, ohne jedoch näher zu erklären, was sie damit eigentlich meinten. Die Briten wiederum sagten, was sie nicht wollten, aber nicht, was sie statt dessen wollten:
"Wir Briten sind sehr negativ, aber präzise. Die Deutschen sind sehr optimistisch, aber schwammig."

Im Zentrum: die Sicherheitsfrage

Glees sagte: Ein wichtiger, strittiger Punkt, der für die Briten von fundamentaler Bedeutung sei, sei das Thema Sicherheit im Zusammenhang mit Migranten beziehungsweise Flüchtlingen. Dort gebe es derzeit vor allem zwischen Deutschland und Großbritannien deutliche Unterschiede:
"Sie in Deutschland sagen immer 'Flüchtlingskrise'. Wir sagen 'Migrantenkrise'. Denn wir in Großbritannien sind der Meinung, dass Sie keine Ahnung in Deutschland haben, ob diese Menschen echte Flüchtlinge sind oder wirtschaftliche Migranten. Und wir verbinden diese Frage mit unserer nationalen Sicherheit. Und ich sehe dabei nicht ein, wie eine machtlose EU und eine machtlose Bundesrepublik, dieses Problem lösen können, damit die Briten sagen: 'Ja, es ist o.k., wir bleiben drin'."
Der Politikwissenschaftler betonte: Die Vorteile, wenn Großbritannien Mitglied der EU bleibe, seien bei weitem größer als die Nachteile, wenn sein Land die EU verlasse. Die Stimmung in seinem Land sei derzeit jedoch eindeutig "pro Brexit". Alle großen britischen Zeitungen bildeten dies ab. Wäre heute die Abstimmung, bliebe Großbritannien nicht länger EU-Mitglied, sagte Glees.


Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Nur noch alles zusammen machen oder doch lieber nach dem Prinzip: Jeder macht seins, und wenn's passt und man das möchte, dann unternimmt man gern mal was Gemeinsames? Das klingt jetzt nach der Frage: Wie führe ich eine perfekte Ehe? Ist aber eine der Kernfragen, die sich derzeit innerhalb der Europäischen Union stellen. Also immer mehr Europa, immer mehr Macht nach Brüssel? Oder doch lieber etwas weniger davon und, wie die Briten das wollen, dann ab und zu mal gern was Gesamteuropäisches? Das, was Großbritannien da an Reformen der Europäischen Union abverlangt, um selbst irgendwie dabeibleiben zu können und zu wollen, das könnte ja auch dazu führen, dass andere Länder auf den Geschmack kommen, auch nach dem Gipfeltreffen in Brüssel gestern und heute Nacht. Anthony Glees ist Politikwissenschaftler an der Universität Buckingham, ein exzellenter Kenne der deutsch-britischen Beziehungen und jetzt am Telefon. Schönen guten Morgen!
Anthony Glees: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Herr Professor Glees, hängen wir Deutschen da tief im Schillerschen Freundschaftsmodell, wenn wir weiter am Ideal von einer vertieften EU hängen?
Glees: Das ist eine sehr gute Frage! Ich kann nur sagen, dass das, was die Deutschen anscheinend wollen, schwer mit dem, was die Briten nicht wollen, vereinbar sein wird. Man kann nicht immer ganz vernünftig oder klar reden über das, was die Deutschen wollen, denn verschiedene deutsche Bundeskanzler sagten immer, sie wollten mehr Europa, ohne genau hinzudeuten, was mehr Europa bedeuten soll. Und es gibt sehr große Fragen, wirtschaftliche Fragen, mit dem Euro, aber auch menschliche Fragen, mit der Migrantenkrise zum Beispiel, wo die Europäische Union keine richtige Lösung hat.

'Mehr Europa' ist auch keine Lösung

Und einfach 'mehr Europa' als Antwort auf dieses Problem zu geben, wie das Deutschland macht, ist meines Erachtens genauso ungenügend wie das, was die Briten sagen. Denn die Briten wissen sehr gut, was sie nicht wollen, aber sagen nicht eigentlich, was sie haben möchten. Das ist das Problem. Wir Briten sind sehr negativ, aber präzise, die Deutschen sind sehr optimistisch, aber schwammig!
von Billerbeck: Für die Briten ist ja mehr Macht für Brüssel seit jeher ein Alptraum. Ist da wieder mal die berühmte Insellage dran schuld?
Glees: Die Insellage, ja. Aber ich würde viel mehr sagen, gerade jetzt zurzeit besteht eine Radikalisierung der öffentlichen Meinung in Großbritannien, die das Produkt von vielen Jahren ist, wo ständig auf die Europäische Union geschimpft worden ist. Wenn Sie heute Morgen in England wären und unsere Presse lesen würden, würden Sie sehen, dass die großen Zeitungen – nicht nur die Murdoch-Presse – einstimmig auf Europa spotten, einstimmig dafür sind, dass wir aus der Europäischen Union herauskommen können. Und dass ständig, seit sehr vielen Jahren diese Beschimpfung, wo nichts Gutes gesagt wird, das wird jetzt zurückbezahlt. Auch wenn es heute Morgen, was weiß ich, in Brüssel gut für Cameron geht, kann es immer noch eine Katastrophe für ihn geben, weil ... Ich glaube, wenn heute gewählt würde, würde es eine Mehrheit in Großbritannien geben für den Brexit.
von Billerbeck: Die von Cameron vorgeschlagen der EU werden ja hierzulande, in Deutschland eher als Rückschritt wahrgenommen, die man nur akzeptiert, damit man verhindert, dass die Briten sich aus der EU verabschieden. Sehen Sie in diesen von Cameron angestrebten Reformen auch einen Rückschritt oder vielleicht doch einen Fortschritt hin zu einem Europa, das eben doch nicht so zentralistisch organisiert ist?
Glees: Ich glaube, man kann schon sagen, dass die Vorteile, wenn Großbritannien in der Europäischen Union bleibt, viel größer sind als die Nachteile, wenn Großbritannien herausfliegt. Und es gibt auch Sachen, Details, würde ich sagen, wo David Cameron nicht nur richtig debattiert und nicht nur für Großbritannien spricht, sondern für viele andere Mitgliedsstaaten. Und das mit Kindergeld und Sozialleistungen zum Beispiel, das ist ein sehr kompliziertes, detailliertes Feld, wo in Großbritannien die Sachen anders verordnet sind und das zu einem Problem geworden ist. Aber immerhin sind zwei Millionen Leute aus den anderen 27 EU-Staaten, die in Großbritannien arbeiten, und zwei Millionen Briten, die in den anderen 27 Staaten arbeiten. Also, es gibt da eigentlich einen Ausgleich.

Es geht nicht um Kindergeld und Sozialleistungen

Die große Frage, glaube ich, für die Briten hat eigentlich nicht mit Sozialleistungen und Kindergeld zu tun, es hat mit der Sicherheitsfrage zu tun. Für die Briten ist die Sicherheitsfrage eine fundamentale Frage. Und in Großbritannien ist die Migrantenkrise ... Sie in Deutschland sagen immer Flüchtlingskrise, wir sagen Migrantenkrise, denn wir in Großbritannien sind der Meinung, dass Sie keine Ahnung in Deutschland haben, ob diese Leute echte Flüchtlinge sind oder wirtschaftliche Migranten. Und wir verbinden diese Frage mit unserer nationalen Sicherheit. Und ich sehe da nicht ein, wie eine machtlose EU und eine machtlose Bundesrepublik, Frau von Billerbeck, eine machtlose Bundesrepublik dieses Problem lösen kann, damit die Briten dann sagen, ja, es ist okay, dass wir drin bleiben! Das ist das Katastrophale an der jetzigen Lage. Ein perfekter Sturm.
von Billerbeck: Einschätzungen, sehr emphatische, sehr emotionale, des britischen Politikwissenschaftlers Anthony Glees über die Folgen der von Großbritannien verlangten Reformen und die Ansichten, die Deutschland da hat. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Glees: Gerne geschehen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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