Britische Debatte über EU-Austritt

"Das Thema kommt zur Unzeit"

Der britische Premierminister David Cameron beim Besuch der EU-Kommission in Brüssel am 29.01.2016.
Der britische Premierminister David Cameron will in Brüssel weitere Zugeständnisse aushandeln © picture alliance / dpa / Laurent Dubrule
Bernd Hüttemann im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 16.02.2016
Die Diskussion über einen möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU lenke von viel größeren Problem ab - der Flüchtlingskrise. Das sagt der Aktivist Bernd Hüttemann und vermutet, dass es dem Premier David Cameron darum geht, Druck auf die EU auszuüben, um innenpolitisch zu punkten.
Beim EU-Gipfel Ende der Woche geht es auch darum, Großbritannien einen Verbleib in der Europäischen Union schmackhaft zu machen. Der britische Premierminister David Cameron hat auf der Insel eine Volksabstimmung im Sommer angekündigt. Gleichzeitig versucht er den anderen Mitgliedsstaaten Zugeständnisse abzuhandeln, die einen Verbleib für die Briten attraktiver machen könnten. Die EU ist dem britischen Premierminister mit einer Art "Notbremse" weit entgegen gekommen. So sollen die Sozialleistungen für eingewanderte EU-Ausländer eingeschränkt werden.

Debatte voller Konjunktive

"Solange das in den Verträgen drin bleibt und mit der Notbremse bliebe es ja in den Verträgen drin, ist das politisch betrachtet kein Schritt zu weit", sagt der Generalsekretär Europäische Bewegung Deutschland, Bernd Hüttemann, im Deutschlandradio Kultur. Es gebe aber in dieser Debatte noch sehr viele Konjunktive, sagte der Vertreter des vom Auswärtigen Amt geförderten zivilgesellschaftlichen Netzwerkes in Berlin.

Innenpolitische Debatte auf der Insel

"Es ist zunächst einmal eine richtige innenpolitische Diskussion, die da vom Zaun getreten worden ist", sagte Hüttemann. Cameron sei eine Art "Zauberlehrling", der bestimmte Dinge vorantreibe, um innenpolitisch zu punkten. Das britische Wahlsystem begünstige Minderheitenmeinungen. In Großbritannien sei vor einiger Zeit eine Diskussion losgetreten worden, die jetzt gelöst werden müsse. Dabei gebe es heute durch die Flüchtlingskrise viel größere Probleme. "Es kommt eigentlich zur Unzeit das ganze Thema, das ist das Problem."

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: David Cameron kommt heute nach Brüssel, um die Fraktionsvorsitzenden des Europäischen Parlaments von seinem Reformpaket zu überzeugen. Schließlich will er ja seine Abstimmung für oder wider EU zu Hause gut über die Bühne kriegen. Außerdem besucht Ratspräsident Tusk heute die Kanzlerin vor dem EU-Gipfeltreffen diese Woche, doch die Europäische Union, da ist derzeit wenig im Gleichgewicht. Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei wollen mit allen Mitteln verhindern, dass Flüchtlinge zu ihnen gelangen, aber wie steht es um diesen Verbund von Staaten, die Europäische Union, hinter der ja eigentlich mal eine europäische Idee stand. Was ist damit, seit man innerhalb begonnen hat, sich gegenseitig im Stich zu lassen.
Die Briten, die wollen mal halb drin sein und mal halb draußen, also lieber eine Union ohne die Briten, wie steht es noch um die Idee. Das will ich jetzt von Bernd Hüttemann wissen, dem Generalsekretär Europäische Bewegung Deutschland und Vizepräsident European Movement International, beides Netzwerke europäische Organisationen und Parteien, die sich seit 1948 genau dafür einsetzen, für die europäische Idee nämlich. Guten Morgen, Herr Hüttemann!
Bernd Hüttemann: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
Billerbeck: Die Europäische Union ist David Cameron schon weit entgegengekommen mit einer Art Notbremse, dass man dort die Sozialleistungen für eingewanderte EU-Ausländer beschränken wird. War das ein Schritt zu weit?
Hüttemann: Die Frage ist, solange das in den Verträgen drin bleibt, und diese Notbremse bliebe ja in den Verträgen drin, ist das erst mal, politisch betrachtet, kein Schritt zu weit. Es ist sicherlich schade für die Gruppen, die dafür eintreten, da möglichst viel Freizügigkeit in der Europäischen Union zu haben, aber in dem Punkt ist es nicht zu weitgehend, wenn es denn klappen würde. Da gibt es eben die ganz vielen Konjunktive in der ganzen Debatte, die wir zu besprechen haben.
Billerbeck: Sie haben es gesagt: Die EU-Verträge werden nicht geändert, aber könnte man nicht sagen, dass Cameron faktisch eine Lösung erzwingt, die jetzt auf dem Tisch liegt, nämlich das Ende der europäischen Integration. Kann sich Europa das gefallen lassen, dass die Briten da quasi so einen Druck ausüben?
Hüttemann: Es ist zunächst einmal eine richtig innenpolitische Diskussion, die da vom Zaun getreten worden ist, und Cameron ist vielleicht ein bisschen der Zauberlehrling, der bestimmte Dinge vorantreiben wollte, um innenpolitisch zu punkten. Sie haben auch ein Wahlsystem in Großbritannien, was quasi auch Mindermeinungen besonders stark bevorzugt. Da kommt einfach zustande, dass wir letztendlich eine Diskussion losgetreten haben in Großbritannien, die jetzt gelöst werden muss in Zeiten, wo es viel größere Probleme gibt. Die Flüchtlingskrise, das sind Dinge, die jetzt wirklich passieren. Es kommt eigentlich zur Unzeit das ganze Thema, das ist das Problem.

Die Verträge werden nicht geändert

Billerbeck: Wo verlaufen sie denn, die roten Linien für die Europäische Union, wo ist Schluss mit lustig?
Hüttemann: Die Grundfreiheiten der Europäischen Union, und dazu zählt mittlerweile auch Schengen, die ganzen Fragen, die Großbritannien zum Teil schon gar nicht mitmachen muss, die sind sicherlich ein großer Punkt. Diese Notbremse, das tut sehr, sehr vielen weh. Wie ich schon sagte, es ist jetzt nicht die absolut rote Linie, aber es ist etwas, was weh tut. Stellen Sie sich vor, es sind, glaube ich, zwei Millionen Briten außerhalb Großbritanniens in der EU lebend, die sind auch die profitablen Personen für die Geschichte. Das heißt letztendlich, diese ganze Grundfrage, wie kann man quasi die Europäische Union solidarisch halten und wie kann man die einzelnen Flügel und Bürger tatsächlich erreichen, dass sie einfach auch als Brite auf der Mallorca-Insel leben dürfen als Rentner und trotzdem Sozialleistungen auch behalten können, Rentenleistungen bekommen können. Das sind alles Dinge, die wir alle gewohnt sind und die wir dann verlieren würden, wenn es dazu grundsätzlichen Änderungen käme, aber dazu kommt es nicht. Die Verträge werden nicht geändert.

Wenig Aussichten für Brexit

Billerbeck: Trotzdem hat man das Gefühl, dass dieses Ziel, das man immer enger zusammenrückt in der Union doch – auch wenn die Verträge nicht geändert würden, ich sage jetzt mal gefühlt –, doch anders ist und nicht mehr so nah steht, und dass man da versucht, immer für sich etwas rauzuziehen, was positiv ist und die Union dann doch da irgendwie hinten stehenzulassen. Wäre es da nicht sinnvoller, zu sagen, macht doch, was ihr wollt, dann machen wir die Europäische Union eben ohne die Briten?
Hüttemann: Das Verrückte ist ja, er möchte viele rote Karten einführen für nationale Parlamente, dass man bestimmte Entwicklungen, Gesetze der Europäischen Union abblocken kann, das möchte Cameron letztendlich, aber in dieser Frage, wo es um ihn selber geht und wo es um Großbritannien selber geht, da wird keiner richtig gefragt zunächst einmal. Das, was die Europäische Union ausmacht, ist tatsächlich ein Rechtsverbund, der auch bindend ist. Die meisten Fragen, außer dieser Notbremsenfragen, sind auch völkerrechtlich zu lösen. Diese Notbremsenfrage, das ist eine europarechtliche Frage, die tatsächlich dann die einzelnen Institutionen lösen müssen, auch wieder rückgängig machen können. Das ist alles nicht so klar.
Das größte Problem aber ist, dass Großbritannien seiner eigenen Bevölkerung lange Zeit immer wieder Dinge sagt und Probleme aufträgt, die es vielleicht gar nicht gibt und die damit eine Stimmung schafft, die auch einen Medienspin hervorrufen, der in Großbritannien kaum noch kontrollierbar ist. Das ist eben das große Problem: Selbst, wenn man einigermaßen nette Worte findet und das Ganze schön darstellt, dann wird es sicherlich nicht unbedingt dazu führen, dass es ein sicheres Ja gibt. Es sieht sogar gar nicht so gut aus für Brexit. Das wollen wir alle nicht drauf ankommen lassen. Jeder will, dass Großbritannien drin bleibt, aber das ist etwas, was wir kaum in Betracht ziehen, dass Großbritannien wirklich ... da ein Spiel mit Feuer gefahren wird.
Billerbeck: Großbritannien, mit oder ohne Großbritannien in der EU. Bernd Hüttemann war das, der Generalsekretär der Europäischen Bewegung Deutschland. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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