Brinkmann: "Westwärts 1 & 2"

Rezensiert von Helmut Böttiger · 22.04.2005
"Westwärts 1 & 2" von Rolf-Dieter Brinkmann ist einer der wenigen wirklich herausragenden deutschsprachigen Lyrikbände seit 1945. Man ahnte das bereits 1975, als er in einer ziemlich verkürzten Form zum ersten Mal erschien. Das hatte jedoch etwas mit dem Tod des Autors zu tun, der sofort zu einem Mythos wurde: am 23. April 1975, gerade 35 Jahre alt, wurde Brinkmann beim Überqueren einer Straße in London von einem Auto überfahren. "Westwärts 1 & 2" erschien kurze Zeit später und wurde sofort zu einem Kultbuch.
Doch erst jetzt, zum 30. Todestag des Autors, legt der Verlag das Buch so vor, wie der Autor es konzipiert hatte. Es sind 26 bisher unbekannte Gedichte hinzugekommen und ein großangelegter Essay, der zu den beeindruckendsten poetologischen Texten eines deutschen Autors überhaupt zu zählen ist: das "unkontrollierte Nachwort zu meinen Gedichten".

Für Brinkmann war von Anfang an die Technik des Films enorm wichtig: es geht um Schnitte und Brüche. Und schon früh wandte er sich gegen den "Hörighaltungs- und Abrichtungscharakter" des Kulturbetriebs, der bereits alles vorformuliert hat, und definierte sich einen "Underground": er gab zeitgenössische Beat-Texte aus den USA heraus und verehrte William Burroughs und Frank O’Hara. Die revolutionsfreudigen 60er Jahre schienen Brinkmann zunächst zu entsprechen, er veröffentlichte Gedicht- und Prosabände, aber um 1970 begann er, sich immer mehr vom Kulturbetrieb abzukapseln. Berühmt wurde seine Pose bei einer Podiumsdiskussion mit Marcel Reich-Ranicki in Berlin. Er rief aus: "Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen schießen."

Die letzten fünf Jahre seines Lebens veröffentlichte er überhaupt nichts mehr. "Westwärts 1 & 2" hätte einen Neuansatz bedeutet. Er entfernte sich sehr stark von den Modetrends, also auch den Politikmoden seiner Zeit und lehnte jegliches Einverständnis radikal ab – gerade auch mit seiner Generation, den 68ern, die gerade den Marsch durch die Institutionen antraten. Brinkmann war kein Popliterat, sondern der erste große Subkultur-Avantgardist der deutschen Sprache. Er lebte bettelarm in einer Absteige in Köln. Um die Abzüge der Fotos bezahlen zu können, die er für "Westwärts 1 & 2" brauchte, verkaufte er sogar seine Erstausgabe von Arno Schmidts "Zettels Traum".

Das Buch ist eine Sammlung von Schnitten: von Fotos, Texten und Collagen. Alles ist literaturfähig. Dem Autor geht es um "Beobachten, auseinander nehmen, neu zusammensetzen". Brinkmann träumt von einem "Wörtersüden". Er schreibt: "Vielleicht ist es mir gelungen, die Gedichte einfach zu machen, wie Songs, wie eine Tür aufzumachen, aus der Sprache und den Festlegungen raus."

Einfach sind diese Gedichte allerdings nur, wenn man sich ihrem Sog überlässt, wenn man sie nicht im herkömmlichen Sinne "liest" und zu entschlüsseln versucht. Es ist ein Rausch der Bilder, es kommen Obsessionen der Wahrnehmung zum Ausdruck, ein Blick von unten. "Sprache, du tust mir weh!" heißt es einmal. Und in seinem "unkontrollierten Nachwort" geht es immer wieder um den "Schmand der Wörter" und die "Begriffe, diese Bewusstseinsparasiten". So schreibt er über Telefonbücher, Kinderurin, die Orangensaftmaschine, Reisebüros oder kurze signalhafte Momente wie "einen jener klassischen schwarzen Tangos in Köln".

Rolf Dieter Brinkmann: " Westwärts 1 & 2"
Rowohlt, Reinbek 2005
29,90 Euro
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