Brigitte Giraud: "Einen Körper haben"

Im Kosmos subjektiver Sinnlichkeit

Eine unbekleidete Schaufensterpuppe, die im Schaufenster eines Gesch
Eine Schaufensterpuppe: Giraud beschreibt den weiblichen Körper als Naturphänomen, jenseits von Schönheitschirurgie und Antiaging-Propaganda. © dpa / Marijan Murat
Von Ursula März · 18.06.2016
Der Roman "Einen Körper haben" schildert eine weibliche Biografie auf der Folie leiblicher Erfahrungen. Lebendaten, Namen, Handlungen treten in den Hintergrund. Was zählt, ist allein das subjektive Körpergedächtnis.
Die Romane der 1960 in Algerien geborenen und in den Banlieues von Lyon aufgewachsenen Schriftstellerin Brigitte Giraud haben bisweilen eine etwas unterkühlte Tonlage, die sich Girauds phänomenologisch-nüchternem Blick verdankt. Ihre Prosa ist durchaus poetisch, aber es ist eine Poesie der sachlichen Wahrnehmung.
Sachlich wirkt auch der Titel ihres 2013 im französischen Original erschienenen Romans, der nun auf Deutsch herauskommt: "Einen Körper haben". Er ist wörtlich zu verstehen, denn Giraud unternimmt in diesem Buch den faszinierenden Versuch, eine weibliche Biografie von frühester Kindheit bis in die Lebensmitte auf der Folie leiblicher Erfahrungen und Erinnerungen darzustellen. Der Raum der Erzählung ist das Körpergedächtnis.

Der biologische Kreislauf von Geburt und Tod

Die mit der Autorin offensichtlich identische Ich-Erzählerin bleibt namenlos. Ihre Lebensdaten und Lebensumstände werden nur dann kenntlich, wenn sie den Kosmos ihrer subjektiven Sinnlichkeit berühren. Dass der Vater Polizist ist, ergibt sich aus dem gebannten Blick der Tochter darauf, wie sich sein Gang, ja seine gesamte Körperhaltung verändern, je nachdem, ob er das Halfter mit der Dienstpistole um die Hüften trägt oder nicht. Dass die Mutter als Schneiderin arbeitet, lässt sich aus den Stoffen und Stoffballen erschließen, mit denen ihre Hände beständig in Kontakt sind, und aus ihren Versuchen, dem Mädchen hübsche selbst genähte Kleider schmackhaft zu machen.
Doch das Mädchen fantasiert sich in einen Jungenkörper. Ein Junge, merkt sie schon im Kindergarten, besitzt physische Freiheiten und Möglichkeiten, die einem Mädchen verwehrt sind. Die Pubertät wirft die eigene Körperwahrnehmung ebenso über den Haufen wie erste erotische Erfahrungen. Aus dem Mädchen wird eine Frau, aus ihr die genussvolle Geliebte und Lebensgefährtin eines Mannes, aus dieser schließlich eine Schwangere und die Mutter eines Sohnes.

Der Körper als Naturphänomen

Der biologische Kreislauf von Geburt und Tod schließt sich am Ende des Buches mit einem tragischen Ereignis. Der Partner der Ich-Erzählerin kommt bei einem Motorradunfall ums Leben. Wer ihn verschuldet hat, welche Verletzungen er auslöste - all das teilt der Text nicht mit. Vielmehr konzentriert er sich auf das kaum begreifliche Mysterium des toten Körpers, den der Lebende hinterlässt.
"Einen Körper haben" ist ein nicht ganz unriskantes literarisches Unternehmen. In manchen Passagen streift Brigitte Giraud jenen Weiblichkeitskult, der von fern an die Körperfixierung bestimmter Fraktionen des Feminismus der 70er-Jahre erinnert. Man verzeiht dies dem Roman allerdings schon deshalb leicht, weil ihm etwas Bedeutsames gelingt: die Rückeroberung menschlicher Physis aus der Umklammerung ihrer modernen Kommerzialisierung; durch Schönheitschirurgie und Antiaging-Propaganda, durch Perfektionswahn und medial verzerrte Körperidole.
Die Kommerzialisierung definiert den Körper als etwas, das gemacht wird: Dünner, jünger, großbrüstiger, faltenloser, muskulöser. In "Einen Körper haben" kehrt er als Naturphänomen zurück. So lässt sich Brigitte Girauds Buch auch als poetisches Manifest verstehen.

Brigitte Giraud: Einen Körper haben
Aus dem Französischen von Anne Braun
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2016
252 Seiten, 19,99 Euro