Brexit konkret

Britisch-europäischer Showdown

Ein englisches Einbahnstraße-Schild, im Hintergrund sind die Europaflagge und ein Union-Jack zu sehen.
Mit Blick auf den Brexit sucht die EU nach einer gemeinsamen Zukunftsvision © picture alliance / Yui Mok/PA Wire/dpa
Von Kai Küstner, Jens-Peter Marquardt, Stephanie Pieper, Ralph Sina und Thomas Spickhofen  · 13.03.2017
Die britische Premierministerin Theresa May hat einen "harten Brexit" angekündigt. Was bedeutet das für das Vereinigte Königreich und was für die EU? Mit welchen Karten gehen beide Seiten in den Poker über den EU-Austritt? Was kostet es?

Kapitel 1: Die Englische Provinz wartet ungeduldig auf den Brexit

Julie und ihr Mann Robert gehen mit ihrem Enkel, der im Buggy schläft, an einem Samstagnachmittag in Stoke-on-Trent spazieren. Diese 40.000-Einwohner-Stadt in der Mitte Englands wird auch die "Hauptstadt des Brexit" genannt, weil hier im vergangenen Sommer etwa 70 Prozent der Wähler ihr Kreuz bei "Leave" gemacht haben.
So wie Julie. Sie unterstützt im Beruf Menschen mit Autismus in ihrem Alltag - und meint, die Briten sollten sich jetzt zuvorderst um sich selbst kümmern, um ihr eigenes Land:
"We’ve got to nurture the country, we’ve got to feed it, we’ve got to look after it, we’ve got to look after our own. And if we don’t do that – well, we won’t be England."
Wir wären nicht mehr England, wenn wir nicht zuerst nach unseren Leuten guckten – den Alten, den Kranken, den Obdachlosen, sagt die 48-Jährige. Sie ärgert sich täglich über ihren Nachbarn: ein Zuwanderer, der erst vor einem Jahr nach Großbritannien gekommen sei. Trotzdem, behauptet jedenfalls Julie, trage er Designer-Klamotten, lasse sich jeden Abend was zu essen liefern und habe schon sein drittes nagelneues Auto:
"I have a next door neighbour, who is an immigrant, that’s been in the country for twelve months – and he is now on his third car. Brandnew, not second hand!"
Dass die konservative Premierministerin Theresa May künftig weniger EU-Ausländer auf die Insel lassen will, gefällt Julie – ebenso wie ihrem Mann Robert, einem Ex-Soldaten. Die beiden können es kaum abwarten, dass es jetzt endlich richtig losgeht mit dem Brexit. Die Politiker und die Medien, klagt der 52-Jährige, würden die Wahrheit doch nur unterdrücken:
"They don’t want you to show you the truth, they don’t want you to know it. Through social media and mobile phones, people are finding out what’s happening."
Aber durch die sozialen Netzwerke, sagt Robert, komme alles raus: deshalb der Brexit, deshalb der Wahlsieg von Donald Trump. Sorgen, dass der EU-Austritt dem Land wirtschaftlich schaden könnte, haben er und seine Frau nicht; schlechter als jetzt, meinen beide, könne es für hart arbeitende Menschen wie sie doch gar nicht werden.
Von einer zweiten Volksabstimmung über den Brexit – die einige Oppositionspolitiker fordern – halten sie überhaupt nichts:
Julie: "The country is the people. We’ve spoken. We’ve said what we want. So why all of a sudden do we need another one? It’s what the majority of the people wanted. Leave it alone."
Das Volk habe gesprochen, die Mehrheit habe sich für den EU-Ausstieg entschieden, sagt Julie – und damit basta.
Ein UKIP-Unterstützer aus dem südenglischen Ramsgate mit seinem Fahrrad.
Ein UKIP-Unterstützer aus dem südenglischen Ramsgate.© dpa / picture-alliance / Facundo Arrizabalaga
Nicht nur in Stoke wächst die Ungeduld der Brexit-Befürworter, auch in Ramsgate: Die Marina der kleinen Hafenstadt im südöstlichen Zipfel Englands bietet 800 Booten Platz. Die Fischer schimpfen auf die von Brüssel vorgegebenen Fangquoten, die Hoteliers dagegen hoffen weiter auf Gäste aus der EU – wo doch das Pfund zum Euro so stark gefallen ist.
Beim Referendum wollte in Ramsgate eine große Mehrheit – mehr als 60 Prozent – raus aus dem europäischen Club.
Auch Colin, der gerade aus dem Supermarkt kommt, gehört zu denen, die froh sind, dass sich Großbritannien, wie er sagt, bald aus den bürokratischen Fesseln der EU befreit:
"I think we can do better without the ties and the bureaucracy that came with Brussels and all the European laws."
Der 54-jährige Ingenieur freut sich, dass das Land wieder souverän und unabhängig wird. Er fürchtet keineswegs, dass der Handel zwischen Insel und Kontinent leiden wird unter dem Brexit – denn Europa brauche Großbritannien als Wirtschaftspartner mindestens ebenso wie umgekehrt:
"I don’t think it will affect any business, because Europe needs us as much as we need Europe. So I think the trading will still continue."
Und als überzeugter "Brexiteer" ist Colin auch mit der Tory-Regierungschefin in London zufrieden, weil Theresa May eben den Willen des Volkes umsetze:
"Yeah, I think she’s trying to do a really good job in giving us direction – but maybe that’s the strength of a woman in leadership as opposed to the man that preceded her."
May mache einen besseren Job als ihr lavierender Vorgänger David Cameron, meint Colin – indem sie inzwischen eine klare Richtung vorgebe; genau das sei vielleicht die Stärke einer Frau in der Downing Street.

Kapitel 2: Raus, aber wie? Mays Roadmap

Theresa May: "Brexit means Brexit, and we are going to make a success of it."
"Brexit bedeutet Brexit, und wir machen daraus einen Erfolg." So lautete monatelang die wolkige Ansage der britischen Premierministerin. Theresa May ließ ihre Landsleute und die 27 übrigen Mitglieder der EU über ein halbes Jahr lang im Unklaren, welche Art von Brexit sie tatsächlich anstrebt. Wie eng oder wie lose das Land in Zukunft noch mit der Europäischen Union verbunden sein sollte.
Bei so viel Unklarheit konnte es schon mal passieren, dass sogar Konservative den Austritt mit einem englischen Frühstück verwechselten, Brexit und Breakfast durcheinander brachten:
Doch dann kam der 17. Januar 2017. Die Rede der Premierministerin im Lancaster House in London. Theresa May machte klar, dass Großbritannien eine klare Trennung von der EU anstrebt:
"Keine Teilmitgliedschaft in der Europäischen Union, keine assoziierte Mitgliedschaft, oder irgendetwas anderes, das uns halb drinnen und halb draußen halten würde. Wir wollen auch kein Modell übernehmen, das bereits für andere Nicht-Mitglieder gilt. Wir wollen nicht, wenn wir rausgehen, an Teilen der Mitgliedschaft festhalten."
Damit war die Entscheidung gefallen. Nach langen Diskussionen über einen weichen oder einen harten Austritt, Soft Brexit oder Hard Brexit, war nun klar: Die britische Regierung will den Ausstieg auf die harte Tour.
Hier im Lancaster House, wo sich einst Margaret Thatcher euphorisch zum Europäischen Binnenmarkt bekannte, verkündete ihre Nachfolgerin May nun den Ausstieg aus dem Binnenmarkt.
Die radikalen Brexiteers in der britischen Regierung und bei den Konservativen hatten sich durchgesetzt. Die Hoffnung der Anderen, Großbritannien könnte vielleicht nach dem Austritt zumindest im Binnenmarkt assoziiertes Mitglied bleiben, wie zum Beispiel das Nicht-EU-Land Norwegen, hatte sich zerschlagen.
May kündigte außerdem an, die Mitgliedschaft in der Europäischen Zollunion aufzugeben, zu der zum Beispiel auch die Türkei gehört.
Das Videostandbild zeigt die britische Premierministerin Theresa May während der Fragestunde am 08.02.2017 im britischen Unterhaus in London (Großbritannien) kurz vor der der entscheidende Abstimmung.
Die britische Premierministerin Theresa May während der Fragestunde am 08.02.2017 im britischen Unterhaus in London auf einem Videostandbild kurz vor der der entscheidende Abstimmung.© dpa-bildfunk / PA Wire
Aus Sicht der glühenden Anhänger des Brexit macht dieser harte Schnitt Sinn. Sie wollen, dass das Land wieder seine eigenen Gesetze macht, dass es der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entkommt und dass es weltweit eigene Handels- und Zollabkommen ohne Rücksicht auf EU-Regeln schließen kann. Mit Teilmitgliedschaften im Europäischen Binnenmarkt oder in der Zollunion würde Großbritannien diese neuen Freiheiten nicht erreichen.
Außerdem: Die Mehrheit der Briten hatte vor allem deshalb für den Austritt gestimmt, weil sie den Zuzug von EU-Bürgern auf die Insel eindämmen wollte. Die Premierministerin sagte, sie habe diese Botschaft verstanden:
"Die Botschaft der Öffentlichkeit vor und während des Referendums war klar: Mit dem Brexit die Kontrolle über die Zahl der Menschen, die aus Europa nach Großbritannien kommen, zurückzugewinnen. Das werden wir liefern."
Die EU hatte aber frühzeitig klar gemacht: Ohne Personen-Freizügigkeit keine Mitgliedschaft im Binnenmarkt. Mit der Konsequenz, dass Großbritannien jetzt diese Freihandelszone verlässt. Was aber kommt stattdessen? Die Regierungschefin will auch nach dem Austritt aus dem Binnenmarkt einen möglichst zoll- und barrierefreien Handel mit den Ländern der EU.
Ob Großbritannien das erreicht, hängt jetzt von den sehr komplizierten Brexit-Verhandlungen in Brüssel ab. Für diese zunächst einmal auf zwei Jahre angelegten Gespräche hat Theresa May Zuckerbrot und Peitsche bereit gelegt. Einerseits erklärte sie, dass das Vereinigte Königreich großes Interesse an einer prosperierenden und einigen EU habe. Das Land setze keinesfalls darauf, dass andere Mitglieder dem britischen Beispiel folgten und die EU verließen.
Gleichzeitig drohte die neue Eiserne Lady aber schon einmal damit, das Land zum Steuerparadies vor der europäischen Küste zu machen. Und die Gespräche über das künftige Verhältnis zur EU platzen zu lassen, wenn Brüssel nicht auf die Forderungen der Briten eingehe. Kein Deal sei am Ende besser für Großbritannien als ein schlechter Deal, so May.

Kapitel 3: Die Verhandler für die EU

Genau wie die britische begibt sich auch die EU-Seite bei den anstehenden Brexit-Verhandlungen in bislang "unerforschtes Gelände" – wie in Brüssel immer wieder betont wird. Sozusagen als "Pfadfinder" in diesem schwierigen Geläuf sollen auf kontinentaleuropäischer Seite drei Männer dienen: Als unbestrittener "Mr. Brexit" – oder vielmehr "Monsieur Brexit" - gilt dabei der Franzose Michel Barnier. Gerade zu Beginn wird die EU-Kommission die entscheidende Rolle bei den Verhandlungen spielen. Und das Kommissions-Team leitet Barnier:
"Die Zeit ist knapp. Es ist klar, dass der Zeitraum für die eigentlichen Verhandlungen kürzer ist als zwei Jahre."
Mit diesen Worten machte Barnier den Briten gleich bei seinem ersten öffentlichen Auftritt als Chef der Brüsseler Brexit-Taskforce Druck. Und da lag der Verhandlungsbeginn noch in sehr weiter Ferne. Dass die EU ausgerechnet einen Franzosen die Scheidungsgespräche führen lassen würde, verstand man auf britischer Seite durchaus als klare Botschaft.
Zudem ist Barnier einer, den vor allem die Londoner Banken noch lebhaft in Erinnerung haben dürften: War er als EU-Kommissar doch lange für den Binnenmarkt und Finanzdienstleistungen zuständig und hatte so maßgeblich versucht, den Kredithäusern, auch den britischen, härtere Auflagen zu verpassen:
"Präsident Juncker und ich sind entschlossen, die Einheit der 27 verbleibenden EU-Staaten zu erhalten."
Dies erklärte Barnier zu seiner obersten Richtschnur bei den anstehenden Verhandlungen. Und ergänzte: "Rosinenpicken" von Seiten der Briten werde es mit ihm nicht geben. Ein Nicht-Mitglied der EU könne nie dieselben Vorteile erlangen wie ein Mitglied. So der französische Konservative. Der eigentlich viel lieber seine Landessprache spricht als Englisch.
Der Chefverhandler der EU-Kommission für den Austritt Großbritanniens, Michel Barnier, auf einem Foto aus dem Jahr 2014.
Der Chefverhandler der EU-Kommission für den Austritt Großbritanniens, Michel Barnier, auf einem Foto aus dem Jahr 2014.© Imago / Italy Photo Press
Eine nicht weniger harte Nuss dürften die Briten mit Didier Seeuws zu knacken haben. Er hat sich als belgischer Diplomat den Ruf eines äußerst akribischen und zähen Verhandlers erworben. Und war die erste Wahl von EU-Ratspräsident Tusk für dessen Brexit-Team.
Seeuws ist damit sozusagen im Auftrag der Einzelstaaten unterwegs. Da sich der Belgier zu seiner neuen Tätigkeit und zum Brexit öffentlich nicht äußern darf, tut das stellvertretend und gerne, wenn auch stets wenig zuversichtlich, Ratspräsident Tusk:
"Die brutale Wahrheit ist: Der Brexit wird einen Verlust für uns alle bedeuten."
Gewinner werde es mit der Scheidung nicht geben – und zwar auf keiner Seite des Ärmelkanals, betont Tusk immer wieder. Was seine Mannschaft betrifft, so verspricht die, mit der Kommission ganz eng bei den Verhandlungen zusammen zu arbeiten.
Eine Sonderrolle nimmt somit der Dritte im Bunde ein – der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments, Guy Verhofstadt. Noch ein Belgier also.
Didier Seeuws 
Der Belgier Didier Seeuws. (Archiv)© AFP / Belga dpa / Dirk Waem
So richtig wichtig wird das Parlament erst ganz am Ende, wenn es dem ausgehandelten Brexit-Vertrag zustimmen muss. Daher wird der ehemalige belgische Premier auch Mühe haben, sich gegen die Kommission und Einzelstaaten zur Wehr zu setzen, die ihn bei den Verhandlungen eher auf der Zuschauertribüne sehen.
Sorgen macht sich der für fulminante Reden bekannte Verhofstadt aber derzeit weniger um die Brexit-Verhandlungen als um die EU selbst:
"Blicken wir der Realität ins Auge: Unsere Union befindet sich in der Krise."
Trump, Putin, Brexit – für Verhofstadt stellen sie alle die EU vor große Herausforderungen. Klar ist: Allen Verhandlern wird es bei den Gesprächen mit den Briten darum gehen, einen möglichst günstigen Deal für Europa herauszuschlagen. Vielleicht aber noch mehr darum, die verbleibenden 27 EU-Staaten überhaupt zusammen zu halten. Denn noch nie zuvor schien die Gefahr so groß, dass sich die Europäische Union in ihre Einzelteile zerlegen könnte.

Kapitel 4: Die 48% "Remainer" rühren sich

Unterdessen kämpfen auf der anderen Seite des Ärmelkanals immer mehr Menschen unverdrossen für die Nähe zur EU. Zum Beispiel auf der Holloway Road im Londoner Norden, an einem Samstagmittag.
Immerhin 48 Prozent der Briten hatten für den Verbleib in der Union gestimmt, hier im Stadtteil Islington waren es sogar drei Viertel. Nach dem Votum schienen sie wie in Schockstarre.
Inzwischen aber haben sich überall im Land Basisgruppen gebildet, um zumindest das – aus ihrer Sicht – Schlimmste abzuwenden.
Sie organisieren Diskussionen, helfen bei den Anträgen für eine Einbürgerung, vernetzen sich untereinander, informieren über die Vorzüge Europas, sie gehen auf die Straße, um mit den Leuten zu diskutieren.
"Islington in Europe" zum Beispiel zählt inzwischen 500 Mitglieder. Ihre Einladungen versieht die Gruppe mit einem roten Stempel, "Action Alert", Handlungsalarm. Es werde höchste Zeit, sagt Nick, der die Ortsgruppe in Islington leitet.
"Die Regierung will einen extrem harten Brexit, mit einem kompletten Ausstieg aus dem Binnenmarkt und allem, wovon wir immer profitiert haben. Wir glauben, dass es zusammen mit den Europäern einen sehr viel besseren Weg gibt, und wir werden in den nächsten zwei Jahren jede Möglichkeit nutzen, um auf die Regierung Einfluss zu nehmen."
Ein Aufkleber mit der Aufschrift "I'm in" ("Ich bin drin") wirbt für Stimmen gegen den Brexit
Ein Aufkleber mit der Aufschrift "I'm in" ("Ich bin drin") wirbt für Stimmen gegen den Brexit© dpa / CTK / Libor Sojka
George, der in Birmingham aktiv ist, geht noch einen Schritt weiter. In der zweitgrößten Stadt Großbritanniens stimmte die Hälfte der Menschen für den Brexit. Danach hätten sie die Gruppe gegründet, erzählt George, erst mal quasi als Therapie, aber dann seien sie auch raus auf die Straße gegangen.
"Vom ersten Moment an sind Leute zu uns gekommen, die sagten: Ich habe für den Austritt gestimmt, aber ich bedaure es. Ein Bürgermeister erzählte mir, dass am nächsten Tag Leute im Rathaus anriefen und fragten: Kann ich meine Stimme nochmal ändern?"
George möchte das Ergebnis der Volksbefragung deshalb am liebsten gleich ganz revidieren. Den Vorwurf, er sei undemokratisch, lässt er nicht gelten.
"Die Leute haben das Recht, ihre Meinung zu ändern. Wir haben ja auch alle vier, fünf Jahre Wahlen. Die Leute ändern ständig ihre Meinung."
Am letzten Samstag im März planen Basisgruppen aus dem ganzen Land eine Pro-EU-Demonstration vor dem Parlament in Westminster. Spätestens dann wird sich zeigen, wie viel Rückhalt die bekennenden EU-Freunde in Großbritannien tatsächlich haben.

Kapitel 5: Fahren auf Sicht: Wirtschaftliche Probleme voraus

In Folkestone, an der südenglischen Küste, hat Plamil Foods seinen Sitz und seine Fabrik: Die Mitte der 50er-Jahre gegründete Firma stellt dort seitdem vegane Lebensmittel her – darunter Sojamilch, Mayonnaise ohne Eier sowie Schokoriegel ohne Kuhmilch. Palettenweise liefert Plamil-Chef Adrian Ling seine Ware über den Ärmelkanal auf den Kontinent.
Doch jetzt, da die Premierministerin Großbritannien auch aus dem europäischen Binnenmarkt steuern will, weiß Ling nicht, woran er ist – und wissen auch seine Kunden in der EU nicht, woran sie sind:
"We do not know where we are. That is the composition. And our buyers in the EU also don’t know where they are."
Knapp die Hälfte aller britischen Exporte landen heute in anderen EU-Staaten; europäische Produktions- und Lieferketten sind – etwa in der Autoindustrie - über die Grenzen hinweg organisiert; und die regulatorischen Spielregeln sind überall angeglichen.
Auch wenn Theresa May hofft, dass ein neues britisch-europäisches Freihandelsabkommen viele der Binnenmarkt-Vorteile erhält: Sicher ist das nicht. Und so fürchtet Unternehmer Ling, dass der Brexit beim Export seiner veganen Produkte in die EU zu Ärgernissen führt – nämlich zu Verzögerungen, Kosten und zusätzliche Bürokratie:
"Delay. Cost. Layers of bureaucracy. We are experts in chocolate. We are not experts in delivering products around Europe."
Er sei darauf spezialisiert, Schokolade herzustellen, sagt Ling – und nicht darauf, als dann Nicht-mehr-EU-Mitglied ganz Europa zu beliefern.
Der Brexit wirft also seinen Schatten voraus, in der Autobranche etwa sind die Investitionen bereits gesunken. Noch aber kurbeln vor allem die britischen Konsumenten die Konjunktur an. Die Wirtschaft ist im vergangenen Jahr um 1,8 Prozent gewachsen und damit fast so stark wie die deutsche; für dieses und nächstes Jahr wird zwar kein Boom erwartet, aber auch keine Rezession.
Die abwartende Haltung der Wirtschaft spiegelt auch die jüngste Umfrage der britischen Handelskammer wider, sagt ihr Direktor Adam Marshall:
"Die meisten unserer Mitglieder gucken jetzt nach vorn: Einige sagen uns, sie seien positiv aufgeregt, andere sagen uns, sie seien besorgt. Die Mehrheit will das Ganze auf sich zukommen lassen und sich später an die neuen Gegebenheiten anpassen. Die meisten sagen: 'Damit befasse ich mich, wenn es soweit ist'. Nur die wenigsten spüren jetzt schon Auswirkungen."
Finanzzentrum City of London mit 30 St Mary Axe Hochhaus (the Gherkin)
Finanzzentrum City of London © Daniel Kalker, dpa picture-alliance
Dunkle Wolken sehen jedoch die Banker in der City of London über dem Finanzviertel aufziehen: Verlässt das Land den Binnenmarkt, dann können die Geldhäuser ihre Finanzdienstleistungen nicht mehr ohne Weiteres von Großbritannien aus überall in der EU anbieten. Dieses Privileg wäre futsch.
Aus Notfallplänen werden deshalb Umzugspläne: Tausende, wenn nicht zehntausende Finanz-Jobs könnten wegziehen von der Insel. Auch Barclays-Chef Jes Staley bereitet die britische Großbank darauf vor:
"Wir haben schon eine Tochter-Bank in Irland, wir sind stark im Geschäft in Deutschland. Wir gucken uns also unsere Optionen in Europa an, werden hier und dort ein paar Standorte ausbauen. Unser Headquarter aber wird in London bleiben, dem weiter wichtigsten Finanzplatz Europas - auch ohne den Binnenmarkt."
An der Supermarktkasse müssen die Briten bei etlichen Lebensmitteln bereits den Preis für den Brexit bezahlen, weil der gefallene Pfund-Kurs Importe verteuert und weil internationale Konzerne ihre Profite in Euro und Dollar sichern wollen.
Die Brexit-Befürworter skizzieren gleichwohl unbeirrt eine rosarote Zukunft für die Zeit nach dem EU-Austritt, träumen von neuen Handelsabkommen in aller Welt. Der Milliardär James Dyson, Erfinder des beutellosen Staubsaugers, hat kürzlich angekündigt, in einen neuen Technologie-Park zu investieren. Weil er an die Stärke der britischen Wirtschaft glaubt:
"Um auf dem Weltmarkt zu bestehen, müssen wir neue Technologien und großartige Produkte entwickeln; das wollen wir hier tun. Und weil wir dabei erfolgreich sein werden, können wir unsere Produkte dann überall hin exportieren und profitieren insbesondere von den schnell wachsenden Märkten im Fernen Osten."
Doch ein harter Brexit, inklusive Binnenmarkt-Ausstieg, wird voraussichtlich alle Regionen des Vereinigten Königreichs treffen: die Autobauer in England, die Stahlindustrie in Wales, den Dienstleistungssektor in Nordirland und natürlich die Whisky-Brennereien in Schottland.
Dabei würde doch gerade die pro-europäische Regionalregierung in Edinburgh die Schotten am liebsten wenn schon nicht in der EU, dann wenigstens im Binnenmarkt halten – doch im Moment sieht es nicht danach aus, dass dies klappt.

Kapitel 6: Schotten gegen Brexit, Probleme für Nordirland

Mittwochabend, 8. Februar. Das Unterhaus gibt grünes Licht für den Austritt. Während die Abstimmung läuft, schieben die Schotten Frust und pfeifen die Europahymne. Es ist das Pfeifen im Walde.
Die Schotten wollten in der EU bleiben, 62 Prozent waren dafür. Ihr Parlament in Edinburgh hat im Februar symbolisch gegen den Brexit gestimmt, aber das ist wertlos. Der Supreme Court hat entschieden, dass die Regionalparlamente kein Mitspracherecht haben. Der Brexit-Zug nimmt jetzt Fahrt auf, und die Ansage kommt aus London.
Es sei alles ein bisschen beängstigend, sagt Christa, ungewiss, Besorgnis erregend. Die fünfzigjährige Schottin ist in der Einkaufsstraße von Edinburgh unterwegs, an beiden Händen eine Einkaufstasche. Neben ihr steht James, er ist Immobilienmakler.
"Es ist bedauerlich, dass wir überhaupt in dieser Situation sind. Das wirft unsere Wirtschaft zurück, die Unsicherheit ist vor allem für Märkte wie meinen ein Problem. Das war alles ein großer Fehler."
Molly, 20 Jahre alt, war richtig erschrocken im vergangenen Juni, als das Brexit-Ergebnis kam, das hat bis heute nicht nachgelassen.
"Das ist das erste Mal, dass ich mir um meine Zukunft Sorgen mache. Das waren die älteren, die das entschieden haben, und viele in meinem Alter sind nicht damit einverstanden, aber wir müssen da jetzt durch."
Sieben Monate nach dem EU-Referendum wissen die Schotten nur zweierlei: Sie wollten nicht raus, und jetzt bekommen sie den harten Brexit. Da geht es ihnen wie Nordirland – auch dort waren die Menschen gegen den Ausstieg, auch dort müssen sie ihn jetzt mitgehen. Das wird die größte Herausforderung für die neue Regierung in Belfast.
In Edinburgh, dem Sitz der schottischen Regionalregierung, droht man mit einem neuen Unabhängigkeitsreferendum. Aber immer ist er nur wahrscheinlich, oder noch wahrscheinlicher, oder sehr wahrscheinlich. In Wirklichkeit nämlich ist der Absprung vom britischen Brexit-Zug gar nicht so leicht.
Die wichtigsten Handelsbeziehungen laufen innerhalb Großbritanniens, die Exporte nach England, Wales und Schottland sind doppelt so hoch wie in den Rest der Welt. Kevin, 29 Jahre, arbeitet im Finanzbereich. Ihm liegt daran, dass die Brexit-Verhandlungen nicht zehn Jahre dauern, aber an einem zweiten Unabhängigkeitsreferendum ist er nicht interessiert.
"Ich habe beim letzten Mal klar für Nein gestimmt. Die Regierung hat jetzt natürlich ein paar Argumente mehr, aber meine Geschäfte laufen mit London, und da ist es besser, wir bleiben zusammen. Uns im finanziellen Sektor würde das helfen."
Beim letzten Mal: Das war vor zweieinhalb Jahren. Da haben sich die Schotten klar entschieden, im Vereinigten Königreich zu bleiben, mit 55 zu 45. Die Umfragen sagen, dass sich daran nicht viel geändert hat. Die 70-jährige Eileen findet ein Schottland außerhalb Großbritanniens noch schwerer vorstellbar als ein Schottland außerhalb der EU.
"Ich fand schon beim ersten Mal, dass wir kein Referendum brauchen, und natürlich würde ich nicht für Unabhängigkeit stimmen. Wir wären viel zu ungeschützt. Schottland ist Teil des Vereinigten Königreichs. Es würde so viel verlieren. So viel Geschichte."
Ein Schild mit der Aufschrift "Willkommen in Schottland" steht auf einem Parkplatz der A1 an der englisch-schottischen Grenze in der Nähe von Berwick-upon-Tweed.
Noch ist die Grenze zwischen England und Schottland eine innerhalb des Vereinigten Königreichs.© dpa / Jens Dudziak
Michael Russell freut sich über den schottischen Stolz, hat aber die Erfahrung gemacht, dass das in London nicht viel wert ist. Er ist der Brexit-Minister der schottischen Regierung und deshalb ständig in London. Für die Regierung dort sei Schottland kein Partner auf Augenhöhe, sagt Russell.
"Absolut nicht. Jeder, der wie ich in London für schottische Interessen verhandelt, weiß das. Trotz aller Versprechungen, die uns beim Unabhängigkeitsreferendum gemacht wurden: dass wir das machtvollste Regionalparlament der Welt sein würden und dass wir eng zusammenarbeiten würden. Nichts davon ist passiert. Die beinharte Tory-Regierung folgt einem Weg, der ein Desaster für Schottland sein wird."
Allerdings halten viele Experten die schottische Wirtschaft auch nicht für allein überlebensfähig. Das jährliche Defizit liegt bei 15 Milliarden Pfund. Brexit-Minister Russell sagt allerdings auch: Der Brexit macht das nicht besser.
"Es mag ein oder zwei Bereiche geben wie zum Beispiel die Fischindustrie, denen es vielleicht besser gehen wird. Aber den meisten wird es sehr viel schlechter gehen. In Wissenschaft und Forschung zum Beispiel, unserem drittgrößte Zweig, aber auch unser Finanzbereich ist sehr besorgt, die Agrarindustrie, und der technische Sektor."
An die anderen Europäer habe er nur einen Wunsch: Denkt an uns, dass wir Schotten in der EU bleiben wollen, und behaltet das im Hinterkopf, wenn die Dinge vorangehen.

Kapitel 7: Quo vadis, EU?

Sie ist eine Sisyphos-Aufgabe. Und Jean-Claude Juncker hat sie sich zwangsläufig zu eigen gemacht: die Neudefinition der EU in den Zeiten des Brexit. Der EU-Ausstieg der Briten zwingt die Union der 27, sich selbst und ihre Zusammenarbeit neu zu definieren.
"Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen", schrieb einst der französische Schriftsteller Albert Camus. Doch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wirkt alles andere als glücklich, als er vor dem EU-Parlament in Brüssel angesichts des näher rückenden EU-Scheidungsantrags von Theresa May prophezeit:
"Der Brexit- so bedauerlich und schmerzhaft er auch sein mag - wird die Europäische Union auf ihrem Marsch in die Zukunft nicht stoppen können."
Geradezu beschwörend fügt Juncker an die EU-Abgeordneten hinzu:
"Wir machen weiter. Wir müssen weitermachen."
Doch der Applaus der Abgeordneten kann nicht übertönen, wie gequält Junkers Durchhalteappell klingt. Der EU-Kommissionspräsident hat sich selbst und damit sein Team bereits vor dem Beginn der Brexit-Verhandlungen mit London geschwächt. Indem er nur zwei Jahre nach seinem Amtsantritt wiederholt davon spricht, auf keinen Fall eine zweite Amtszeit anzustreben:
"Wenn Sie eine Woche hier wären, würden Sie hier nach zwei Wochen aufhören."
Der EU-Kommissionschef sagt der britischen Gegenseite bereits jetzt einen entscheidenden strategischen Sieg voraus: Die Briten werden es nach Junckers Einschätzung schaffen, die EU-Staaten auseinander zu dividieren. Und zwar ohne große Anstrengung. Nach der Devise "Teile und herrsche" betont der Chef der EU-Kommission in Brüssel.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim EU-Gipfel im März 2017.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker beim EU-Gipfel im März 2017.© JOHN THYS / AFP
Die May-Regierung werde verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten verschiedene Versprechungen machen. Eine simple Taktik, welche der EU allerdings nach Einschätzung ihres Kommissionspräsidenten noch nicht klar ist. Niemand in Brüssel redet die EU in dieser entscheidenden Phase vor dem Brexit-Verhandlungsbeginn kleiner als Jean-Claude Juncker. Auch wenn er in seinen offiziellen Reden behauptet:
"Die Europäische Union ist in ihrem Bestand nicht gefährdet."
Gefährdet sind allerdings die Brexit-Verhandlungen - und zwar, wenn Brüssel die Gegenseite zu schnell mit konkreten Milliardenbeträgen konfrontiert. Aus Kommissionssicht steht zwar fest: Großbritannien muss auch nach seinem dem Austritt mit Milliardensummen für eingegangene Pensionsverpflichtungen aufkommen und für bestimmte Projekte, die es vor seinem Austritt mit beschlossen hat.
Damit der Rosenkrieg nicht eskaliert. Und die Briten nicht schon nach kurzer Zeit die Scheidungsverhandlungen abbrechen, will Junckers Unterhändler Michel Barnier allerdings verhindern, dass zu einem frühen Zeitpunkt bereits konkrete Summen genannt werden, die dann auf den Titelseiten der britischen Boulevardpresse prangen.
Eine Illusion will die EU-Kommission nach der intensiven Lektüre der Wiener Vertragskonvention den Briten allerdings sehr schnell nehmen: dass ihnen aufgrund ihrer hohen Netto-Beitragszahlungen zum EU-Haushalt ein Achtel des EU-Vermögens zusteht - darunter 5000 Flaschen edler Weine.

Kapitel 8: Lord Kerr: Der Autor des Artikel 50 hat es so nicht gewollt

Lord Kerr steht auf der Terrasse des ehrwürdigen Palastes von Westminster, der die beiden Häuser des britischen Parlaments beherbergt. Hinter ihm die bröckelnde Fassade des Palastes, vor ihm die Themse, auf dem die Ausflugsschiffe der Touristen mal gegen die Flut und mal gegen die Ebbe kreuzen.
Der 75 Jahre alte Ex-Diplomat hat feuchte Augen, als er sagt, er habe niemals gedacht, dass die Briten den Artikel 50 des Lissabon-Vertrages als Erste nutzen würden, um aus der Europäischen Union auszutreten:
"It didn’t occur to me that we would be the ones who would use the procedure but there we go."
Lord Kerr kennt den Artikel 50 ziemlich gut. Denn er war es, der den ersten Entwurf dieses Artikels geschrieben hat, damals am Küchentisch zu Hause. Premierminister Tony Blair hatte den bereits pensionierten Diplomaten einst in den aktiven Dienst zurück gerufen. Er wurde Generalsekretär der Verhandlungen über eine Verfassung der EU, aus der dann später der Lissabon-Vertrag wurde, einschließlich des jetzt so berühmten Artikels 50.
Zuvor gab es nur Regelungen für den Eintritt in die EU, nicht aber für den Austritt. Mit dem neuen Artikel 50 wollte man die freiwillige Natur der Union betonen, sagt Lord Kerr:
"Ich hatte damals an Umstände gedacht, wenn es zum Beispiel einen Militärputsch in einem Mitgliedsland geben sollte, wie einst in Griechenland. Die EU kann dann bestimmte Rechte dieses Landes einfrieren. Aber es kann eben auch sein, dass der Diktator dieses Landes sagt, es reicht mir jetzt, ich will raus. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, wenn wir eine Prozedur festschreiben, für den Fall, dass jemand die EU verlassen will."
Deshalb also steht heute die von dem Briten Lord Kerr entworfene Austrittsklausel im Lissabon-Vertrag. Jetzt sind ausgerechnet seine Landsleute die ersten, die den Artikel 50 in Kraft setzen. Und es ist keine Diktatur, die die EU verlässt, sondern die älteste Demokratie der Welt. Das habe er nicht gewollt, sagt der erfahrene Diplomat, der heute im britischen Oberhaus sitzt, mit einem Anflug von Trauer.
"I think it is a mistake for the country that we are going to leave."
Sein Land mache hier einen Fehler, wenn es jetzt die EU verlasse – so der Erfinder des Artikel 50.
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