Brexit für Iren und Nordiren

Comeback der Schlagbäume?

In Londonderry erinnern Wandgemälde an den "Bloody Sunday".
In Londonderry erinnern Wandgemälde an den "Bloody Sunday". © dpa / picture alliance / Michael Hanschke
Von Friedbert Meurer · 26.01.2017
Die Nordiren haben mit 56 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt. Trotzdem sind sie Teil des Brexit. Das schürt Ängste vor Grenzen in der Gesellschaft. Wirtschaftlich könnte Irland dagegen profitieren.
Ein Café im nordirischen Londonderry. Vom Fenster aus hat man einen Blick auf die Straße, die zur Republik Irland führt. Die Grenze ist keine zwei Kilometer entfernt. Jennifer McKeever, Anfang 40, gehört ein Busunternehmen, das Geschäftsleute und Touristen stündlich von den beiden Flughäfen der Hauptstadt Belfasts hierher fährt.
Mit seiner hübschen Altstadt ist Londonderry ein attraktives Ziel für Touristen geworden, seitdem die "Troubles", die blutigen Unruhen, der Vergangenheit angehören.
"Die Fahrt von Belfast hierher dauert eineinhalb Stunden. Weiter sind es dann nur eine Stunde zum Giant`s Causeway, der Touristenattraktion mit den Basaltsäulen am Meer, die zu Nordirland gehört. Auf der anderen Seite der Grenze in Donegal - auch nur eine Stunde Fahrt entfernt – sind die großen Golfplätze. In dem Moment, in dem sie das voneinander trennen, kommen weniger Touristen."
Londonderry – wohl ein Opfer eines vollständigen Brexits. Das weiß auch die britische Premierministerin Theresa May. Deshalb steht auf ihrer 12-Punkte-Liste, dass es zwischen Nordirland und Irland weiter keine sichtbare Grenze geben soll, auch keine Zollkontrollen. Jennifer McKeever glaubt nicht daran:
"Wie soll es denn keine harte Grenze geben, wenn es in dem Referendum rhetorisch so viel um die Kontrolle von Einwanderung ging? Wir verstehen nicht, wie man dann einfach über die Grenze gehen können soll, ohne es zu merken. Genau das würden die Leute tun können."

Schlagbäume gibt es keine

Es herrscht viel Verkehr an der Grenze zwischen dem nordirischen Londonderry und der Republik Irland. Schlagbäume gibt es keine. Es regnet in Strömen und George Fleming, Anfang 60, steht mit seinem Regenschirm genau da, wo er früher als Kind im Schulbus jeden Morgen kontrolliert wurde. Er ist Ire, ging aber in Nordirland zur Schule.
"Unser Schulbus hielt in den 70er und 80er Jahren erst auf der Seite der Republik an. Wir bekamen einen Stempel in ein Buch, jeden Tag einen. In Derry mussten wir dann durchs Katholikenviertel zu meiner protestantischen Schule. Und nach der Schule dann das gleiche noch einmal."
Es fällt heute kaum mehr auf, dass hier eine Staatsgrenze verläuft - wenn da nicht das gelbe Plakat wäre. "Grenzgemeinden gegen den Brexit" steht darauf und "Respektiert unser Votum für Remain", also für die EU. Fast 80 Prozent in Derry, wie es die nordirischen Nationalisten nennen, haben gegen den Brexit gestimmt. Der Ire George Flemming lebt heute in Nordirland und hat eine Firma, die landwirtschaftliche Maschinen verkauft.
"Meine Mitarbeiter fahren heute jeden Tag über die Grenze. Wenn es hier wieder eine harte Grenze geben sollte, müssen wir mit täglich zwei Stunden Wartezeit rechnen. Das ist schlecht für meine Leute und für unser Geschäft über die Grenze hinweg."

"Das wäre das Ende des grenzüberschreitenden Handels"

Im Zentrum Londonderrys befindet sich das Büro der Handelskammer. Einige Mitglieder diskutieren die Folgen des Brexit. Gareth Patterson hat seinen Betrieb in Irland, er verkauft Saatgut und Futtermittel. Er fürchtet zwar nicht, dass es wieder zu Personenkontrollen kommt, aber zu Stichproben, wenn neue Zölle gelten.
"An der Grenze wären Zölle in meiner Branche ein Handelshemmnis. Unsere Margen sind sehr gering, das wäre das Ende des grenzüberschreitenden Handels."
London beteuert, man wolle trotz Brexit-Zölle gegenüber Irland verhindern – oder es fänden sich moderne technische Lösungen. Alle hier im Raum aber machen sich Sorgen wegen möglicher Zölle. In der Region hier könne es nach einem Brexit wieder zu alten Zollschmuggel-Zeiten kommen.
Neben der Handelskammer liegen die 400 Jahre alte und komplett erhaltene Stadtmauer von Londonderry und die "Peace Lines", die sogenannten Friedensmauern. Hinter dem River Foyle zeigt mir George Fleming die katholische Bogside. Eine Garage ist schwarz angemalt mit weißem Schriftzug: "Wir geben nicht auf, wir werden weiter belagert."
"Früher war auf der Mauer Stacheldraht. Es flogen Steine und mit Benzin gefüllte Flaschen von dieser Seite zu der der Unionisten. Wir sind hier in der Fountain Area der Protestanten und da unten liegt die Bogside."

"Am Ende fangen die Unruhen wieder an"

Die Bogside ist das Wohngebiet der Katholiken, hier ereignete sich der Bloody Sunday, der Blutsonntag von 1972, als britische Soldaten 13 Demonstranten erschossen. Sinead McLaughlin, Chefin der Handelskammer, stimmt George Fleming zu. Es habe sich jetzt viel geändert gegenüber früher.
"99 Prozent der Zeit leben beide Seiten friedlich miteinander. Ärger gibt es nur, wenn sie bei den Paraden im Juli und August der Belagerung Derrys vor 400 Jahren gedenken."
Londonderry, einst ein Zentrum der Gewalt, blüht wieder auf. Der bevorstehende Brexit aber wirft einen Schatten auf die Zukunft der Stadt. Der Ire George Fleming hat während seiner Schulzeit x-mal einen Bombenalarm erlebt, die Schule wurde immer wieder evakuiert. Dass es jetzt so friedlich sei, halte man heute für selbstverständlich. Aber das könne sich ändern – wegen des Brexit. Davor hat er Angst.
"Wenn wieder Polizisten an der Grenze stehen, dann sehen das bestimmte Elemente als sektiererisch an. Checkpoints würden das Überqueren der Grenze schwermachen. Und am Ende fangen die Unruhen wieder an."
Das Verhältnis von Katholiken und Protestanten in Nordirland ist trotz der derzeitigen Ruhe fragil. Und die katholisch Partei Sinn Féin sprach nach dem Brexit-Votum sogar von einer Wiedervereinigung mit Irland. Politische Mehrheiten gibt es dafür nicht momentan. Die Iren wissen, dass Nordirland ein Hochsubventionsgebiet ist.

"Wir wollen keine harte Grenze entstehen sehen"

Etwa zwölf Milliarden Euro fließen jedes Jahr aus dem britischen Steuertöpfen nach Nordirland. Dazu kommt eine Milliarde von der Europäischen Union. Fallen die zwölf Milliarden Euro aus dem Vereinigten Königreich weg, könnte Irland und die EU die Lücke nicht gleichermaßen füllen.
Und so versucht der irische Ministerpräsident Enda Kenny das beste aus dem Brexit für sein Land zu machen. Bei einem Fest der deutsch-irischen Handelskammer in Dublin meinte er:
"Ich habe mich mit Premierministerin Theresa May auf zwei Grundsätze geeinigt. Wir wollen keine harte Grenze entstehen sehen, wie es sie früher einmal gab. Zweitens soll es keine Einschränkung für den gemeinsamen Grenzraum zwischen der Republik Irland, Nordirland und dem Vereinigten Königreich geben."
Die Innenstadt von Dublin.
Die Innenstadt von Dublin.© picture-alliance / dpa / Frank Baumgart
Den gemeinsamen Grenzraum zwischen den beiden Nachbarstaaten gibt es schon sehr lange, seit 1923. Ein Jahr zuvor war Irland unabhängig geworden. Iren können frei nach Großbritannien reisen, dort arbeiten und umgekehrt. Dank des gemeinsamen Grenzraums sind sich Iren und Briten trotz mancher Ressentiments sehr nahe. Es ist normal für Iren, in Großbritannien zu arbeiten. Wenn sie dort leben, dürfen sie sogar mitwählen bei den Unterhauswahlen – oder bei einem Referendum wie das zum Brexit am 23. Juni.
Die britische Premierministerin May hebt denn auch bei ihrer jüngsten Brexit-Rede das Ziel hervor, dass sich zwischen Großbritannien und Irland möglichst nichts ändern soll.
"Nach einem Brexit werden wir weiter eine Landgrenze zur EU – also zu Irland - haben. Wir wollen den gemeinsamen Raum mit der Republik Irland unbedingt erhalten. Dafür werden wir eine praktische Lösung erarbeiten, die die Integrität unseres Systems der Einwanderung sichert."

"Keinen Grund zur Annahme, dass sie das illegal tun wollen"

London wünscht sich also keine Grenzkontrollen zur Republik Irland, wenn das eine Land weiter der EU angehört, das andere nicht mehr. Dem müsste die EU zustimmen. Gleichzeitig soll zudem sichergestellt werden, dass niemand über Irland nach Großbritannien einwandert. Aber auch der irische Botschafter in London, Dan Mulhall, glaubt, dass das möglich ist.
"Es gibt keinen Grund, dass jemand über Irland nach Großbritannien einreisen will, um dort illegal zu arbeiten. Die meisten EU-Bürger wollen doch auf einer legalen Basis arbeiten. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sie das illegal tun wollen."
Die Iren sind dennoch alles andere als glücklich mit der Ankündigung Theresa Mays, dass Großbritannien den EU-Binnenmarkt verlassen will. Regierungschef Enda Kenny vertraut zwar den Zusagen seiner Amtskollegin in London, sich für einen freien Warenverkehr zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich einzusetzen.
"Wenn Großbritannien den Binnenmarkt verlässt, dann ist das eine große Sache und eine politische Herausforderung, die wir meistern müssen. Aber weder die Iren noch die Nordiren werden eine Grenze wie früher akzeptieren."
Neben der Einwanderung erschwert die Frage von Zöllen den Wunsch beider Seiten, den gemeinsamen Grenzraum uneingeschränkt zu erhalten. Vor allem für die irische Landwirtschaft wäre es eine Katastrophe, wenn ihre Erzeugnisse bei der Einfuhr nach Großbritannien verzollt werden müssten. Der deutsche Wissenschaftler Edgar Morgenroth arbeitet am irischen Wirtschaftsinstituts ESRI und warnt.
"Es sind einzelne Sektoren, die nach unserer Analyse mehr befallen sein würden. Landwirtschaft und Lebensmittel vor allem, weil da die Zölle besonders hoch sind. Aber auch andere Sektoren, traditionelles Gewerbe wie leichte Ingenieurarbeiten z.B., haben auch einen sehr hohen Zoll und würden deshalb sicherlich schwer betroffen sein."

"Ich fühlte mich betrogen"

Die britische Premierministerin Theresa May hat in ihrer Rede angekündigt, dass man die Zollunion mit der EU verlassen, aber assoziiertes Mitglied sein will. Die Briten wollen also möglichst zollfreien Handel mit der EU und erst recht mit Irland. Auch hier gibt sich die irische Regierung optimistisch. Eoghan Murphy ist Staatssekretär im irischen Finanzministerium.
"Wenn Großbritannien die Zollunion verlässt, muss das nicht bedeuten, dass es zu einer physisch harten Grenze zwischen Irland und Nordirland kommt. Wenn sie sich die verschiedenen Technologien anschauen, mit denen man Zölle heute erheben kann, dann bedarf es keiner Checkpoints. Es hilft, wenn das beide Seiten verstehen."
Die irische Regierung hält sich mit Kritik an London öffentlich zurück. Redet man aber z.B. mit dem irischen Europaabgeordneten, Brian Hayes, einem konservativen Parteifreund von Regierungschef Enda Kenny, dann wird der Unmut deutlich.
"Ich war am Morgen nach dem Referendum sehr verärgert, dass sie diese Entscheidung getroffen haben, und fühlte mich betrogen. Als kleines Land haben wir ein sehr enges Verhältnis zu Großbritannien. Ich war verärgert und hatte das Gefühl, dass man uns fallen lässt. Unser Bruttosozialprodukt wird aber in zehn Jahren um drei Prozent geringer sein als das ohne den Brexit der Fall wäre. Mit einem harten Brexit wird unser Comeback nach der Finanzkrise erschwert."
Brian Hayes beruft sich auf die Berechnungen des irischen Wirtschaftsinstituts ESRI. Ermittelt hat die Zahlen Edgar Morgenroth.
"Das Bruttoinlandprodukt würde nach zehn Jahren ungefähr 3,8 Prozent niedriger sein. Das haben wir errechnet mit einem makroökonomischen Modell. Wir haben hier aber nur die Handelseinflüsse mit einberechnet. Wir haben die sehr enge Beziehung im Arbeitsmarkt mit Großbritannien in dieser Analyse nicht berücksichtigt."
Es gibt aber auch eine andere Seite der Medaille: wenn als Folge des Brexit Arbeitsplätze aus Großbritannien abwandern, v.a. aus London, steht Dublin in den Startlöchern, versichert Ministerpräsident Enda Kenny:
"Wir haben einige Anfragen aus London. Wir haben uns dafür beworben, dass die Europäische Bankenaufsicht und die Europäische Arzneimittelagentur von London nach Irland verlegt werden. Die Banken in London finden hier einen Zugang zum Binnenmarkt und zum Pool qualifizierter Mitarbeiter aus Europa."

Nach dem Brexit der Irexit?

Neben den Risiken für Irland bringt der Brexit also auch Chancen. Martin Shanahan leitet die irische Investitionsagentur IDA, die ausländische Firmen anlocken soll.
"Es gibt eine ganze Reihe von Anziehungspunkten. Wir sind beim Anwerben ausländischer Investitionen sehr erfolgreich. Wichtig ist, dass wir Englisch sprechen und unser ähnliches Rechtssystem für den Finanzsektor sehr entscheidend ist. Hier arbeiten viele talentierte EU-Bürger. Der Technologiesektor ist stark und für die Finanzbranche immer wichtiger."
Wirtschaftsexperte Edgar Morgenroth räumt ein, dass bei seinem Modell, wonach die irische Wirtschaft um 3,8 Prozent nach dem Brexit schrumpft, der Aspekt neuer ausländischer Investitionen nicht einberechnet ist. Und auch der Europaabgeordnete Brian Hayes, der sonst den Brexit so vehement ablehnt, gibt zu, dass der Ausstieg Großbritanniens aus der EU für Irland auch seine guten Seiten haben könnte.
"Wir werden das einzige EU-Mitglied auf den britischen Inseln sein. Wir bekommen da einige Chancen als englischsprachiges Land geboten. Es werden viele Entscheidungen über Investitionen getroffen, die von London nach Irland kommen könnten."
Die Unternehmer, die am Empfang der deutsch-irischen Handelskammer teilnahmen, blicken ebenfalls nicht pessimistisch in die Zukunft. Schwierig werde es für kleine und mittlere irische Unternehmen, heißt es, die von Großbritannien abhängig sind. Gerade die Mitgliedschaft in der EU hat Irland aber geholfen, sich etwas von dieser Abhängigkeit zu lösen.
Deswegen wird eine spektakulär anmutende Variante vehement abgelehnt: der "Irexit" – also dass auch Irland die EU verlässt. In einer Studie der Handelskammer in Dublin wird dieses Modell nicht ausgeschlossen für den Fall, dass ein knallharter Brexit den Iren geradezu die Pistole auf die Brust setzt.
"Wäre es nicht für Irland am besten, wenn Sie Großbritanniens Brexit folgen mit einem Irexit?"
fragte kürzlich der britische UKIP-Abgeordnete David Coburn im Europaparlament. Die liberale irische Abgeordnete Marian Harkin, an die die Frage gerichtet war, lehnte dankend ab.
"Die EU hat ihre Herausforderungen. Aber der Zugang zum EU-Binnenmarkt hilft, um wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Ich stimme deswegen einem Irexit nicht zu."
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