Brennpunkt Odessa

Aids in der Ukraine

Kostenloser Aidstest bei der Hilfsorganisation "Daróga k domu" (Der Weg nach Hause) in Odessa
Kostenloser Aidstest bei der Hilfsorganisation "Daróga k domu" (Der Weg nach Hause) in Odessa © Deutschlandradio / Joachim Baumann
Von Joachim Baumann · 08.02.2015
In der ukrainischen Stadt Odessa leben 70.000 HIV-Infizierte - fast genauso viele wie in ganz Deutschland. Der Staat ist überfordert. Eine Hilfsorganisation kümmert sich mit bescheidenen Mitteln um die Bedürftigen: neben den Aidskranken auch um Drogenabhängige, Flüchtlinge und Straßenkinder.
Sweta: "Ich spritze schon seit acht Jahren. Ich hab damit begonnen, als ich meine Eltern verlor, hab auf der Straße gelebt... Ich habe so ziemlich alles genommen,... dann saß ich vier Jahre mit kaputten Beinen im Rollstuhl, ... die Injektionen, ... aber ich hab versucht, nicht aufzugeben, hab Gitarre gespielt, Klavier und Akkordeon. Ich muss jetzt einfach auf mich aufpassen, zumal ich im 5. Monat schwanger bin."
Odessa, Prospekt Schewtschenko, Außenstelle der nichtstaatlichen Hilfsorganisation "Daróga k domu" – "Der Weg nach Hause". Es ist Dezember 2014.
In einem improvisierten Krankenzimmer sitzt Sweta, dunkle Pudelmütze, langes rotblondes Haar, Bluejeans, graue Fellstiefel. Sie ist Anfang zwanzig, drogenabhängig, ihr Schwangerschaftsbauch wölbt sich über einem grünen Kapuzenpulli. Es besteht der Verdacht auf Aids. Sie ist hergekommen, um das zu klären. Dazu macht eine medizinisch ausgebildete, freiwillige Helferin einen speziellen Schnelltest als erste Untersuchung. Er beginnt mit einem kleinen Pieks in die Fingerkuppe.
Krankenschwester: "Das hier ist also ein Test auf Hepatitis b + c, hiv und Siphilis. ... in zehn Minuten haben wir ein Resultat. Die Prozedur ist nicht schmerzhaft, je ein Tropfen Blut reicht. Die Treffsicherheit beträgt 99 Prozent. So in diese Vertiefung kommt jetzt das Reaktiv.
Schauen sie hier auf die Teststreifen... die geben den Status an. Hier sieht man am 2. Streifen: es gibt hiv-Antikörper und hier daneben.... Man muss noch etwas warten, das ist die Indikation auf Hepatitis c, da ist auch schon ein Streifen zu sehen...es gibt Antikörper zu dieser Infektion."
Sweta bleibt ganz ruhig, sie ist nicht schockiert über das Resultat. Ein früherer Test hat sich nur bestätigt. Später wird in einem Speziallabor Blut aus der Vene genommen und untersucht. Bei positivem Befund kann ihre weitere Behandlung in einem Aids-Zentrum in Odessa erfolgen.
Sweta: "Das Zentrum hier ist sehr gut, gerade für Drogenabhängige. Wissen sie, wenn dieses Zentrum hier nicht wäre, ich wüsste gar nicht, dass ich infiziert bin."
Glück im Unglück
Sweta ist dankbar, denn es gibt nicht viel Hilfe in Odessa – weder für die vielen Drogenabhängigen, noch für all die anderen Bedürftigen, die in der Hafenstadt am Schwarzen Meer stranden. Flüchtlinge aus der Ostukraine, auch von der Krim suchen in Odessa Schutz. Viele landen auf der Straße, auch viele Kinder.
Sweta hat Glück im Unglück, weil sie bei "Daróga k domu" untersucht und behandelt wird.
Die Zentrale der NGO befindet sich in der Sophienstraße Nr.10, nicht weit vom Zentrum der Stadt. Der Präsident der Organisation, Sergej Kostin, macht sich Sorgen um die weiteren finanziellen Mittel. Es reicht vorne und hinten nicht.
Der Krieg in der Ostukraine verschärft die Situation. Wohltätigkeitsorganisationen kürzen ihre Hilfe drastisch, Geschäftsleute, ehemals Sponsoren, gehen Pleite.
Sergej Kostin: "Unser Budget war für 25 Leute nur hier veranschlagt, mittlerweile sind es 54. Wir müssen sie mit Essen versorgen, manche bekommen Kleidung. Die Lage ist angespannt. Wir sind da der Caritas Deutschland dankbar, die uns sehr unterstützen, insbesondere für die Flüchtlinge. Wir arbeiten auch mit einer Schweizer Hilfsorganisation zusammen und mit Unicef. Auch von denen kommt weniger, viele Mittel gehen in die Ostukraine."
Hilfsbereit, offen und sympathisch wirkt der 50-Jährige in seinem Büro. Doch was heißt schon Büro? Es ist der Eingangsbereich, ein besserer Flur, rechterhand eine durchgesessene Ledercouch, daneben ein alter Schreibtisch.
Schild am Tor der Hilfsorganisation Daróga k domu (Der Weg nach Hause) in Odessa
Schild am Tor der Hilfsorganisation Daróga k domu (Der Weg nach Hause) in Odessa © Deutschlandradio / Joachim Baumann
Im hinteren Bereich noch zwei Tische, an denen Mitarbeiterinnen vor ihren Computern sitzen, telefonieren oder Dokumente durchsehen. Eine offene Tür führt in weitere Räume. Es ist ein stetes Kommen und Gehen.
Sergej Kostin: Wir haben unsere Arbeit 1996 begonnen, nach dem Zerfall der Sowjetunion. Es gab damals sehr viele erwachsene Obdachlose, und wir begannen diese Gruppe zu unterstützen. Sehr viele Obdachlose waren HIV-infiziert und wir haben entsprechende Programme zur Aids-Prävention entwickelt. Etwas später, um das Jahr 2000, wurden auch die Straßenkinder in unsere Arbeit einbezogen. Aktuell kommen jetzt noch Flüchtlinge aus der Ostukraine dazu, es sind nicht wenige und wir sind eine professionelle Organisation, die ihnen helfen kann."
Aber es fehlt das Geld. Odessa gilt in Europa als die Stadt mit der höchsten AIDS-Rate. Rund 70.000 mit dem Virus Infizierte soll es in der eine Million Einwohner zählenden Stadt geben. Zum Vergleich: in ganz Deutschland sind es ca. 80.000 im Moment.
Wie kommt das?
Sergej Kostin: "Hier ist der Hafen, es gab schon immer zahlreiche Frauen im kommerziellen Sexgewerbe, viele Drogenabhängige. Also diese Gründe führten dazu, dass so um 1995 Aids die hiesige Drogenszene erreichte. Da gab es dann einen großen Sprung in der Infektionsrate. In dieser Zeit waren ca. 80% der Drogensüchtigen hiv+. Heute sind es unter 50%. Das zeigt mir, dass unsere Programme zur hiv-Prävention wirksam sind."
Sergej Kostin schaut zu einer Mitarbeiterin. Valja bittet zu einem kleinen Rundgang.
Valja: "Das hier ist das Rehabilitationszentrum für Krisenkinder von zehn bis 18 Jahren, hier sind jetzt aber auch Flüchtlinge aus der Ostukraine untergebracht, vorwiegend aus den Gebieten von Donezk und Lugansk, anfänglich waren es nur Kinder, jetzt aber auch Eltern mit Kindern."
Sie kommen aus den Gebieten der Antiterror-Operationen. Es sind Menschen, die keine Arbeit mehr haben, die ohne Licht und Gas leben müssen, sich kein Essen kaufen können und in ihren Kellern leben, da ständig geschossen wird.
Früher eine Unterkunft für Arbeiter
Valja ist seit vielen Jahren schon Mitarbeiterin der Hilfsorganisation. Die Räume befinden sich über dem Bürotrakt - das Gebäude war früher eine Unterkunft für Angestellte einer kleinen Textilfabrik. Jedes Zimmer bietet Platz für drei Personen. Sie sind nur spärlich ausgestattet, Betten, ein kleiner Kleiderschrank,... kein Tisch, keine Stühle.
Valja: "Hier ist ein 2-Bett-Zimmer, aber wir haben noch ein drittes dazugestellt. Jedes Zimmer hat einen Tagesplan der Veranstaltungen und den Stundenplan der Schule. Nach Schulschluss kommen die Kinder hierher, ziehen sich um, gehen Mittagessen und können sich dann in den anderen Einrichtungen im Objekt beschäftigen. Das zeig ich dann später."
Wir treten in eines der Zimmer ein. Hier wohnt eine Frau mit ihren zwei Kindern, das Mädchen 12, der Junge sechs. Er hat eine rote Winterjacke an, es ist nur notdürftig geheizt. Die Mutter der Kinder sitzt auf dem Bett, auch sie hat einen Anorak übergestreift. Die Familie kommt aus Donezk.
Frau aus Donezk: "Natürlich ist es schwer dort, da passieren Dinge, einfach schrecklich. Wir haben in der Nähe von Donezk gelebt, 40 Minuten mit dem Bus bis zur Stadt. Es wurde immer schlimmer. Du weißt nicht was dich erwartet, wer dich erwartet, wann geschossen wird."
Weiß sie, wer da schießt?
Frau aus Donezk: "Ich kann das nicht mal sagen, und es will einfach nicht in meinen Kopf: Was sind das für Menschen, die auf andere schießen, auf Alte, auf Kinder...ehrlich, ich hab mich grad vorhin mit einer Bekannten unterhalten und wir haben uns gefragt, wie das alles angefangen hat. Und es ist genauso unverständlich, wie es weitergehen wird. Man sitz da und denkt; mein Gott, wann hört das endlich auf, es ist einfach alles so schrecklich."
Im Gebäude nebenan gibt es sozialpädagogische und therapeutische Zentren, insbesondere für kleinere Kinder und heranwachsende Jugendliche. Es sind Kinder aus armen Familien, Straßenkinder ohne zuhause und seit Sommer eben Kinder aus der Ostukraine. Gleich im ersten Raum stürmen die Kleinen auf die Mitarbeiterin Valja und den Reporter zu, zeigen stolz ihre ausgemalten Bilder. Ich bekomme gleich zwei geschenkt. Tierzeichnungen.
Valja: "In diesen Räumen schlafen und essen die Kinder, spielen, es gibt Tanz- und Englischkurse, sie können Musik machen, Psychologen beschäftigen sich mit ihnen. Die größeren Jungs haben eine Fußballmannschaft die Mädchen eine Cheerleadergruppe."
Die Betreuung der Kinder übernehmen Ehrenamtliche, vieles was an Material gebraucht wird, z.B. für Bastelarbeiten, kommt von Privatpersonen oder kleineren Firmen aus der Stadt. Dieses "Sponsoring" ist sehr wichtig, denn die Mittel für die Hilfsorganisation sind permanent knapp – trotz Unterstützung von internationalen Organisationen wie Unicef oder Rotes Kreuz.
Am nächsten Tag ergibt sich die Gelegenheit für einen Besuch des Gemeinschaftszentrums für schwer Drogenabhängige. Treffpunkt ist die Adresse in der Sofienstraße.
Anfang Dezember war schon immer die ungemütlichste Jahreszeit in Odessa, auch diesmal: nasskalt, Temperaturen um den Gefrierpunkt, erster Schneematsch. Sogar auf der Prachtstraße im Zentrum, der "Deribássovskaya", sind die Wege rutschig.
Deutsche Freiwillige unterstützen Hilfsorganisation
Von hier bis zur Zentrale der NGO sind es nur 15 Minuten Fußweg. Ich gönne mir einen kleinen Umweg, um am Denkmal der russischen Zarin "Katharina die Große" vorbeizugehen. Sie gilt als Gründerin von Odessa, das war 1794. Von dem monumentalen Denkmal sind es nur ein paar Schritte bis zur berühmten Potiomkin-Treppe, weiter geht es dann oberhalb des Hafens zum Schloss des Fürsten Woronzow, dann noch ein kleiner Abstecher zur international renommierten Stoljarski-Musikschule. Hier wirkten Musiker wie die weltberühmten Violinisten David Oistrach und Nathan Milstein.
Angekommen. Sophienstraße 10, ein großer Toreingang führt auf den Hinterhof. Ein gelbes Metallschild mit grüner Aufschrift in Russisch zeigt mir, dass ich richtig bin: "Der Weg nach Hause - Odessaer Wohltätigkeitsfond"
Ich bin pünktlich um zehn Uhr da. Ein giftgrüner Kleinbus wartet schon. Am Fenster klebt ein großer Zettel, weiß mit rotem Punkt – ein Überbleibsel einer japanischen Delegation, die vor zwei Monaten die Hilfsorganisation besuchte. Zu meiner Überraschung kommen auch zwei junge Deutsche mit, Emma und David. Beide Freiwillige im Zentrum "Daróga k domu"
Emma: "Ich bin jetzt seit September in Odessa. Ich wollte ein freiwilliges soziales Jahr machen im Ausland und da hab ich mich für Aktion Sühnezeichen entschieden und da hat mir diese Projekt bei "the way home" am besten gefallen. Die Ukraine fanden wir auch total spannend, auch in dieser Situation."
David: "Wenn man sich nicht in den Nachrichten informiert, dann bekommt man auch nicht viel mit, auch vom Krieg nicht, also auf der Straße oder so, das ist mein Eindruck."
Emma: "Wir konnten beide vorher gar kein russisch, wir hatten vorher in Berlin n Sprachkurs so zwei Wochen, von Aktion Sühnezeichen organisiert. Den Rest haben wir uns selbst beigebracht vom Hören. Ist echt ne schwierige Sprache, aber ich hab das Gefühl, langsam wird es n bisschen besser."
David: "Wir hatten zwei, drei Wochen Sprachunterricht bei einer Flüchtlingsfrau aus Lugansk, der hat man schon angemerkt, dass sie was Schlimmes erlebt hat, man hat gemerkt, dass sie mit den Gedanken ganz woanders war, durcheinander, das hat man deutlich gespürt."
Die beiden deutschen Freiwilligen helfen hauptsächlich im Kindergarten und packen ansonsten da an, wo sie gebraucht werden. Zum Beispiel im Gemeinschaftszentrum für schwer Drogenabhängige. Das entpuppt sich als ein etwas heruntergekommenes, ebenerdiges Steingebäude mit 4 oder 5 Zimmern. Die Holzdielen sind zerschrammt, die Wände mit hellgrüner Lackfarbe gestrichen. Auch hier kann sich jeder kostenlos auf HIV testen lassen. "20 Millionen für Aids-Untersuchung bis 2020" steht auf einem Plakat.
Das größte Zimmer dient als Aufenthaltsraum für die Klienten: Mehrere junge Männer und Frauen sitzen auf Stühlen und einem gemütlichen Sofa, schwatzen miteinander. An einem Computer kann man im Internet surfen oder spielen. In der Ecke steht ein Wasserspender. Auf der Musikanlage thront ein rundes Aquarium voller Kondome. Drogenabhängige kommen hierher, um sich in geschütztem Raum zu treffen und sich ein "Paketik" abzuholen. Ludmilla stellt gerade eines für eine junge Frau zusammen.
Streetworker verteilt Einwegspritzen
Ludmilla: "Der Klient gibt mir seine codierte Chipkarte, alles ist anonymisiert, ich fülle dann die Liste aus. Wir geben ihnen die gewünschte Anzahl von Einwegspritzen, es gibt sie als 2-er, 5-er,10-er oder 20-er Packung, maximal bekommt der Klient 20 Stück. Dazu die gleiche Anzahl desinfizierende Tücher, hier sind dann noch Präservative, dazu kommt aktuelles Infomaterial ... eine Plastiktüte haben sie nicht dabei?!"
Alles wird akribisch in eine Liste eingetragen. Die junge Frau dankt und geht zu den anderen in den Aufenthaltsraum.
Ludmilla: "Oft bringen Klienten auch gebrauchte Spritzen mit, die tauschen wir dann gegen neue aus, früher im Verhältnis 2 gebrauchte gegen eine neue, heute eins zu eins. Es gibt aber auch Klienten, die nicht hierher kommen wollen oder können. Da springen dann unsere Volontäre ein, die als streetworker unterwegs sind und den Kontakt zu ihnen haben. Die Helfer haben dann mehrere der Chipkarten bei sich, bekommen pro Karte ihre Tüte und verteilen sie unter den Klienten."
Einer dieser Helfer ist der 27-jährige Rusem. Ein Streetworker, der mit einem Kleinbus der Hilfsorganisation durch die Stadt fährt, und nicht nur Einwegspritzen an Drogenabhängige verteilt.
Seit acht Jahren arbeitet Rusem schon für die Hilfsorganisation. Sie ist quasi seine Familie geworden, erzählt er. Seine Arbeit als streetworker macht er leidenschaftlich, er möchte Straßenkindern helfen, denen es jetzt so geht wie ihm damals:
Rusem: "Wir wählen uns immer ein kleineres Stadtgebiet aus, schauen an bekannten Orten oder in Kellern nach, ob da Klienten sind, wenn ja, dann reden wir mit ihnen, geben ihnen zu essen, schauen, ob sie medizinische Hilfe brauchen."
Sehen sie, es gibt viele kinderreiche Familien, die sind meistens arm, der Vater, oder beide Eltern saufen, viele Kinder hauen von zu Hause ab und landen auf der Straße. Da beginnen sie Klebstoff zu schnüffeln, trinken Wodka, rauchen. Und mit 17 oder 18 sitzen die meisten von ihnen dann im Knast. Viele der größeren Mädchen so ab 17 Jahre besorgen sich durch Prostitution Geld für Drogen, ein Viertel von ihnen ist mit HIV infiziert.
In einem kleinen, einfachen Restaurant bin ich am Abend mit Serjoscha verabredet. Er ist 28 Jahre alt, er klingt seltsam verschnupft, aber erkältet ist er offenbar nicht. Den Kontakt ihm hat mir "the way home" vermittelt. Serjoscha ist bereit, mir seinen Weg in die Drogenszene zu erzählen. Mit 18 war sein Einstieg.
Serjoscha: "Nach Beendigung der seemännischen Handelsschule, es war grad Sommer, Bekannte haben mir fünf Tabletten Tramadol gegeben, ich hab's mal probiert, mir hat es gefallen die Empfindungen und Gefühle wurden intensiver, mit den Leute war es leichter zu reden, es war klasse, ich hab alles wie durch eine rosa Brille gesehen und sagte mir, wenn ich dann auf See bin, dann hör ich sowieso damit auf.
Nach einem Jahr merkte ich aber, dass ich psychisch und physisch schon abhängig war, ich wollte was dagegen tun. Hab versucht aufzuhören, das klappte nicht, dann starb mein Großvater, den ich sehr geliebt habe. Ich hab dann stärkere Sachen gespritzt, das war so 2006.
Man kann bei uns auch alles kaufen, Heroin und anderes. Aber die Älteren kaufen sich einzelne Ingredienzien und mischen sich das Zeug selbst. Das ist meistens besser, denn du weißt, woraus dein Stoff ist. Wenn du irgendwo beim Dealer was kaufst, schon flüssig und in spritzen...und wenn das grad nicht dein guter Kumpel ist, woher weißt du, dass er nicht verunreinigte Spritzen verwendet? Und schnell fängst du dir Hepatitis C oder HIV ein."
größte Gefahr durch verdeckte Infizierte
Bedächtig nippt Serjoscha an seinem Bier, manchmal kratzt er sich leicht am Hinterkopf, seine Augen sind leicht gerötet, er macht einen kränkelnden Eindruck, erzählt aber freimütig.
"Ich hab dann bis 2010 die härteren Drogen gespritzt, bis ich Probleme mit meinen zerstochenen Venen bekommen habe, die Beine waren ganz geschwollen, erst das rechte, dann das linke. Das kam daher,... vor dem Spritzen hab ich eine Tablette Dimedrol aufgelöst und mit dem flüssigen Opium vermischt. Dimedrol reinigt die Droge vom Dreck, da können verschiedene Pflanzenöle und so drin sein. Dadurch wird auch die Wirkung verstärkt, aber mit der Zeit entzündet das die Venen, die Beine sind angeschwollen und dann hatte ich Geschwüre.
Ich ging ins Krankenhaus und wurde operiert, man hat großflächig geschnitten und dabei auch eine zentrale Vene unterhalb des Knies verletzt. Ich hab mich lange rumgequält, bis zum Sommer 2013, dann hat mich Mama in eine private Einrichtung geschickt, um einen kalten Entzug zu machen. Da kamen zwei so ne Typen, luden mich ins Auto und fuhren los. Wir kamen weit außerhalb der Stadt an eine Stelle, da waren schon ca 50 Jungs und vier Mädchen. Es gab zwei Baracken, ne kleine Kirche, ein Waschhaus und ein Essenstrakt."
Der kalte Entzug ist die brutalste Methode, Drogenabhängige zu behandeln. Brutal und nicht besonders erfolgreich. Es gibt keine Ersatzpräparate oder andere Medikamente, Übelkeit, Erbrechen, körperliche Schmerzen sind nur einige der Begleiterscheinungen. Serjoscha musste körperlich schuften, täglich.
"Du bekommst früh ne Schaufel in die Hand und los geht's, arbeite! Umgraben und solche Dinge, ne schwere Arbeit, bin mehrfach umgekippt.
Aufstehen um halb sieben, dann zum Morgengebet, da stehst du 40, 50 Minuten, die Beine tun weh, der Kopf dreht sich. Wenn du weggehst holt man dich und züchtigt dich: du musst dich auf die Knie fallen lassen und mit dem Kopf auf den Boden schlagen... und das bis zu 400 mal. Abhauen aus dem Lager kannst du nicht, im Umkreis von rund 7 km wächst kein Baum und kein Strauch, bis zu Trasse Odessa-Kiew sind es 46 km. In den nahen Dörfern wissen die Leute, dass wenn sie einen Flüchtigen melden, bekommen sie 50 Dollar.
Drei Monate war ich dort, den Sommer über bis in den September 2013. 800 Euro im Monat hat meine Mutter für den Entzug bezahlt. Das ist viel Geld, sie hat ja nur rund 1200 Euro verdient. Und das ist für die Ukraine noch ein sehr guter Verdienst.
Als zum Herbstanfang dann die Touristen ausblieben wurde auch bei ihr das Geld knapp und sie holte mich wieder nach Hause. Dort angekommen hab ich am nächsten Tag da weiter gemacht wo ich 3 Monate vorher aufgehört habe. Inzwischen hat mir die Organisation geholfen, ich bin weg von der Spritze, aber wenn man das Schmerzmittel Codein, ein Opiat, als Droge bezeichnet, ja, heute früh hab ich was genommen."
Serjoscha geht fast täglich ins Zentrum für schwer Drogenabhängige, hilft dort wo er kann, spricht mit Junkies und erzählt ihnen von seiner Sucht, die er doch irgendwie in den Griff bekommen will. Seine Chancen stehen nicht schlecht, Er hat einen Willen, wohnt bei seiner Mutter und: er ist nicht infiziert.
Nach letzten offiziellen Angaben des Gesundheitsministeriums gab es im Jahr 2010 rund 17000 registrierte HIV-Fälle in Odessa, die Dunkelziffer soll allerdings viermal höher liegen.
Sergej Kostin, der Gründer der Hilfsorganisation "Daróga k domu" - "Der Weg nach Hause" - sitzt in seinem engen Flur-Büro und nickt.
Kostin: "Ja, das denke ich auch, so ungefähr. Doch die Zuwachsrate ist nicht mehr so groß bei denen, die wissen, dass sie hiv+ sind. Aber viele aber wissen nichts von ihrer Infektion: Da ist der Nachbarssohn, der aus welchem Grund auch immer sich schlecht fühlt und nach einer Analyse als hiv+ attestiert wurde, oder der Ehemann, der einen Seitensprung mit einer infizierten frau hatte, nichts ahnt und seine Ehefrau ansteckt. Diese verdeckten Gruppen sind gefährlich. Die öffentliche Diskussion zum Thema AIDS ist etwas in Vergessenheit geraten, die Probleme in der Ostukraine, der Krieg, lassen eine seriöse Diskussion derzeit nicht zu, leider."
Sergej Kostin befürchtet, dass der Ostukraine-Konflikt nicht so schnell zu Ende geht, er könnte sogar noch eskalieren. Und womöglich könnte auch das Gebiet um Odessa in Mitleidenschaft gezogen werden. Man liegt ja im Korridor zwischen Prednistrowsk und der Krim. Sergej Kostin hat Angst.
Kostin: "Ich habe ein kleines Kind zu Hause, wir fürchten uns. Wir lesen täglich diese Nachrichten, mir hängt das schon zum Halse raus, doch Ungewissheit und Nichtwissen sind auch nicht angenehm. Sehen sie, wir haben hier aus den Gebieten Kinder, die den Granateneinschlag neben sich er- und überlebt haben, die gesehen haben, wie Menschen starben. Aber: es gibt Hoffnung, immer gibt es Hoffnung und deshalb arbeiten wir hier."

"Immer wieder zieht es mich in die ukrainische Hafenstadt am Schwarzen Meer, privat und beruflich. Die derzeitige Lage ist nicht so angespannt, wie im Ostteil des Landes. Doch die Auswirkungen sind zu spüren, insbesondere für die Schwachen der Gesellschaft: Obdachlose Kinder, drogenabhängige Jugendliche und Aids-Kranke. Wie wird ihnen geholfen?"





Autor Joachim Baumann in Odessa auf der Potjomkin Treppe
© Deutschlandradio / Joachim Baumann
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