Brasiliens Kulturszene

Zerrissen wie nie

Blick auf die Stadt Rio de Janeiro und die Bucht, rechts ist die Christusstatue zu sehen
Blick auf die Stadt Rio de Janeiro - die Künstler wissen nicht, wen sie an die Spitze des Landes wählen sollen. © Picture Alliance / dpa / EPA / Marcelo Sayao
Von Michael Laages · 20.10.2014
Wenige Tage vor der Stichwahl um das Präsidentenamt streiten die Kulturschaffenden in Brasilien über die Frage, für wen sie ihr Kreuz machen sollen. Die Auseinandersetzung wird emotional geführt - und verursachte sogar das Aus einer Filmfirma.
Nicht jeder in Sao Paulo nimmt das Wahlkampf-Finale so leicht wie der Theater-Leiter Rodolfo Garcia Vazquez vom Ensemble "Os Satyros":
"Das ist wie eine Soap-Opera, eine brasilianische. Niemand weiß, was ist unsere Zukunft, was können wir hoffen. Ich fühle, es gibt Bewegung in der Gesellschaft. Alle sprechen über Politik, alle wollen etwas verändern. Aber wie, Dilma oder Aécio, ich weiß nicht ."
Der Kampf der Kandidaten, in den wenig zuverlässigen Medien oft als Schlammschlacht ausgetragen, hat die Kultur-Szene ins Mark getroffen - an sich mehrheitlich der Arbeiterpartei der Präsidentin zugetan, war ihr schon die Positionierung in den Protesten des Vorjahrs schwergefallen; die Bewegung jenseits der Parteien war und ging damals viel weiter als die Parteien selbst. Darum folgten einige Meister-Musiker wie etwa Lulas früherer Kulturminister Gilberto Gil im Wahljahr dem ersten Impuls und der Wechselstimmung - und setzten auf die Alternativ-Kandidatin Marina da Silva, vor vier Jahren Leitfigur der jungen und fürs erste gescheiterten grünen Partei.
Marina ist nun aus dem Rennen - empfahl aber die Wahl des Kandidaten Aécio. Ob die Kultur-Macher ihr da folgen?
Ungeliebte Parteien rücken näher zusammen
Zerrissen wie nie stehen speziell die Kulturstrategen vor den Scherben einer Bewegung, die auf der Straße begann und der sie sich anschließen wollten - nun bleibt ihnen nicht viel mehr als wieder nur die Wahl zwischen mittlerweile ungeliebten Parteien. Die rücken derweil immer näher zusammen, meint Theaterdirektor Vazquez:
"Aécio ist Zentrum, aber ein bisschen links; nicht rechts wie Bush oder Thatcher. Dilma war extrem links am Anfang ihrer Karriere - und ist jetzt Sozialdemokrat, ungefähr; und Marina auch. Die drei sind ungefähr im gleichen Spektrum."
Der Theatermann gehört zu den wenigen, die mit beiden großen Parteiblöcken gute Erfahrung gemacht haben; Aécios Chancen bereiten ihm kaum Sorgen - eher das, was mit oder nach Aécio kommen könnte:
"Ich habe Angst, wenn die Rechte stark würde, gegen schwarze Leute, Gays, Schwule und so weiter. Diese Leute von den Kirchen. Eines Tages, vielleicht, haben wir einen sehr starken Kandidaten von rechts - dann haben wir ein großes Problem."
"Liebe Hausfrauen ..."
Mariana Senne, Schauspielerin aus Sao Paulo, aber derzeit mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienste eingeschrieben an der Uni Hildesheim, erträgt schon Aécio kaum - wie er da in einer TV-Debatte das Publikum begrüßte: "Liebe Arbeiter, liebe Hausfrauen ..."
"Ziemlich vorvorgestrig, das Frauenbild des Kandidaten". Sie selber aber, sagt Mariana, wäre mit 17 wohl auch so ein Aécio-Mädchen gewesen, weiß und aus der bessergestellten Mittelschicht, erst das Theater habe sie politisiert.
Die Arbeit im Theater habe sie aus der Kristallkugel der Mittelschichtsexistenz befreit - und ihr die anderen Menschen im eigenen Land gezeigt, Menschen wie sie und nicht nur dazu da, sie zu bedienen. Und weil es ihr peinlich sei, in einer noch immer so stark in Klassen geteilten Gesellschaft zu leben, könne gar nicht anders als für die zu stimmen, die die Lebensbedingungen verbessern an der Peripherie der Gesellschaft - also für die Arbeiterpartei von Lula und Dilma.
Juliane Elting stammt aus Hamburg; sie ging als Schauspielerin nach Brasilien und staunt noch immer über die Rasanz der sozialen Veränderung:
"Ich bin seit neun Jahren hier, und vor neun Jahren hatte niemand ein Handy in der Favela. Es ist alles unheimlich schnell gegangen, aber die Strukturen sind nicht mitgewachsen. Und es gibt halt Leute, die man aus der oberen Mittelschicht hört - dass die ihre Putzfrau am Flughafen treffen, ist eine persönliche Beleidigung."
Emotionaler Wahlkampf
Wahlkampf ist extrem gewöhnungsbedürftig in Brasilien, findet sie: Alles ist so emotional, als gehe es um Fußball, nicht um Politik!
"Gestern hat mir ein Freund erzählt, dass innerhalb seiner Familie Tanten anrufen, um seine Mutter zu überzeugen, den konservativen Kandidaten zu wählen - es gewinnt wirklich Bedeutung, wird zur Obsession."
Über die Frage nach dem besseren Kandidaten zerstritt sich sogar die höchst erfolgreiche Filmfirma des Regisseur Fernando Meirelles - und löste sich auf. Künstlerinnen und Künstler überhaupt spielen eine enorme Rolle; erst jetzt, wenige Tage vor der Stichwahl, meldete sich auch Musik-Ikone Chico Buarque zu Wort.
"Und das ist was, wo ich denke, das ist in Deutschland eher verpönt. Man will natürlich, dass Kunst auch politisch ist - aber dass sie so ganz klar Partei nimmt, ist etwas, was mich als Deutsche eher erschreckt, und hier ist das ganz extrem!"
Rodolfo Stroeter leitet und produziert das weltweit reisende Jazz-Quartett "Pau Brasil"; er hoffte sehr auf strukturelle Veränderungen nach den Protesten im vorigen Jahr - und ist nun enttäuscht. Er wählt wie weit über zehn Prozent im ersten Wahlgang "null", also "ungültig", die einzige Möglichkeit, im Rahmen der brasilianischen Wahlpflicht persönliches Desinteresse zu dokumentieren.
Wie im ersten Wahlgang könne er sich auch jetzt nicht positionieren zwischen Aécio und Dilma. Politisch könnte auch Stroeter sich durchaus eine Große Koalition vorstellen. Theatermacher Vazquez hatte ja die gleiche Idee - sagt aber:
"Natürlich denke nur ich so, sonst niemand!"
Da waren es schon zwei, die so dachten. Aber beide werden verlieren nächsten Sonntag, in jedem Fall.
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