Boxtrainer Oswald Marschall

Als Sinto durfte er nicht zu Olympia

Der Boxtrainer Oswald Marschall
Der Boxtrainer Oswald Marschall © Ronny Blaschke
Von Ronny Blaschke · 25.01.2015
Der Boxtrainer Oswald Marschall fördert junge Sinti und Roma durch Sport. Er selbst ist Sinto, seine Eltern durften nicht auf die Schule gehen und mussten Zwangsarbeit leisten, auch er wurde immer wieder diskriminiert.
Rund 500.000 Sinti und Roma sind von den Nazis ermordet worden. Lange mussten ihre Nachfahren um Anerkennung kämpfen. Seit der Osterweiterung der EU gelten Sinti und Roma als größte Minderheit Europas, mit zehn Millionen Menschen. Die Sinti sind ihre größte Untergruppe in Mitteleuropa, sie leben hier seit über 600 Jahren. Trotzdem müssen sie sich für ihre Wurzeln rechtfertigen. Der Sinto Oswald Marschall wurde oft als "Zigeuner" bezeichnet. Er geht gegen Diskriminierung vor und möchte Klischees abbauen. Sein wichtigstes Medium: der Sport.
1976 verweigerte ihm der Boxverband die Teilnahme an Olympia
Langsam geht der Boxtrainer Oswald Marschall durch den Ring. Der 60-Jährige beobachtet seine Schüler. Gibt leise Anweisungen, lächelt, schaut den Jugendlichen in die Augen. Oswald Marschall ist ein Mann von kräftiger Statur. In der damals noch jungen Bundesrepublik hatte es der Sinto aus Minden nicht einfach. Seine Eltern waren im Dritten Reich als "Zigeuner" ausgegrenzt worden. Sie hatten Schulverbot erhalten, mussten Zwangsarbeit leisten. Sie wurden von der Polizei kontrolliert und von ihren Nachbarn schikaniert. Oswald Marschall und seine Geschwister hatten lange zu leiden:
"Meine Eltern haben sich nach dem Krieg alles selbst beigebracht. Meine Eltern konnten mir schon ab der zweiten, dritten Klasse nichts mehr beibringen. Wir konnten auch keinen Nachhilfeunterricht bekommen, dafür hat das Geld nicht gereicht. Ich kann mich noch gut entsinnen, als ich sechs, sieben Jahre alt war. Mein Vater ist mit dem Auto gefahren und dann: Oh, die Polizei, dann haben wir uns alle geduckt. Ja, warum, wir haben doch gar nichts gemacht. Weil wir immer in Angst gelebt haben, auch Anfang der sechziger Jahre noch. Aber wenn ich heute sehe: Ich war in der Universität in Bielefeld. Ich habe das da gesehen, ich habe Gänsehaut bekommen. Da hätte man auch sein können. Aber ich hatte die Chance nicht dazu."
Viele Überlebende des Holocaust trafen in Amtsstuben und Arztpraxen auf Stützen des einstigen Nazi-Regimes. Der Bundesgerichtshof rechtfertigte 1956 die Verfolgung der "Zigeuner" als "vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung". Oswald Marschall wollte als Jugendlicher beweisen, dass Sinti an die Spitze vordringen können. Als Boxer im Weltergewicht eilte er von Sieg zu Sieg. 1971 trat er zum ersten Mal für das deutsche Nationalteam an. Von seinen insgesamt 200 Kämpfen verlor er elf. So hoffte Marschall auf die Teilnahme an den Olympischen Spielen 1976. Er wäre der erste deutsche Sinto bei Olympia gewesen, aber der Boxverband machte vor der Qualifikation klar: Marschall werde auf keinen Fall nominiert. Daraufhin beendete er seine Karriere.
"Ich habe geweint nachts im Bett, ich war fix und fertig. Sie haben mir die Chance nicht gegeben. Muss man sich mal vorstellen: Ich war 22, eigentlich fing meine gute Zeit erst an, ich bin gerade aus der Jugend rausgekommen. Es hat nie jemand versucht, mich zurückzuholen, auch Trainerkollegen nicht. Ich bin auf Box-Veranstaltungen gegangen, da haben sie mich kaum gegrüßt."
Zeitung interessierte sich mehr für einen Kater als Marschalls Kanzlerbesuch
Keine Bevölkerungsgruppe wird so ausgegrenzt wie die Sinti und Roma, das belegt eine Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Danach fände ein Drittel der Bevölkerung Roma als Nachbarn "unangenehm". Oswald Marschall kämpft gegen Vorurteile: Als Trainer und Vorsitzender des Boxclubs Minden hat er Integrationsprojekte angeschoben. Er ist stolz, wenn seine Boxer Meisterschaften gewinnen. Doch er möchte vor allem, dass sie im Sport Selbstvertrauen gewinnen, das sie dann in der Schule und im Beruf nutzen. Marschall erwähnt einen Schützling:
"Das war wirklich einer, wo ich besonders stolz drauf bin. Der hatte auch schlechte Noten gehabt. Es ging ihm nur um Sport, der wollte nur boxen. Und er hat auch große Probleme in der Schule gehabt. Dann hat der Vater ihn mir übergeben und hat gesagt: Oswald, du bist für den Jungen jetzt verantwortlich. Und mit 14 Jahren war er über alles hinweg, er war ein guter Schüler geworden und hat dann auch sein Abitur gemacht. Es haben schon Jungs mit dem Boxen aufgehört, die hochtalentiert waren, denen ich das empfohlen habe. Weil der Beruf wichtiger und die Schule wichtiger sind. Und die konnten das nicht unter einen Hut bringen."
Eine Studie zur Bildungssituation der Sinti und Roma kommt zu dem Ergebnis, dass 44 Prozent der Befragten die Schule ohne einen Abschluss verlassen haben. Unter den 14- bis 25-Jährigen gaben neun Prozent an, nie eine Grundschule besucht zu haben. Der deutsche Durchschnitt liegt unter einem Prozent. Oswald Marschall startete in seinem Verein das Projekt "Echt clever!". Dazu gehören Berufsberatung und Sprachförderung. Mit Freunden gründete er den Kulturverein Deutscher Sinti in Minden. Regelmäßig lädt er Bürger zu Diskussionen ein, auch Politiker, Wissenschaftler und Aktivisten.
"Dann kamen die Leute, dann haben wir den Grill angeschmissen. Die Jungs haben ein bisschen Show-Sparring gemacht, bisschen geboxt gegeneinander. Die Eltern saßen da, darüber haben sich dann auch Freundschaften entwickelt. Dann haben sie auch Fragen gestellt, wie Roma und Sinti so leben. Das ist das, was mir immer so aufgefallen ist. Dass die Leute dann gesagt haben: Mensch Oswald, wir hätten ja nie gedacht, dass es bei euch halt so ist: Ihr unterscheidet euch ja gar nicht von uns so großartig. Darum sage ich: Bürgerdialoge sind sehr, sehr wichtig."
Oswald Marschall ist seit drei Jahren bei den Grünen, für sein Engagement wurde er mehrfach ausgezeichnet. Mit anderen Sinti und Roma war im vergangenen Mai bei Bundeskanzlerin Merkel zu Gast. Die Lokalzeitung in Minden berichtete darüber auf Seite zehn. Der Aufmacher auf der Titelseite war einem anderen Thema gewidmet: Der kleine Kater Mikesch war seinen Besitzern entlaufen.
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