Boualem Sansal: Arabische Länder brauchen Menschen mit demokratischer Erfahrung

Boualem Sansal im Gespräch mit Dieter Kassel · 29.09.2011
Angesichts der Umwälzungen in der arabischen Welt hat der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, Boualem Sansal, seine algerischen Landsleute und andere im Westen lebende Araber aufgefordert, in ihre Heimatländer zurückzukehren.
Dieter Kassel: Wer hätte gedacht, dass der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels mal an einen ehemaligen Direktor im algerischen Industrieministerium geht' Aber genau das passiert in diesem Jahr – der Preis geht an den Schriftsteller Boualem Sansal, und der war früher einmal Direktor in diesem Ministerium. Er hat allerdings den Posten schon bei Erscheinen seines allerersten Buches wieder verloren. 1999 ist dieses Buch erschienen, da war Sansal bereits 50 Jahre alt, und sein erster Roman "der Schwur der Barbaren", in Frankreich zuerst veröffentlicht, war eine Art Krimi. Es geht darin um einen Polizeibeamten, der bei den Ermittlungen in zwei Mordfällen trotz eindeutiger Warnungen seiner Vorgesetzten politische Zusammenhänge erkennt und verfolgt. Sansal hat nach diesem in Europa sehr erfolgreichen Debüt weitere Romane veröffentlicht, und seit seinem Buch "Postlagernd Algier", einem – so lautet der Untertitel – "zornigen und hoffnungsvollen Brief an seine Landsleute" werden Sansals Werke in Algerien nicht mehr veröffentlicht. Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt er am 16. Oktober überreicht, gestern aber war er in Deutschland zwischendurch zu Gast, und ich habe ihn bei dieser Gelegenheit in unserem Gespräch am Anfang gefragt, ob und wie man denn inzwischen in Algerien auf die Verleihung des Friedenspreises an ihn reagiert hat.

Boualem Sansal: In Algerien kennt man diesen Preis wirklich nicht. Vielleicht einige Schriftsteller, vielleicht auch noch ein paar Journalisten, aber ich muss auch zugeben, ich hatte schon davon gehört, aber auch ich wusste nur sehr wenig über diesen Preis.

Kassel: Aber ist es nicht ein komisches Gefühl, in Europa doch so bekannt zu sein langsam, in Frankreich natürlich besonders, aber eben auch in Deutschland diesen Preis zu bekommen und dann zurückzukehren nach Algerien und da zu wissen – weil Sie auch seit einer Weile dort nicht mehr veröffentlichen dürfen –, die meisten Menschen in meinem eigenen Land können meine Bücher gar nicht lesen'

Sansal: Das ist nur sehr schwer zu ertragen, es ist auch sehr destabilisierend, wenn man zurück in sein Heimatland kommt und dort ein bisschen wie die Pest betrachtet wird, wie ein Feind des Landes, wie ein Feind des Volkes, das ist etwas, was mich auch wütend macht, was mich auch unglaublich destabilisiert.

Kassel: Sie haben sich sicherlich auch wegen der Lage und Ihrer Lage in Algerien – gerade auch am Anfang dieses Jahres – sehr hoffnungsvoll mit dem sogenannten Arabischen Frühling, mit den Revolutionen, besonders natürlich in Tunesien und in Ägypten beschäftigt. Ich habe verschiedene kurze Texte gelesen dazu von Ihnen, und das beginnt mit ganz viel Hoffnung, und endet, finde ich, schon im Februar, März dieses Jahres mit ganz wenig Hoffnung. Hat zum Beispiel auch konkret in Algerien der Arabische Frühling überhaupt keine Auswirkungen gehabt'

Sansal: Ja, es mag vielleicht so erscheinen, als hätte ich meine Meinung geändert, als sei ich vom Optimisten zum Pessimisten geworden, aber das liegt einfach daran, dass ich zum Anfang einer Revolution finde, man muss auch Optimist sein. Man hat praktisch die Verpflichtung am Anfang von so einer Entwicklung, optimistisch zu sein, und dann ändern sich die Dinge, und dann ist es mehr die Aufgabe, dass man sie erklärt, dass man sie analysiert und dass man die Zukunft vorbereitet, und die Zukunft birgt auch sehr viele Gefahren.

Kassel: Es hat im Februar zum Beispiel ja auch große Demonstrationen in Algerien gegeben, die sind niedergeschlagen worden, aber das ist ja am Anfang in Tunesien zum Beispiel auch passiert, und dort ging die Revolution weiter. Was ist in Algerien so anders, dass zumindest ich den Eindruck habe, da findet eine solche Revolution wie in dem Nachbarland Tunesien nicht statt'

Sansal: Dafür müssen wir dann schon ein bisschen in die algerische Geschichte zurück gehen, das geht nicht anders. Also im Oktober 1988 hatten wir unsere Revolution in Algerien, und wir haben unglaublich viel erreicht. Wir haben erreicht, dass es freie Wahlen gab, dass alle Parteien zugelassen worden sind, dass man das Land frei verlassen durfte, dass es Pressefreiheit gab, wir eine neue Verfassung bekamen und es Reformen gab. Und da hatten wir sozusagen unseren Frühling. Aber wir waren unglaublich naiv. Wir haben geglaubt, wenn wir eine demokratische Verfassung haben, dann sei das schon die Demokratie. Und wir waren wie betrunken davon, dass wir die ganze Zeit nur geredet und geredet und geredet haben, wie wir das alles machen wollen. Und in dieser Zeit haben sich die Islamisten und hat sich auch das Militär, die haben sich neu organisiert, die haben sich neu aufgebaut. Die Islamisten haben die Moscheen besetzt, haben die Schulen besetzt, und das Regime, das Militär, hat mit einem ganz ausgeklügelten System aus Korruption eben auch ihre Machtbasis aufgebaut. Und dann brach 1991 der Bürgerkrieg aus, und der hat 15 Jahre gedauert. Und heute haben die Algerier einfach Angst. Wir haben ein viel brutaleres Regime als beispielsweise in Syrien oder in Libyen. Und die Islamisten sind auch immer noch da. Die können auch immer noch sehr viel Böses anrichten bei uns, und das führt dazu, dass wir in Algerien eine neue Strategie brauchen, und die haben wir noch nicht gefunden, weil die Strategie von damals – wie sie jetzt zum Beispiel in Tunesien und in Ägypten stattgefunden hat –, die ist ja bei uns gescheitert.

Kassel: Sie haben gesagt, das Eingreifen in Libyen war vielleicht sehr gefährlich. Sie haben aber auch gesagt, vielleicht. Sie haben gesagt, in Algerien haben die Menschen Angst, das algerische Regime sei noch viel brutaler und gefährlicher als das Regime zum Beispiel in Syrien. Wo liegt da die Lösung, wenn Menschen umgebracht werden von ihrer eigenen Regierung'

Sansal: Nun ja, es gibt eine philosophische, eine moralische, eine politische Verpflichtung, uns zu helfen oder diesen Ländern im arabischen Raum zu helfen. Was die Situation in Algerien betrifft, sind die Machthaber in Algerien ganz anders als die Machthaber in all den anderen Staaten. In all den anderen Staaten des arabischen Raums kommen die Machthaber aus der Zivilgesellschaft. In Algerien sind das immer noch diejenigen, die die Revolution damals gemacht haben. Das sind immer noch diese Freiheitskämpfer, und sie haben auch diese Logik von Freiheitskämpfern. Das ist ähnlich, wie Castro in Kuba. Und wenn es sein muss – die leben nur nach ihren eigenen Gesetzen – und wenn es sein muss, dann bringen sie das Ganze Volk um. Das haben Sie ja auch praktisch schon angefangen zu tun während des Bürgerkrieges, weil die meisten Toten, die es gab, sind ja von den Militärs getötet worden.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit Boualem Sansal, er ist der diesjährige Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Schriftsteller aus Algerien, das – und darüber werden wir sicherlich auch noch gleich sprechen – der auch immer noch in Algerien lebt, anders als viele andere gerade auf Französisch schreibende Schriftsteller aus Nordafrika. Was kann Europa tun, um eine Demokratisierung Algeriens – eine echte, nicht nur auf dem Papier – überhaupt zu ermöglichen'

Sansal: Das ist sehr kompliziert. Aber vor allen Dingen muss man erst mal damit anfangen, dass man das aktuelle Regime auch anprangert, und dass man es beim Namen nennt. Und das ist eine Diktatur, und in Saudi-Arabien herrscht auch eine Diktatur, und das muss einfach gesagt werden. Und dann muss man auch mit den Islamisten ganz anders umgehen. Man ist da immer so schüchtern in Europa, weil man immer Angst hat, den Islam anzugreifen. Aber die Islamisten, die vertreten ja keine Religion, sondern das ist eine faschistische Ideologie. Dann muss man die Demokraten einfach unterstützen in unserem Land, ähnlich, wie der Westen damals die Demokraten in Ost-Europa unterstützt hat, Künstler unterstützt hat, Schriftsteller unterstützt hat, Organisationen unterstützte, Studenten unterstützte – und das ist eine riesige Arbeit, und das ist eine Gemeinschaftsarbeit, und die geht uns alle an, damit wir dann den Kampf für Demokratie, gegen Islamismus und auch gegen illegale Einwanderung alle gemeinsam führen können.

Kassel: In Ägypten gab es im Sommer eine Umfrage, laut der, ich glaube, 81 Prozent der Bevölkerung dafür waren, dass islamische Parteien an der Regierung beteiligt werden. Wie kann man denn islamische – das ist nicht das gleiche, aber dann vielleicht auch leicht islamistische Tendenzen bekämpfen gegen die jeweilige eigene Bevölkerung'

Sansal: Die arabische Gesellschaft ist konservativ. Aber dieser Islamismus, von dem man immer redet, der ist nicht Teil der arabischen Gesellschaft, das ist eine strategische Kreation gewesen. Und in der arabischen Gesellschaft ist es wie überall, man möchte die Demokratie, aber man möchte die Demokratie in Wahrung der eigenen traditionellen Werte, ähnlich, wie das die Japaner, die Südkoreaner oder auch die Inder wollen. Man möchte nicht eine Demokratie nach westlichem Vorbild. Und was die Islamisten anbetrifft, so sind sie wirklich strategisch erfunden und kreiert worden, um etwas zu bekämpfen und etwas zu erreichen. Genau wie es im Kalten Krieg strategische Erfindungen gab, um den Kommunismus zu bekämpfen. Und zum ganz großen Teil sind die Islamisten von den Geheimdiensten der einzelnen Länder praktisch kreiert worden. Und diese Geheimdienste muss man sofort auflösen, muss man sofort neutralisieren, weil sie die eigentliche Macht verkörpern in diesen arabischen Staaten. Sie würden alles tun, um die Macht zu erhalten. Sie benutzen die Islamisten, sie benutzen auch andere politische Kräfte, sie würden auch wieder einen Bürgerkrieg in Kauf nehmen oder eine Situation provozieren, wie sie in Mexico herrscht, wo die Korruption so allgegenwärtig ist, dass die traditionelle Politik überhaupt keine Einflussmöglichkeiten mehr hat. Und das ist unglaublich wichtig, diese Geheimdienste aufzulösen. Allein in Syrien gibt es 30 parallel operierende Geheimdienste. Und unter dem Deckmantel "Kampf gegen den Terror", "Kampf gegen illegale Einwanderung", werden ein Großteil dieser Geheimdienste vom Westen auch noch unterstützt. Sie gelten als legitim. Also, es gilt, Geheimdienste aufzulösen – nicht die Polizei aufzulösen, nicht die Armee aufzulösen, sondern die Geheimdienste.

Kassel: Zum Schluss noch ganz schnell eine persönliche Frage: Sie haben wiederholt in Interviews beschrieben, dass das Leben in Algerien für Sie und für Ihre Familie gefährlich ist. Warum leben Sie überhaupt noch dort' Warum ziehen Sie nicht, wie es viele andere Schriftsteller ja getan haben, nach Frankreich oder nach Deutschland'

Sansal: Ja, es wäre supertoll, in Frankreich oder in Deutschland zu leben. Aber Algerien ist mein Land, und mein Land ist in Schwierigkeiten, und da muss ich dann auch da bleiben. Und ich würde sogar sagen, alle, zum Beispiel alle Tunesier, alle Ägypter, die in den Westen emigriert sind oder die im Westen leben, müssten jetzt wirklich nach Hause zurückkehren, weil man sie wirklich braucht. Wir brauchen sie einmal, weil sie Erfahrung haben in einer demokratischen Gesellschaft zu leben, weil sie Berufe beispielsweise haben, und weil wir einfach auch etwas von ihnen lernen können und wir sie wirklich benötigen mit ihrer Erfahrung, weil bei uns zum Beispiel in unserem Land haben die Islamisten und auch das Militärregime wirklich alles zerstört. Also brauchen wir Menschen mit diesen Erfahrungen. Und ich kann ja nicht das propagieren und dann sagen: Ach, tschüss, bye-bye! Ich gehe jetzt mal in Deutschland oder in Frankreich leben. Nein, nein, dann werde ich auch schon gebraucht. Und wir brauchen zurzeit viele Menschen mit demokratischen Erfahrungen.

Kassel: Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal. Er bekommt in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der Preis wird übrigens am 16. Oktober verliehen. Die unter anderem auch erwähnten Essays, die befinden sich in einer neuen Ausgabe seines eigentlich schon vor ein paar Jahren erschienenen Bandes "Postlagernd Algier" und sein letzter Roman heißt "Das Dorf des Deutschen". Diese beiden Bücher und auch alle anderen auf Deutsch von ihm verfügbaren sind im Merlin Verlag erschienen.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.