Boston-Globe-Journalisten über "Spotlight"

"Authentisches und realistisches Porträt"

Reporter Mike Rezender (links) und Schauspieler Mark Ruffalo bei der Filmpremiere von "Spotlight" in London
Reporter Mike Rezender (links) und Schauspieler Mark Ruffalo bei der Filmpremiere von "Spotlight" in London © dpa / picture alliance / Facundo Arrizabalaga
Sacha Pfeiffer und Michael Rezendez im Gespräch mit Patrick Wellinski · 27.02.2016
Sie sind das Vorbild für die Reporter in dem Film "Spotlight": Sacha Pfeiffer und Michael Rezendez. Im Gespräch erklären die investigativen Journalisten des "Boston Globe", wie ihre Arbeit funktioniert und warum ihr katholischer Hintergrund nützlich war.
Patrick Wellinski: Können Sie vielleicht zu Beginn skizzieren, wie die Recherchen aus Ihrer Sicht damals 2001 ihren Anfang nahmen?
Sacha Pfeiffer: Wir bekamen einen neuen Chefredakteur, und an seinem ersten Tag bei der Zeitung schrieb einer der Kolumnisten über Gerichtsverfahren gegen einen Priester, deren Akten vom Gericht versiegelt worden waren. Der Chefredakteur fragte, warum wir zu dieser Geschichte nicht mehr recherchiert und warum wir nicht versucht hätten, die Akten wieder zu öffnen. Das war ein wunderbares Beispiel für eine frische Perspektive, die uns dazu brachte, etwas erneut zu betrachten, dass wir über lange Zeit nicht beachtet hatten.
Michael Rezendez: Genau das denke ich auch. Marty Baron kam mit einer neuen Sichtweise aus Florida. Dort gibt es hervorragende Gesetze zur öffentlichen Akteneinsicht. Die Vorstellung also, dass ein Richter Dokumente, die normalerweise der Öffentlichkeit zugänglich sein müssten, unter Verschluss hält, war für ihn wohl nur schwer zu verstehen. Außerdem schrieb der Autor der Kolumne, die Sacha erwähnt hat, dass wegen der versiegelten Akten die Wahrheit möglicherweise nie ans Licht kommen könnte. Dieser Satz war für Marty Baron eine Art rotes Tuch und er sagte uns: Es ist der Job eines Journalisten, die Wahrheit herauszufinden. Wir sollten niemals sagen, dass die Wahrheit vielleicht nicht gefunden werden könne, wir sollten sie finden.
Pfeiffer: Die Kirche musste uns keine öffentlichen Akten herausgeben, die Kirche hatte keine Dokumente über Steuerrückzahlungen gespeichert, wie die meisten Firmen und gemeinnützigen Organisationen das tun. Es war also eine große journalistische Herausforderung, die wir sehr gerne in Angriff nehmen wollten.
Wellinski: Wie kommt das Spotlight-Team sonst an die Geschichten? Wie entscheiden Sie, welcher Story Sie hinterher recherchieren? Es kann ja nicht immer der Chefredakteur zu Ihnen kommen.
Rezendez: Marty Baron hatte uns gebeten, uns diesen Fall anzusehen und er war der Boss… Wir gehören zu den Leuten, die sagen, was sie denken. Wenn wir geglaubt hätten, dass es kein gerechtfertigtes Vorhaben wäre, hätten wir ihm das gesagt. Aber es klang sehr interessant, und wie gesagt, das war der neue Chef und das war die Idee. Außerdem hatten wir gerade ein großes Projekt abgeschlossen und sahen uns gerade nach einem neuen Thema um. Das Timing war also genau richtig.
Pfeiffer: Man muss entscheiden, welche Geschichte es wert ist, die Zeit von vier Leuten in Anspruch zu nehmen. Es war ein Projekt, das Monate dauern würde, da muss man sich sicher sein, dass es sich lohnt. Unser Chef Walter Robinson sagte damals oft, das sei wie trockene Brunnen bohren, manchmal entscheidet man sich für eine Richtung, sieht dann, dass es nicht richtig ist und entscheidet sich wieder um.
Rezendez: Aber wir kriegten Stories von überall. Leute riefen uns an, oft hatten sie keine guten Geschichten für uns, hin und wieder schon. Manchmal hat auch ein Redakteur eine gute Idee, aus der dann eine Geschichte wird. Wir bekommen unsere Stories also auf ganz unterschiedlichen Wegen.
Wellinski: Jetzt ist die Recherchearbeit nichts Heroisches. Man könnte sogar sagen, sie hat etwas Langweiliges. Man telefoniert, guckt in Akten ... Waren Sie überzeugt, dass Ihre Arbeit einen guten Film macht?
Pfeiffer: Darum mögen wir diesen Film so sehr, weil es so ein authentisches und realistisches Porträt davon ist, was wir machen. Im Gegensatz zu vielen Fernsehsendungen oder -serien, die nur Stereotypen der Arbeit von Reportern zeigen, finden wir, dass dieser Film wirklich unsere Arbeit zeigt.
Rezendez: Wissen Sie, wir haben ehrlich gesagt nie gedacht, dass ein guter Film daraus werden würde. Ich weiß noch, wie ich ihnen sagte, dass die meisten meiner großen Momente dann kommen, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und einen Stapel Dokumente lese. Aber ich glaube, das liegt zum Teil an der Brillanz des Drehbuchautors Josh Singer und des Regisseurs und Co-Autors Tom McCarthy, die das zu einer wirklich fesselnden und interessanten Geschichte gemacht haben. Sie sahen das Potential, wir nicht!
Wellinski: Das dramatische Moment des Films konzentriert sich aber dennoch auf Sie, die Journalisten. Denn Sie sind alle, in Boston ist das wenig verwunderlich, katholisch aufgewachsen. Und es wirkt, als würde diese Tatsache Sie in Ihren Recherchen behindern. War das so?
Rezendez: Wir sind alle katholisch aufgewachsen und waren zu dieser Zeit, glaube ich, alle nicht praktizierende Katholiken. Aber wir nahmen aufgrund unseres Katholizismus keine Abwehrhaltung ein. Und letztlich hat uns die Tatsache, dass wir katholisch waren, bei der Recherche geholfen, weil wir zum Beispiel nachvollziehen konnten, wie eine Mutter ihre Kinder mit einem Priester alleine lassen konnte. Der Pfarrer war ja eben die eine Person, der man im Umgang mit seinen Kindern wirklich vertraute. Ich denke also, dass unser katholischer Hintergrund uns Einblicke ermöglichte, die andere Reporter so vielleicht nicht gehabt hätten.
Pfeiffer: Da hat Mike recht. Katholisch aufgewachsen zu sein, erlaubte uns zu sehen, wie viel Hochachtung der Kirche entgegengebracht wurde. Und nachdem die Stories veröffentlicht wurden, sagte mir meine Großmutter: Wir hielten die Priester für kleine Götter. Man glaubt, dass sie nichts falsch machen können. Wenn man doch denkt, dass etwas nicht stimmt, dann stellt man keine Fragen. Wir verstehen diese Art Hörigkeit und unterwürfige Hochachtung, die man der Kirche in einer Stadt wie Boston über so viele Jahrzehnte hinweg entgegengebracht hat.
Wellinski: Regisseur McCarthy betont, dass die Opfer keine Opfer seien, sondern als Überlebende bezeichnet werden wollen. Wie ist das jetzt, knapp 15 Jahre nach den Recherchen: Haben Sie noch Kontakt zu den Überlebenden des Missbrauchs?
Rezendez: Ja, wir haben beide noch Kontakt zu Überlebenden. Im Film sieht man zum Beispiel einen Mann namens Phil Saviano, zu ihm haben wir immer noch Kontakt, dann gibt es noch Joe Crowley, mit dem Sacha noch sehr viel zu tun hat. Und es gibt noch einige andere Opfer, mit denen wir noch in Kontakt stehen. Für mich war der befriedigendste Aspekt dieser Arbeit die Wertschätzung und Erleichterung, die zehntausende von Opfern überall auf der Welt erfahren haben. Ich glaube auch, dass diese Arbeit viele Kinder davor bewahrt hat, derartigen Missbrauch zu erleben. Das ist vielleicht das wichtigste für uns.
Pfeiffer: Ich habe den Eindruck, dass wir förmlich zusehen konnten, wie die Wunden mancher Opfer geheilt sind – auch wegen dieses Films, der sie Wertschätzung erfahren ließ. Leute, die bisher noch nicht an die Öffentlichkeit gegangen waren, merkten, dass sie mit ihrer Geschichte nicht allein sind. Wir hoffen, dass noch mehr Leute ihre Story öffentlich machen.
Wellinski: Meinen Sie, dass solch ein Film wie "Spotlight" dem Journalismus und dem Berufsstamm der Journalisten heutzutage helfen könnte, ein gewisses Maß an Respekt und Anerkennung wiederzugewinnen?
Pfeiffer: Wir hoffen alle, dass dieser Film die Leute daran erinnern wird, wie wichtig investigativer Journalismus ist und ich hoffe, dass der Film ein Ansporn sein wird, sich seine Zeitung zu kaufen, denn so können wir das, was wir tun, finanzieren.
Rezendez: Tatsache ist doch, dass es Aufgabe der Journalisten ist, mächtige Institutionen und mächtige Menschen für das, was sie tun, zur Verantwortung zu ziehen. Wer soll das machen, wenn nicht Journalisten?
Übersetzung: Marei Ahmia
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