Boris Palmer: Termin für Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung ist nicht zu schaffen

30.05.2012
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer geht davon aus, dass der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Kleinkinder ausgesetzt werden muss. Er rechnet mit einer Übergangsregelung, weil die Kommunen nach aktueller Gesetzeslage die noch fehlenden 130.000 Plätze nicht finanzieren können.
Nana Brink: Viel Zeit ist nicht mehr – ab 1. August 2013 haben die Eltern von Kleinkindern unter drei Jahren einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Familienministerin Christina Schröder musste sich bislang viel Kritik anhören, warum der Ausbau nur schleppend vorankommt, und will heute mit einem Zehn-Punkte-Plan Tempo in die Sache bringen. Danach soll es zinsgünstige Kredite in Höhe von 350 Millionen Euro für die Kommunen geben und auch Personalkostenzuschüsse für Tagesmütter. Aber reicht das? Die ehrgeizigen Pläne der Familienministerin treiben indes vielen Kassenwarten der klammen Kommunen den Schweiß auf die Stirn, denn 130.000 Plätze sollen noch fehlen, bundesweit. Boris Palmer ist grüner Oberbürgermeister in Tübingen und nun bei uns am Telefon. Schönen guten Morgen, Herr Palmer!

Boris Palmer: Ja, schönen guten Morgen!

Brink: Sie haben noch 15 Monate Zeit, um jedem Tübinger Kleinkind einen Kita-Platz zu bieten. Schaffen Sie das?

Palmer: Im Moment bin ich optimistisch, weil wir schon 2006 ein großes Ausbauprogramm gestartet haben. Aber die finanzielle Belastung hat mir bis vor einem halben Jahr schon schlaflose Nächte bereitet.

Brink: Trotzdem bleibt die Frage: Schaffen Sie das? Wie viel brauchen Sie denn noch?

Palmer: Das kann man nicht genau sagen, weil der Bedarf bisher jedes Jahr ungefähr so stark angestiegen ist wie die Zahl der Plätze, die wir gebaut haben. Ich weiß es also nicht, weil ich nicht weiß, wie viel Kinder im nächsten Jahr anklopfen.

Brink: Das heißt, durch die Nachfrage und durch den Rechtsanspruch gibt es auch einen größeren Bedarf, also eine größere Nachfrage? Sehen Sie da einen Zusammenhang?

Palmer: Ich glaube nicht, dass es der Rechtsanspruch ist, den gibt es ja noch nicht, sondern die gesellschaftliche Entwicklung. Eltern wollen Arbeiten, Karriere und Kinder zusammenbringen. Und sie erwarten jetzt von der Stadt, dass sie dafür die Voraussetzungen schafft.

Brink: Sie haben gesagt, seit 2006, also noch vor dem Krippengipfel 2007, haben Sie angefangen auszubauen. Sie sind jetzt bei knapp 58 Prozent Kapazität – was machen Sie denn dann besser als andere Kommunen, die ja massiv klagen? Oder haben Sie auch Probleme?

Palmer: Wir hatten schon Probleme. Wenn Sie nämlich eine bestehende Einrichtung, in der Kinder über drei Jahre betreut werden, umbauen, dass Kinder unter drei Jahren drin sind, dann kommt – das sieht die Feuerwehr und sagt, hier gelten ganz andere Brandschutzbedingungen, und manchmal denkt man sich schon, die Kinder sind nur noch sicher in der Kita, aber nicht mehr auf der Straße und daheim, weil da gibt es diese Regeln alle nicht.

Aber der eigentliche Kernpunkt ist der politische Wille, den hatten wir ja: Der Gemeinderat hat schon 2006 gesagt, jedes Kind soll einen Platz bekommen. Und dann ist die Frage nach dem Geld, und ich kann nur so sagen, sämtliche Schulden, die wir in den letzten Jahren gemacht haben, haben wir ausschließlich für die Kinderbetreuung gemacht. Hätten wir den Ausbau der Kinderbetreuung unterlassen, wären wir heute schuldenfrei.

Brink: Wo sehen Sie dann die Schuldigen?

Palmer: In erster Linie war dieses Ausbaugesetz von 2007 eine Fehlkonstruktion, weil der Bund nur die Gebäude bezuschusst hat und nicht den Betrieb. Die Gebäude sind aber nicht das Problem, sondern die eigentlichen Kosten entstehen natürlich durchs Personal, und da sind die Kommunen ziemlich alleine gelassen worden. Und dann gab es eine ziemlich schlechte Vereinbarung zwischen Bund und Ländern, bei denen die Länder viel von dem Geld, das für die Kommunen gedacht war, unterwegs abgezweigt haben, und so kam bei uns, obwohl man versprochen hatte, dass 70 Prozent der Kosten von Bund und Land übernommen werden, nur 30 Prozent der laufenden Kosten an. Und da tut sich der Kämmerer schon schwer, neue Plätze zu genehmigen.

Brink: Aber da könnten Sie doch mal bei Ihrem Parteikollegen, dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, anklopfen. Gibt Ihnen das Land denn kein zusätzliches Geld für den Kita-Ausbau? Da haben Sie doch einen direkten Draht.

Palmer: Wir haben nicht nur angeklopft, sondern wir haben den Vorschlaghammer genommen, und unmittelbar vor der Landtagswahl als Gemeinderat einstimmig beschlossen – alle Fraktionen –, wenn jetzt nicht endlich Geld kommt, klagen wir, denn es ist verfassungsmäßig ein Fall der Konnexität, das heißt, wer bestellt, bezahlt. Das Land hat per Gesetz mit dem Bund gemeinsam bestellt. Wir wollten nicht mehr bezahlen, und siehe da, seit diesem Jahr gibt es eine neue Finanzierung, und wir bekommen jetzt etwa diese 70 Prozent Kostenerstattung, die uns zugesagt waren, und damit habe ich jetzt finanziell keine Sorgen mehr bei der Kinderbetreuung, und wir können das Finanzielle jetzt schaffen.

Brink: Also der Vorschlaghammer hat genutzt.

Palmer: Ich glaube schon. Es war vielleicht auch der Regierungswechsel, der ein bisschen genutzt hat. Jedenfalls, in Baden-Württemberg gibt es jetzt drei mal so hohe Landeszuschüsse wie noch vor einem Jahr.

Brink: Die Ministerin, die Familienministerin sagt ja auch, die Länder sollen die Mittel aus dem Investitionsprogramm der Bundesregierung abrufen, die wären da. Liegt also der Schwarze Peter bei den Ländern und nicht beim Bund?

Palmer: Nein, die Ministerin verwechselt wieder die Kosten des Betriebs mit dem Bau der Einrichtungen. Es wird nicht gebaut, weil die Kommunen Angst haben vor den Kosten, die danach kommen, und es war eben falsch, sich auf Bundeszuschüsse für Gebäude zu reduzieren. Man hätte von Anfang an dafür sorgen müssen, dass genügend Geld für den Betrieb zur Verfügung steht.

Brink: Jetzt gibt es ja diesen Zehn-Punkte-Plan, der soll heute vorgestellt werden von der Bundesministerin. Es sind schon einige Details durchgesickert, unter anderem soll auch das Betreuungsangebot – also es gibt einen Personalkostenzuschuss für Tagesmütter. Ist denn das ein Vorschlag, der Ihnen nützt?

Palmer: Den finde ich gut, auch da hätte ich mir gewünscht, man hätte es viel früher gemacht, denn wenn man dauernd Baukostenzuschüsse ausreicht und dann nach sechs oder sieben Jahren Baukostenzuschüsse auf den Gedanken kommt: Ach, es gäbe ja auch sehr viel günstigere Möglichkeiten, nämlich, dass man Tagesmüttern das Geld gibt, in ihrer eigenen Wohnung die Kinder zu betreuen, da hat man schon ziemlich viel betoniert und wenig betreut, aber im Grundsatz ist das richtig.

Brink: Müssen Sie denn, sage ich da mal, zu Tricks greifen, also einfach mehr Kinder dann in einer Gruppe zulassen oder auch Tagesmütter, also auch vielleicht die Qualifikation dann absenken? Ist das die Lösung?

Palmer: Also solche Tricks wird sich kein Bürgermeister trauen, denn wenn das eine Elternperson, die ihr Kind drin hat, merkt, dann haben Sie garantiert die Klage am Hals, das kann man nicht tun. Nein, ich glaube eher, dass es in vielen Kommunen so sein wird, dass im nächsten Herbst eben nicht alle Kinder einen Platz bekommen und dass man sich dann dummerweise vor Gericht sieht, also dass die Bürgermeister und die Gemeinderäte den Schwarzen Peter zugeschoben bekommen für sechs Jahre schlechter Politik in Bund und Ländern.

Brink: Sie haben es angesprochen, und das ist ja wirklich der heikle Punkt, Ihnen droht eine Klagewelle, denn fast 40 Prozent der Eltern werden ihren Rechtsanspruch einklagen, so schätzt es zumindest das Familienministerium. Was machen Sie denn dann?

Palmer: Ich bin da völlig ratlos. Wenn es nächstes Jahr nicht gelingt, alle Kinder mit einem Platz zu versorgen, dann sieht der Bürgermeister sich halt auf der Anklagebank. Man kann dann allenfalls sagen, ja gut, es steht nicht so ganz genau im Gesetz, wie viele Stunden das sein sollen, und dann teilen wir die Plätze irgendwie auf oder sonst was, aber das ist ja alles nicht sinnvoll. Also ich fürchte, dass es gar nicht anders geht, als dass Bund und Länder einsehen, dass sie so viele Fehler in der Ausführung des Gesetzes gemacht haben, als dass der Rechtsanspruch schon greifen könnte. Man wird den Rechtsanspruch vermutlich verschieben müssen.

Brink: Also aussetzen, das fordert ja auch der Geschäftsführende Direktor des hessischen Städtetages, nämlich den Rechtsanspruch einfach auszusetzen – Sie sagen aber damit auch, dieses Ziel ist nicht zu schaffen bis 2013?

Palmer: So ist es, also bis 2013 ist es nicht mehr zu schaffen, denn die Kindertagesstätten, die da in Betrieb sind, die müssen jetzt in Bau sein, sonst werden die gar nicht mehr fertig. Das kann man zusammenzählen, und dann kommt man auf eine Differenz vermutlich von über 100.000 Plätzen, also so viele Kinder werden den Platz nicht bekommen, trotz Rechtsanspruch, den gibt es dann nur auf dem Papier, und dann wäre die Politik schon weise beraten, uns dann nicht in Tausende von Rechtsprozessen zu stürzen, sondern sich eine Übergangsregelung auszudenken.

Brink: Sagt Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister in Tübingen. Schönen Dank, Herr Palmer, für das Gespräch!

Palmer: Ich danke Ihnen!


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