Boom im Regenwald

Von Leif Karpe und Christoph Goldmann · 12.06.2012
Nirgendwo wird der Wandel Brasiliens besser sichtbar als dort am Zusammenfluss von Amazonas und Rio Negro, wo sich in einer der größten Wirtschaftsmetropolen Landes über 600 internationale Firmen angesiedelt haben. Jetzt bereitet sich Manaus auch auf die WM 2014 vor.
Auf der Brücke des Containerschiffes Aliança Europa herrscht höchste Betriebsamkeit. Das Schiff, beladen mit rund 1500 Containern, navigiert auf dem größten Strom der Welt, dem Amazonas.

Die gesamte Mannschaft steht erwartungsvoll an Deck und bewundert das einmalige Naturschauspiel mit Blick auf Manaus: den Encontro das Aguas. Das sogenannte "Treffen der Wasser" bezeichnet den Zusammenfluss des Rio Solimões, wie der Amazonas bis hier her genannt wird, und dem Rio Negro. Das Wasser des Rio Solimões ist braun-gelblich, das des Rio Negro schwarz.

"Auf dem offenen Meer bewegst Du dich auf freiem Territorium. Auf dem Amazonas navigierst du auf einem Fluss, auf einem abgesteckten Territorium. Manchmal kommen wir bis auf 100, 150 Meter an das Flussufer ran. Mit einem Schiff, das alles in allem über 200 Meter misst. Der Fluss ist voller Kurven. Das fordert die volle Aufmerksamkeit. Ich steuere die ganze Zeit von Hand."

Seit 12 Jahren manövriert Emanuel Brasil Diaz Guerreiro die Aliança Europa durch die Untiefen des Amazonas bis nach Manaus.

"Ich fahre für die brasilianische Reederei Aliança, der Marktführer im boomenden brasilianischen Kabotage-Verkehr."

Die Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas, Manaus, ist eine Enklave im tropischen Regenwald, erreichbar nur zu Luft oder zu Wasser, Tausende Kilometer entfernt vom Rest der Welt. Ausgerechnet dort sollte 1967 eine Freihandelszone entstehen. Der Staat gewährt bis heute Steuer- und Zollvergünstigungen, wenn sich ein Unternehmen in dieser geographische Abgeschiedenheit ansiedelt. Eine geopolitische Entscheidung, nur wenige Jahre, nachdem mit der Verlegung der Hauptstadt von der Küste in das Landesinnere, nach Brasilia, ein politisches Signal gesetzt wurde. Bis heute steht die Erschließung des brasilianischen Hinterlandes im Mittelpunkt staatlicher Entwicklungsstrategien. Manaus ist dafür das spektakulärste Beispiel.

Für Unternehmen eine logistische Herausforderung. Doch wo Einfuhrzölle und Steuersätze im restlichen Brasilien astronomische Höhen erreicht haben, kann sich Engagement mitten im Amazonasgebiet dennoch lohnen.

"Die Anzahl der Schiffe hat sich binnen kurzem verdoppelt. Es gibt mehr Häfen, mehr Lotsen. Alles ist unheimlich stark gewachsen. Zum Beispiel haben sie hier einen komplett neuen Hafen gebaut."

Captain Brasil zeigt auf den neuen Containerhafen am gegenüberliegenden Flussufer. Mitten im Fluss liegen Containerschiffe aus China und Südkorea, die auf ihre Einfahrt warten. Die Kais der Häfen von Manaus sind seit jeher schwimmende Docks. Schließlich kann der Wasserstand zwischen Regen- und Trockenzeit um bis zu 14 Meter schwanken. Am Flussufer stapeln sich die Container der Hamburg-Süd bis in den Himmel.

"Du fährst nach Manaus mit einem Schiff voller Einzelteile und kommst mit fertigen Fernsehern, Kühlschränken, Klimaanlagen zurück. Auf der Hinfahrt sind wir restlos beladen, mit maximalem Tiefgang. Wenn wir dann mit der gleichen Stückzahl Container zurückfahren, haben wir einen weit geringeren Tiefgang, mit der montierten Fertigware an Bord."

Knapp zwei Kilometer vom modernen Containerhafen entfernt liegt der alte Fährhafen, der sogenannte Porto Flutante, noch immer das pulsierende Herz der Stadt. Hier zeigt sich das alte, renovierungsbedürftige Manaus, wo von der Anwesenheit der vielen multinationalen Konzerne nichts zu spüren ist.

Hier dröhnen die Motoren der Lastwagen, blubbern die Generatoren alter Holzschiffe. Ölflecken schillern vielfarbig auf der Wasseroberfläche. Große schwarze Geier suchen nach Essbarem. Die Passgiere auf den Holzbarkassen schaukeln in ihren Hängematten und warten auf die Abfahrt. Der Porto Flutante, der alte Hafen, ist immer noch der bedeutendste Umschlagplatz für Waren, die in die Amazonasregion gebracht werden, wo es nur wenige Straßen und keine Eisenbahnlinie gibt.

Unter der Woche ist der Hafenbezirk ein bunter Dauermarkt. Improvisierte Verkaufsstände, fliegende Händler überall. Doch heute von der erwarteten Geschäftigkeit keine Spur. Es ist Sonntag. Die Straßen der Händler sind leergefegt, dafür sind die Bars umso voller.

Es ist Ligafinale der brasilianischen Fußballmeisterschaft, verzerrte Reporterstimmen tönen aus den unzähligen Monitoren. Die meisten Menschen hier fiebern mit der Mannschaft von Corinthians Sao Paulo aus dem Süden des Landes, denn der lokale Club von Manaus ist gerademal viertklassig.

Noch spielt Manaus beim Fußball keine Rolle. Doch das soll sich ändern: Für die Fußballweltmeisterschaft 2014 wurde Manaus als Austragungsort ausgewählt. Am Stadtrand entsteht derzeit ein futuristisches Stadion, ein Symbol für die Erneuerung der Stadt. Auch die nahe gelegene alte Markthalle, die im 19. Jahrhundert nach dem Vorbild der Pariser Les Halles entstand, wird für dieses Großereignis restauriert. Die Stadt hofft auf Touristenströme.

Zu kaufen gibt es neben Lebensmitteln wie Fleisch, Fisch und exotischen Früchten auch Souvenirs und indianische Handwerksarbeiten.

"Ich heiße Antonio Jacaré, zu deutsch Antonio Krokodil. Seit 32 Jahren arbeite ich hier als Souvenirverkäufer. Ich war früher der verantwortliche Leiter für Kunsthandwerk bei der Indianerbehörde FUNAI, daher habe ich mein Wissen über indianisches Kunsthandwerk."

Der größte Teil der heutigen Bewohner Manaus zählt Indios und Europäer zu den Vorfahren. Nur noch vier Prozent der Bevölkerung stammt direkt von den Ureinwohnern ab.

"Ich erzähle dir eine Geschichte. Ich war einmal in Rio de Janeiro. Dort machte sich ein Mann über meine Herkunft lustig und fragte: Laufen bei euch bei euch die Frauen wirklich nackt rum? Ich antwortete: Ja, das stimmt, mein Herr. Aber - alles, was hier in ihrem Haus steht, haben wir gemacht: Die Plasmabildschirme, die Außenbordmotoren, die Reifen, Fernseher, die gesamte Unterhaltungselektronik. Alles wird von uns Indios im Industriegürtel von Manaus hergestellt. Ja, wir sind Indianer, aber auch wir machen Fortschritte. Unser Bundesstaat macht Fortschritte."

Tatsächlich ist Manaus schon jetzt die reichste Stadt des Nordens und nach Sao Paulo und Rio zur drittgrößten Wirtschaftsmetropole des Landes herangewachsen. Längst ist unter den brasilianischen Bundesstaaten ein Konkurrenzkampf um die Ansiedlung ausländischer Unternehmen entbrannt: auch im Süden denkt man über Steuervergünstigungen nach.

Montagmorgen ist Manaus eine lebhafte, lärmende Stadt. Im Minutentakt schaufeln qualmende Busse Tausende Menschen aus den Vororten in die Innenstadt. Auch die Straßen zum Herzen der Freihandelszone, dem nördlich gelegene Industriegebiet, sind verstopft. Der Taxifahrer schimpft: Jeden Monat werden hier 2000 Autos neu angemeldet. Und das in einer Stadt, die keine Ausfahrtsstraßen hat! Doch seit Brasiliens Wirtschaft boomt, hat auch die sogenannte C-Klasse Geld für neue Autos. Brasilien benennt den sozialen Status seiner Bevölkerung als mit A-, B-, C-, oder D-Klasse

Tatsächlich hat Manaus zwei Gesichter: Die Stadt ist tiefe Provinz und quirlige Metropole mit nahezu zwei Millionen Einwohnern gleichermaßen. Die Einwohnerzahl nahm in den letzten 50 Jahren drastisch zu. Dies liegt zum einen an der hohen Geburtenrate. Zum anderen auch an der raschen industriellen Entwicklung der Freihandelszone.

Ein großer, blumengeschmückter Kreisverkehr bildet die Eintrittspforte zur sogenannten Zona Franca, einem Industriegebiet so groß wie das gesamte Stadtgebiet von Manaus. Es ist das Tor in eine wohlgeordnete, saubere Welt. Zu beiden Straßenseiten Riesenhangars. Hier gibt es stinkende Industrie, sondern klimatisierte Montagehallen. An den Fabriktoren prangen die Markenzeichen der Globalisierung: Honda, Nokia, Yamaha, Panasonic, LG, Philips, Sanyo, Kodak, Xerox. 600 Unternehmen sind es schon.

Hier produzieren sie rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Ein Teil der Produkte geht nach Europa und in die USA. Der Rest versorgt den brasilianischen Binnenmarkt: Seit die Wirtschaft boomt, ist auch der Binnenmarkt unersättlich. Alle wollen Motorräder, Computer, Handys.

80 Prozent aller in Brasilien gefertigten Elektrogeräte stammen aus Manaus, dazu nahezu alle Motorräder auf Brasiliens Straßen.

Die Schaltzentrale der Freihandelszone ist das sogenannte SUFRAMA, eine Art Spezial-Ministerium für Turboinvestitionen. Vorsitzender Oldemar Lanck hat wenig ökologische Bedenken gegen die rasante wirtschaftliche Entwicklung der Region. Arbeitsplätze sind das oberste Gebot des Programms zur Beschleunigung der Wirtschaft, das seit der Regierung um Lula da Silva durchgezogen wird. Für Lanck trägt die Ansiedlung neuer Industrien sogar zum Schutz des Regenwaldes bei.

"Unsere Perspektive ist klar auf Wachstum ausgerichtet, Arbeitsplätze schaffen, die Produktion erhöhen, aber jenseits davon soll das Projekt Manaus ein Beispiel für den Umweltschutz sein. Wir haben schon bewiesen, dass wir viele Arbeitsplätze auf einem kleinen Areal schaffen können, damit die Menschen von hier, auch die Zuwanderer, nicht weiterhin den Regenwald abholzen müssen, um überleben zu können."

Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Kautschuk Manaus zu einer der reichsten Städte der Welt gemacht. Um 1890 wurde aus dem kleinen Dorf Manaus eine Großstadt mit breiten Straßen, elektrischer Beleuchtung und der ersten Straßenbahn Brasiliens. Manaus galt als Paris des tropischen Regenwaldes.

Der Kautschukboom fand seinen Ausdruck im dekadenten Lebensstil der Kautschukbarone. Sie waren es, die das Bild von einer mit Geldscheinen angezündeten Zigarre prägten. Den Höhepunkt dieser Extravaganz stellte der Bau des Teatro Amazonas in Manaus dar.

Heute wird der Platz vor dem Theater grunderneuert. Einheimische Steinmetze bearbeiten die sogenannte calcada portuguesa, jenes berühmte portugiesische Basaltpflaster in Schwarz und Weiß, aus vergangener Herrlichkeit.

"Ja, es passiert viel. Zumal ja jetzt auch Brasilien 2014 Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft wird. Das ist mit Sicherheit ein Grund um etwas vorwärts zu kommen in der Infrastruktur. Krankenhäuser, Schulen, Sozialprojekte ... ein kleines Problem dabei: Brasilien hat ein superschnelles Wachstum in den letzten Jahren gemacht, es stimmt nicht ganz mit der Relation und den Einkommen. Brasilien ist leider in den letzten drei Jahren sehr teuer geworden."

Thomas Adolpho wanderte vor 18 Jahren von Nürnberg nach Manaus aus und betreibt in der Stadt die Reiseagentur Amazon Tommy Tours. Heute ist vieles teurer geworden, was viele Touristen abschreckt.

"In den Supermärkten, sage ich immer, waren die Regale schmal, aber die Gänge breit. Heute hat sich das etwas verändert, die Gänge sind etwas schmäler geworden und man findet mehr Waren in den Regalen. Ein gutes Beispiel ist, eine Milch im Tertrapack, die gab es vor 18 Jahren nicht, es gab nur Milchpulver hier. Wobei ich mich dann auch gefragt habe, ob ich hier denn so ganz richtig bin, weil es für meinen Kaffee keine Milch gab. Irgendwann habe ich die erste Milch im Supermarkt gesehen, daneben eine Salami, da dachte ich, ja, es geht vorwärts."

Vorwärts geht es auch auf der Großbaustelle an der Schnellstraße zwischen Fluss -und Flughafen. Hier wird das neue Wahrzeichen der Stadt gebaut, die Arena da Amazonias: Ein für 45.000 Zuschauer konzipiertes Stadion, in dem Viertelfinalbegegnungen bei der Fußballweltmeisterschaft 2014 stattfinden sollten.

"Die Grundidee vom Stadion war ja im Prinzip dieses natürlich Eingebunden sein in diesem tropischen Umfeld, das heißt dieses Korbgeflecht, diese natürlichen Strukturen wie sie sich zu einem großen Schüsselgewebe im Prinzip verflechten, zu verbinden mit dem hier entstehendem Plateau,"

sagt Architektin Maike Carlsen beim Rundgang auf der Baustelle. Es gibt natürlich auch viele Diskussionen: Macht das Sinn, soviel Geld auszugeben? Manaus hat keinen großartigen Fußballklub, und alles für nur gerademal drei Viertelfinalspiele. Warum gibt man soviel Geld aus für ein Stadion, dessen Nutzen nicht 100 Prozent gesichert ist, ist natürlich auch für das Hamburger Architektenbüro eine große Verantwortung.

Rolf Joest serviert bei brütender Hitze deutsche Hausmannskost. Auch heute füllt sich sein kleines Restaurant bis auf den letzten Platz.

"Gosto muito desta salsicha, que é branca ... Ich mag diese Wurst, die weiß ist, sehr gerne", schwärmt ein brasilianischer Gast.

"Denen schmeckt es hervorragend. Die Firma haben wir vor sieben Jahren eröffnet. Dann hatten wir praktisch 90 Prozent europäische Kunden, 10 Prozent Brasilianer, und heute haben wir 80 Prozent Brasilianer und 20 Prozent Europäer. Also, wir sind schön gewachsen, die Leute haben das wunderbar angenommen hier in Brasilien. Deutsche Küche, deutsche Würste, Weißwurst, Kassler und Senf, deutsches Brot. Weizenbier. Schönes Fassbier dazu, die sind begeistert."

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