Blutarmer Geschichtswälzer

09.05.2012
Der Autor hat sich einiges vorgenommen. Er erzählt in diesem Roman zum einen von der Entstehung des monotheistischen Islams im siebten nachchristlichen Jahrhundert und zum anderen von der Entstehung der türkischen Republik.
Leicht hat es sich Nedim Gürsel nicht gemacht. Drei Hauptfiguren seines neuen Romans "Allahs Töchter" sind diese Töchter, und sie stehen als Statuen in der Kaaba in Mekka. Die vierte Hauptfigur ist ihrerseits eine jahrhundertelange Überlieferung erstarrt und festgeschrieben: es handelt es sich um den Propheten Muhammed.

Erst die fünfte und die sechste Hauptperson des Romans sind Menschen aus Fleisch und Blut: der Enkel, der offenbar mit dem Autor identisch ist, und sein Großvater. Da der Erzähler den Enkel beständig mit einem mal huldvoll, mal herablassend klingenden "du" anspricht und ihn selbst nichts sagen lässt, während die Gründung des Islam oft ins Hagiographische entrückt wird, verspricht allein der Großvater etwas Leben in die (Roman-) Bude zu bringen.

Gürsel, Jahrgang 1951, erzählt in dem Roman, für den er in der Türkei wegen der Verletzung religiöser Gefühle angeklagt und erst nach einem Jahr freigesprochen wurde, abwechselnd von der Entstehung des monotheistischen Islams im siebten nachchristlichen Jahrhundert und der Entstehung der türkischen Republik. Er lässt Muhammed heranwachsen und als Propheten des EINEN Allah gegen den durch Allahs Töchter personifizierten Polytheismus kämpfen. Und er lässt den Großvater 1913/14 im Namen des Islam gegen die ungläubigen Engländer kämpfen.

Muhammed wird erst vernichtend geschlagen, obsiegt aber schließlich. Die osmanische Armee des Großvaters unterliegt ebenfalls – den Engländern und den aufbegehrenden arabischen Untertanen –, doch das Osmanenreich geht unter. Die ihm folgende türkische Republik ersetzt die arabische Schrift durch die lateinische und den arabischen Gebetsruf durch den türkischen. Der damit hadernde Großvater kommentiert daraufhin den Koran, doch seine arabische Schrift kann der Enkel nicht lesen.

"Allahs Töchter" verknüpft also zwei gewaltige Entwicklungen: die zum Monotheismus und die zum Schisma von Glaube und Staat. Beide Dimensionen erschließen sich dem Leser nur teilweise. Das Gären unter den Moslems zur Zeit Muhammeds wird auf den Konflikt zwischen dem Propheten und den Mekka beherrschenden Kureysch verkürzt und durch den vorherrschenden Legendenton entrückt. Gürsel lässt die Götzenstatuen der Töchter Allahs zwar sprechen, aber nur das Naheliegendste. Den für sie gefährlichen Anspruch Muhammeds, Allahs Gesandter zu sein, kommentiert Allahs Tochter Lat etwas tantig hilflos mit "das behauptet er, ich weiß das nicht".

Etwas lebendiger gerät Gürsel, der wie nicht wenige türkische Intellektuelle den mystischen Islam der Sufis schätzt, das 20. Jahrhundert. Der Großvater bleibt allerdings trotz dramatischer Erlebnisse und einer Armamputation blass. Die ihn und vermutlich auch Muhammeds Zeitgenossen quälenden Glaubensprobleme – wie vernimmt der Mensch Allahs Stimme, wie setzt sich Allahs Wille auf Erden durch, wie stehen Glauben und Staat(en) zueinander – werden bestenfalls angeschnitten.

Dieser Komplexität scheint Nedim Gürsel an keiner Stelle gewachsen, und man fragt sich, warum er sie in Form eines Romans und gleich für zwei historische Zeiten darstellen wollte. Nur eines vermittelt sein Buch schmerzhaft deutlich: Wie sehr Kemal Atatürks Einführung der lateinischen Schrift die Nachgeborenen bis heute nicht nur vom Glauben, sondern auch von der Überlieferung ihrer Großeltern trennt.

Besprochen von Jörg Plath

Nedim Gürsel: Allahs Töchter
Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
346 Seiten, 24,95 Euro