"Bluff" ist selbst nicht mehr als ein Bluff

29.10.2012
Manfred Lütz will die Fälschungen, von denen wir umgeben sind, entlarven. Kapitel für Kapitel durchstreift er die Kulissen in unserem Leben: Von Wissenschaft, die sich für absolut nimmt, bis zu Personal Trainern. Das ist im Ansatz durchaus sympathisch, teilweise aber zu abenteuerlich.
Auf dem Buchmarkt gibt es ein schlichtes Erfolgsrezept: Cover, die so aussehen, wie die Bestseller von Richard David Precht. Zu diesen Fällen gehört auch das neueste Werk des Psychiaters und Theologen Manfred Lütz. Dabei hat er sich in "Bluff" nicht weniger vorgenommen, als die "Fälschung der Welt" zu entlarven. Und Richard David Precht lobpreist dann auch noch persönlich auf der Buchrückseite, Lütz schreibe "mit Verve gegen die Veruneigentlichung der Welt" an.

Damit ist das Stichwort genannt: das "Eigentliche". Es tritt bei Lütz auch als das "Wirkliche" oder das "Existentielle" auf. All den falschen Welten, in denen wir so vor uns hinleben, muss ja (logo!) etwas Echtes entgegengesetzt werden. Theodor W. Adorno hat dieses Muster schon vor nun bald fünfzig Jahren als "Jargon der Eigentlichkeit" kritisiert, der vorzugsweise in Volkshochschulen und Evangelischen Akademien gesprochen werde: schlichte Einsichten als edle Wahrheiten. Das "Eigentliche" als nebulöser Ort der höheren Weihen ist bei Lütz wahlweise die "wirkliche Liebe" oder aber Gott. Erst im Horizont von Gott und Liebe wird das Leben echt. So ähnlich reden auch Fernsehprediger, von denen Lütz sich jedoch schon dadurch zu unterscheiden meint, dass er deren Predigten in die Kategorie der Fälschungen einordnet. Doch nicht jeder, der Klischees als Klischees bezeichnet, ist davor gefeit, selber welche zu produzieren.

Als Großmetapher dient Lütz "Die Truman Show". Der Film handelt von einem jungen Mann, dessen ganzes Leben als soap opera live verfilmt wird. Um ihn herum nichts als Schauspieler in künstlicher Studiokulisse; nur er selbst ahnt nichts davon. Diese Kulissenhaftigkeit des Daseins buchstabiert Lütz Kapitel für Kapitel durch und streift damit sämtliche modernen Lebensbereiche: Wissenschaft, die sich für absolut setzt, Psychosekten, Gesundheitsapostel und Fitnesswahn, Personal Coaches, "die Medien" und das Internet, die Welt der Finanzakrobaten und Religionssurrogate aller Art. Das ist im Ansatz durchaus sympathisch, weil es den Zweifel stärkt und immer mit dem Gestus vorgetragen wird: In Maßen und mit Bewusstsein genossen ist das alles gar nicht so schlimm.

Richtig abenteuerlich wird es jedoch, wenn Lütz gegen die "Fälschung der Geschichte" anschreibt. Da steht Marx' durchaus diskutabler "historischer Materialismus" bruchlos neben Rosenbergs rassistischer Nazi-Schrift "Der Mythos des 20. Jahrhunderts": Alles Fälschungen, alles Propaganda, alles eins. Marx' Theorie der "Entfremdung" wäre im Zweifelsfall allerdings die sehr viel schärfere, genauere und vor allem systematische Analyse dessen, was Lütz "Fälschung" nennt. Nicht jede Epoche hat einen Diktator als fälschendes Subjekt. Geschichte ist komplizierter und immer abhängig von den zeitbedingten Beschränkungen derer, der sie interpretieren.

Wer von "Fälschungen" spricht, muss aber auch die Fälscher benennen und ihre Interessen. Wer führt uns da hinters Licht und warum? Lütz, ernst genommen, setzt einen gewaltigen totalitären Verschwörungskosmos abgefeimter Welt-Fälscher voraus, eine Konsequenz, die er aber lieber ausblendet, weil sie das ganze Buch in seiner Lächerlichkeit bloßstellen würde. Jargon der Eigentlichkeit: "Bluff" ist selbst nicht mehr als ein Bluff.

Besprochen von Jörg Magenau

Manfred Lütz: "Bluff! Die Fälschung der Welt"
Droemer, München 2012
190 Seiten,16,99 Euro
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