Bloggerin Lina Ben Mhenni über die Revolution in Tunesien

"Die Polizeigewalt ist wieder da"

Die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni
Die tunesische Bloggerin Lina Ben Mhenni wurde unter anderem dafür bekannt, dass sie Bilder von vom Regime getöteten Menschen veröffentlichte. © imago/ Zuma Press
Lina Ben Mhenni im Gespräch mit Max Oppel · 13.01.2017
Die tunesische Bloggerin und Internetaktivistin Lina Ben Mhenni ist eines der international bekannten Gesichter des Tunesischen Arabischen Frühlings. Sie rief ihre Mitmenschen damals unter anderem dazu auf, sich für die Revolution via Internet zu vernetzen. Anlässlich des sechsten Jahrestags der Revolution zieht sie ein ernüchtertes Fazit über die Möglichkeiten des Internets.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben vor einiger Zeit das Buch "Vernetzt Euch" geschrieben. Heutzutage sind viele Menschen vernetzt - über Facebook oder über Blogs, aber die Folge davon ist in den westlichen Ländern nicht gerade mehr Freiheit, sondern eine wachsende Debatte über Fake-News und Hass-Reden. Wie steht es in Tunesien heute um diese Vernetzung, die Sie damals angesprochen haben, haben sich Ihre Vorstellungen und Hoffnungen erfüllt - zumindest in Ihrem eigenen Land?
Lina Ben Mhenni: Das Internet hatte zur Beginn der Revolution des arabischen Frühlings einen großen Einfluss. Es hat viel dazu beigetragen, aber es ist immer nur ein Werkzeug. Viele neigen dazu, die Rolle des Internets zu übertreiben. Ich sage immer, dass die Revolution in Tunesien erfolgreich war, dank des Einsatzes der Menschen vor Ort. Es stimmt, dass das Internet dabei helfen kann, Dinge zu verändern, aber es kann nichts alleine verändern, ohne dass Menschen direkt aktiv werden. Wenn wir uns heute die Situation in Tunesien anschauen, sehen wir, dass das Internet zu einem zweischneidigen Schwert geworden ist. Ja, es liefert weiterhin Informationen und hilft bei Solidaritätsaktionen, aber es gibt auch Leute die es nutzen, um Hass zu verbreiten und Hasskampagnen gegen andere Menschen loszutreten. Die Rolle des Internets hängt also einzig und allein davon ab, wie wir es nutzen.

"Ich lebe seit über drei Jahren unter Polizeischutz"

Deutschlandradio Kultur: Und wie sieht die Situation der tunesischen Blogger und Aktivisten wie Ihnen heutzutage aus? Gibt es noch viele und sind diese auch in der Lage zu arbeiten trotz der Bedrohungen, denen sie in Tunesien ausgesetzt sind?
Lina Ben Mhenni: Die Blogger, die sich bereits unter dem Regime von Ben Ali entschieden hatten, aktiv zu werden und das auch während der Revolution waren, sind derzeit nicht mehr so vereint, wie sie es einmal waren. Die meisten haben aufgehört zu bloggen. Manche haben sich politischen Parteien angeschlossen oder Bürgerinitiativen gegründet. Einige, wie ich auch, bloggen immer noch und es gibt auch neue Blogger, aber die Mehrheit der neuen Blogger ist nicht mit den gleichen Zielen aktiv wie wir. Wir haben aus Leidenschaft und Liebe zu unserem Land gebloggt, mit der Hoffnung auf Veränderungen.
Die neuen Blogger sind vor allem des Geldes wegen aktiv oder in der Hoffnung auf Positionen innerhalb der Parteien - das ist traurig. Diejenigen, die noch für die Durchsetzung der Ziele der Revolution kämpfen, werden in der Tat von Hasskampagnen ins Visier genommen und bedroht. Ich lebe seit über drei Jahren unter Polizeischutz. Andere Blogger sind wegen ihrer Ansichten festgenommen worden, auch wenn wir heute von Tunesien als von einer Demokratie sprechen.
Deutschlandradio Kultur: Sie sagen also, dass Tunesien heute weit weg vom Ziel der Freiheit und Demokratie ist. In ihrem Blog schreiben Sie auch, dass Sie nicht verstehen können, wie die Leute die Märtyrer der Revolution vergessen konnten. Stellen Sie das im tunesischen Alltagsleben tatsächlich so fest?
Lina Ben Mhenni: Ja, sechs Jahre nach dem Weggang von Ben Ali kann ich Leuten, die sagen, dass die tunesische Revolution ein Erfolg war, nicht zustimmen. Es stimmt, dass wir es geschafft haben, eine neue Verfassung zu schreiben und neue Regierungsinstitutionen zu bilden und so weiter, aber ich mag diese Tendenz nicht, Tunesien mit anderen Ländern des arabischen Frühlings zu vergleichen, da jedes Land seine eigenen Merkmale hat.
Man kann es so formulieren: Die aktuelle Situation in Tunesien ist nicht wirklich gut. Wenn man sich die Ziele der Revolution ansieht, sind die meisten nicht in die Tat umgesetzt worden. Was die Ziele von Beschäftigung, Freiheit, Würde, und sozialer Gerechtigkeit betrifft, ist es richtig, dass wir zu einem bestimmten Zeitpunkt eine gewisse Freiheit erreicht hatten, aber jetzt ist das nicht mehr der Fall. Es gibt sogar bezüglich der Freiheit eine Rückwärtsbewegung. Die Verhaftungen von Bloggern und Menschen, die ihre Meinung vertreten, habe ich ja schon erwähnt. Die Polizeigewalt ist wieder da. Persönliche Freiheiten sind sehr eingeschränkt und Menschen können sogar dafür inhaftiert werden, dass sie zum Beispiel homosexuell sind. Die wirtschaftliche Situation ist noch schlechter geworden - die Arbeitslosigkeit noch größer.
Die meisten Ziele sind nicht erreicht worden und die meisten Tunesier glauben, dass die Revolution in die falsche Richtung läuft, dass wir uns mehr anstrengen müssen, um die Situation zu verbessern. In Tunesien gibt es das neue Phänomen des Terrorismus, das ist ein weltweites Phänomen, aber es existiert nun auch in Tunesien und wir kannten das so vorher nicht. Wir müssen Widerstand leisten und weiter kämpfen, um diese Situation zu ändern.
Tunesier beklagen ihre Verwandten, die während des sogenannten Arabischen Frühlings ums Leben kamen.
Tunesier beklagen ihre Verwandten, die während des sogenannten Arabischen Frühlings ums Leben kamen.© Mohamed Messara, dpa picture-alliance

"Fake News sind ein großes Problem in Tunesien"

Deutschlandradio Kultur: Terroristische Bewegungen bedienen sich ja ebenfalls des Internets um Werbung für sich zu machen. Wie groß ist das Problem der Fake-News, der Propaganda über das Internet in Tunesien?
Lina Ben Mhenni: Das ist ein großes Problem in Tunesien. Natürlich gibt es Terroristen, die über das Internet versuchen, junge Leute zu erreichen und zu rekrutieren und die Hass verbreiten. Wir hatten in Tunesien zwei politische Morde - an Chokri Belaid und Mohammed Brahmi, zwei linke Führungspersönlichkeiten, die 2013 umgebracht wurden. All dies begann im Internet mit Hasskampagnen. Da ist zum Beispiel ein Journalist und Blogger, der in Libyen verschwunden ist. Es wird vermutet, dass er von terroristischen Gruppen entführt wurde und dies wird direkt mit Hassreden und Diffamierungen im Internet gegen ihn, die ihn als Ungläubigen darstellten, in Verbindung gebracht. Es ist also wirklich ein gefährliches Phänomen. Das Internet sollte auf die richtige Art und Weise genutzt werden, um die Dinge im positiven Sinne zu verändern und wir müssen extrem vorsichtig mit unserem Gebrauch dieses Werkzeugs sein. Leider ist die Nutzung des Internets durch terroristische Gruppierungen heutzutage ein weltweites Phänomen, und wir sollten gemeinsam dagegen vorgehen.
Deutschlandradio Kultur: Sie bloggen und twittern weiter und reisen um die Welt, um das Interesse auf diese Probleme in Tunesien zu lenken. Haben Sie dadurch schon etwas erreichen können?
Lina Ben Mhenni: Ja, lassen Sie es mich so sagen, ich glaube, dass es sehr hilfreich ist, die Wahrheit zu verbreiten und die Situation so zu zeigen, wie sie tatsächlich ist, auch wenn keine sofortigen Auswirkungen spürbar sind. Eine meiner Aktivitäten besteht darin, Bücher für Gefängnisse zu sammeln um damit gegen den Terrorismus zu vorzugehen. In Tunesien sind die Gefängnisse Orte, an denen junge Leute für den Terrorismus und den Jihad in Syrien und im Irak rekrutiert werden. Dagegen kämpfe ich zur Zeit und nutze die sozialen Medien, um das zu verbreiten - und es funktioniert.
Weitere Informationen: Lina Ben Mhennis Blog
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