Blogger: Die Prism-Daten sollten allen zugänglich sein

Michael Seemann im Gespräch mit Dieter Kassel · 12.06.2013
Wer sich im Internet bewegt, kann sich dem Zugriff von Geheimdiensten praktisch nicht entziehen, sagt der Kulturwissenschaftler und Blogger Michael Seemann. Der demokratischen Gesellschaft sei am besten gedient, wenn sie Überwachung selbst demokratisiert. Die Daten sollten jedermann zugänglich sein.
Dieter Kassel: Die EU-Justizministerin fordert eine neue europäische Datenschutzrichtlinie – strenggenommen eine, die eigentlich schon vorliegt, und die nun endlich umgesetzt werden soll. Experten raten dazu, möglichst keine wichtigen Daten in der Cloud zu speichern, und wenn, dann nicht bei Anbietern, die ihren Hauptsitz in den USA haben, und so manch ein europäischer Politiker möchte jetzt mal mit Obama reden. Die Reaktionen auf die Komplettüberwachung des weltweiten Internetverkehrs durch den amerikanischen Geheimdienst NSA wirken ein wenig hilflos, wenn man sich das Ganze genau anguckt. Man könnte sogar den Eindruck bekommen, eigentlich sei da sowieso gar nichts zu machen. Ist das so? Müssen wir uns von unseren Vorstellungen von Datenschutz und Privatsphäre angesichts der Realitäten in der digitalen Welt verabschieden? Das fragen wir jetzt den Kulturwissenschaftler und Blogger Michael Seemann. Eines der von ihm betriebenen Blogs heißt nämlich auch ".ctrl-verlust", und das gibt es jetzt nicht erst sein ein paar Tagen, seit das bekannt geworden ist, sondern schon eine ganze Weile länger. Schönen guten Tag erst mal, Herr Seemann!

Michael Seemann: Hallo!

Kassel: All diese Tipps: Wenn schon Cloud, dann irgendein Anbieter, der seinen Hauptsitz bei uns hat, Hintergrund: Dann ist das das deutsche Datenschutzrecht, das da angewendet werden muss. Keine Google-Mail-Adresse, nicht bei Google suchen, sondern bei Ixquick oder anderen Alternativen. Ist das alles wirklich sinnvoll, um sich gegen das zu wehren, was wir jetzt alles erfahren haben?

Seemann: Ich glaube, gegen Prism als konkreten Fall der Überwachung kann das im Einzelfall durchaus helfen, im Allgemeinen nicht überwacht zu werden, glaube ich eher nicht. Wenn man deutsche Anbieter, sich bei deutschen Anbietern anmeldet, dann wird man wahrscheinlich den deutschen Geheimdienst da mithören haben, denn die haben ähnliche Programme aufgelegt. Und da kann man sich aussuchen, ob man jetzt sozusagen von den Amerikanern oder von den Deutschen oder vielleicht von Franzosen oder Russen oder wem auch immer überwacht werden möchte. Aber ich glaube, also wirklich überwachungsfrei ist es sehr, sehr schwierig. Da gibt es ein paar Dinge, die man tun kann, beispielsweise Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, damit bekommt man das einigermaßen hin, das ist aber … selbst da ist man nicht sicher, dass zum Beispiel die NSA schon bereits auf dem Rechner sitzt und dort halt mithört.

Kassel: Andere Variante wäre ja dann eben kein Internet, ein paar Sachen auf der eigenen Festplatte, sonst nichts mehr, wo man zugeben würde … auch konkret nicht reichen. Dieser Überwachungsskandal grade, da ist ja eine der betroffenen Firmen Verizon, ein Handynetz in den USA. Lassen Sie uns doch mal weiterdenken: kein Internet mehr, kein Mobiltelefon mehr. Festnetzanschlüsse kann man auch überwachen. Sind wir irgendwann bei Tinte und Brieftauben? Das kann ja auch nicht die Lösung sein.

Seemann: Ganz genau. Ich glaube, wir haben uns da mittlerweile an einen Kommunikationsstandard gewöhnt, den wir durch das Internet genießen. Und wir haben eigentlich auch keine Lust, uns darin einzuschränken. Und selbst Google kann man natürlich durch beispielsweise Ixquick oder so etwas, die weniger Daten sammeln, ersetzen, aber dann hat man auch sehr viel schlechtere Ergebnisse. Wer bereit ist, diesen Preis zu zahlen, der kann das auch tun, und ich finde das auch völlig legitim. Aber ich glaube, es gibt eine ganze Menge Leute, für die das nicht die Lösung ist.

Kassel: Es gebe eine mögliche andere: Es gibt eine zugegebenermaßen kleine Bewegung in der Szene, die sich für etwas ausspricht, was die dann Post Privacy nennen, und das ist mal sehr versimpelt ausgedrückt, zu sagen: Man braucht keinen Datenschutz mehr, wenn wir überhaupt gar keine Daten mehr schützen, und das auch noch freiwillig, also Ende der Privatsphäre. Wäre das die Lösung, wenn ich jetzt Ihre E-Mails lesen kann und Sie meine und wir alle auf der ganzen Welt? Dann wären die dadurch ja für die NSA auch uninteressanter.

Seemann: Der Post-Privacy-Diskurs ist im Grunde genommen eine Reaktion auf, sage ich mal, den gescheiterten Datenschutz. Das ist ja auch sehr schön dargestellt worden von Ihnen: Beispielsweise die EU-Datenschutz-Grundverordnung, die momentan diskutiert wird auf europäischer Ebene, enthält wirklich gar nichts, was uns irgendwie vor dieser NSA-Schnüffelei bewahren kann. Da gibt es keinerlei Stellschrauben, also die ist da komplett machtlos. Und egal, wie scharf man sie formulieren würde, es würde uns nicht vor Überwachung schützen. Das heißt, wir müssen uns erst einmal mit einer gewissen Grundüberwachung mehr oder weniger abfinden. Und dann ist die Frage, wie gehen wir damit um. Wie gehen wir in einer Gesellschaft damit um, dass halt Überwachung stattfindet. Und ich glaube, dass der demokratischen Gesellschaft am besten dadurch gedient ist, wenn diese Überwachung selbst wieder demokratisiert wird. Das heißt also, wenn eben zum Beispiel die Daten, die gesammelt werden, öffentliches Gut sind, das dann eben von jedem verwendet werden kann, dass eben keine Geheimdienste sozusagen sich nicht in die Karten schauen lassen und für sich alleine nur Daten sammeln, sondern dass diese Daten dann eben für jedermann zur Verfügung stehen.

Ich will ein Beispiel geben: Wikileaks hat heute Nacht getwittert und hat die Frage aufgeworfen, wie viele Leute momentan in amerikanischen Gefängnissen sitzen, denen durch die Daten, die in Prism gesammelt wurden, jetzt beispielsweise entlastende Daten enthalten würden. Das ist zum Beispiel mal so eine Umkehrfrage, und diese Frage wird natürlich, ist natürlich, kann natürlich nicht gestellt werden, weil niemand auf diese … weil der NSA natürlich niemand an diese Daten ranlässt. Er hat alleinige Herrschaft über diese Daten und kann sie alleine interpretieren, und das wird uns, und das wird dann im Zweifel gegen uns interpretiert. Und um uns dagegen zu wehren, müssten wir selber auf die Daten zugreifen können, um uns zum Beispiel auch in diesen Daten Entlastungsindizien herauszusuchen. Und das ist eben der Punkt, dass die Daten selber nicht das Problem sind. Die Daten sind nicht gut und nicht böse, man kann aber, wenn man ein Monopol auf diese Daten hat, sie durchaus machtvoll einsetzen.

Kassel: Aber ist diese Offenheit, die Sie da fordern, oder sagen wir mal, vorschlagen, nicht ein Widerspruch in sich, beziehungsweise ein Widerspruch gegenüber den Aufgaben eines Geheimdienstes? Die NSA würde uns doch bestimmt sagen: Na ja, dem Seemann und dem Kassel würde ich das im Zweifelsfall geben, aber dann wissen es die Iraner und die Chinesen plötzlich auch.

Seemann: Ja, man muss sich auch, glaube ich, grundsätzlich die Frage stellen, und das ist ja nicht erst seit heute, steht das infrage, ob so etwas wie ein Geheimdienst überhaupt mit einer demokratischen Verfasstheit eines Staates in Einklang zu bringen ist. Und da gibt es eine ganze Menge Leute, die sagen, das ist eigentlich nicht der Fall, das ist eigentlich ein Fremdkörper innerhalb einer offenen demokratischen Gesellschaft. Und ich würde viel eher die Anstrengung unternehmen zu sagen: Wie können wir ohne solche Dienste auskommen? Oder wenn wir mit solchen Diensten leben müssen, wie können wir sie so gestalten, dass sie zumindest einer demokratischen Kontrolle unterliegen? Und gerade in den USA liegt da vieles im Argen, gerade mit der NSA. Und ich glaube, dorthin sollten wir die Debatte bringen: Wie transparent muss der NSA werden?

Kassel: Wir unterhalten uns hier im Deutschlandradio Kultur, nachdem bekannt wurde, wie umfangreich amerikanische Behörden, vor allem Dingen der erwähnte NSA, den Internetverkehr überwachen, mit dem Blogger und Kulturwissenschaftler Michael Seemann über die Folgen, die wir daraus ziehen sollten und überhaupt können. Aber vielleicht sollte man auch darüber sprechen, dass es doch auch in einem bestimmten Punkt, finde ich, Herr Seemann, eine neue Form der Überwachung ist. Bisher haben wir uns ja immer diese Geheimdienstleute mit den Kopfhörern auch vorgestellt, die irgendwelche Telefonleitungen anzapfen. Es ist ja nicht nur diesmal so, dass es abgesehen vom Mobilverkehr gar nicht um gesprochenes Wort geht, sondern eher um Daten, Texte und sonst was. Das heißt, wir reden doch von einer so unglaublichen Datenmenge, die kann man doch nicht klassisch so auswerten, wie man das früher gemacht hat.

Seemann: Ja, natürlich, also, da kann man jetzt nicht irgendwie Sekretärinnen dransetzen oder so etwas, die dann das transkribieren oder so etwas. Das wird natürlich alles mittlerweile automatisch ausgewertet, und das ist ja … Also wenn ich meistens von einem Kontrollverlust spreche, dann meine ich hauptsächlich auch genau diese Entwicklung, die wir momentan in Sachen Datenanalyse haben. Gutes Beispiel sind tatsächlich Bewegungsprofile, die man anhand von Mobilfunkmastdaten, also von Zellenabfragen bekommen kann, was man da mittlerweile alles herausbekommen kann, und aus diesen Metadaten, über den normalen Tagesablauf eines Menschen, ist halt schon ziemlich krass. Und es gibt auch mal wieder Beispiele, wo Wissenschaftler zeigen, wie man beispielsweise auch anonymisierte Daten in Bewegungsprofilen wieder deanonymisieren kann und solche Geschichten. Das heißt also, momentan sehen wir eine Entwicklung, die zeigt, dass mehr Daten nicht weniger auswertbar sind, sondern je mehr Daten man hat, desto besser kann man diese Daten auch auswerten. David Weinberger hat mal gefragt … auf die Frage, was sollen wir gegen die ganzen Daten machen, hat er gesagt: Wir brauchen mehr Daten. Und er hat damit recht, weil tatsächlich die neuen Analysemethoden nicht vor der Menge der Daten kapitulieren, sondern dass ich mit der Menge der Daten noch viel mehr Information aus vorhandenen Daten herausholen kann. Das Stichwort ist dabei Big Data, das wird auch heiß diskutiert auf allen Ebenen, und ja, das wird heutzutage schon eingesetzt und ist auch die Zukunft und wird die Gesellschaft so oder so auch sehr, sehr viel transparenter machen. Und ich bin mir sicher, dass auch im NSA da die entsprechenden Spezialisten mit Big Data operieren.

Kassel: Die Frage ist natürlich immer, wenn so etwas vorübergehend so hochgekocht wird wie jetzt – Riesenskandal, NSA, die Frage, hat nun Facebook und Google freiwillig mitgemacht oder nicht, die Konzerne bestreiten das ja und erzählen, dass sie da ganz anhand ihrer eigenen Richtlinien vorgegangen sind, was wird nun aus Snowden, der das Ganze bekannt gemacht hat –, Riesenthema, aber glauben Sie, dass das auf die Dauer konkret was verändern wird, das, was wir hier gerade diskutieren, auch für die Verbraucher? Wird Google plötzlich keine Benutzer mehr haben und Facebook auch nicht?

Seemann: Ich bezweifle das. Wir haben so viele, ich sage mal, Datenskandale bezüglich Google oder Facebook oder so etwas gehabt, und jedes Mal wurde gesagt: Und jetzt ist aber der Punkt erreicht, dass wir jetzt alle austreten, gemeinsam. Und im Endeffekt hat das nicht mal eine nur kleinste signifikante Abwanderung von Leuten gegeben. Und ich bin mir relativ sicher, dass auch dieser Aufschrei sozusagen jetzt wieder verhallen wird, ohne dass jetzt wirklich konkret Dinge passieren. Ich würde mir wünschen, dass tatsächlich dort ein Druck entsteht, also tatsächlich. Ich fände das gut, wenn Leute dort abwandern würden, denn beispielsweise hat die USA jetzt die Gesetzesgrundlage, auf derer sie diese Überwachung machen, das ist ja … das sind diese geheimen Court Orders, also die geheimen Gerichtsverfahren, das ist ein Gesetz, das extrem undemokratisch ist, also wo man beispielsweise Dinge tun muss und nicht drüber reden darf, dass die Firmen dann auch nicht drüber reden dürfen. Das ist eine extrem intransparente Geschichte, und wenn dort ein bisschen Druck auf die Politik ausgewirkt würde, dass halt einer ihrer Kernwirtschaftssektoren, was die Technologie nun mal ist, plötzlich einen Standortnachteil durch diese Gesetzgebung hat, und dadurch dann sozusagen dieser Gesetzgebung sich wieder entledigt – ich fände das eine gute Sache. Aber um ganz ehrlich zu sein, ich bin da relativ pessimistisch. Ich glaube, wir werden weiterhin auf Google und Facebook bleiben, und dort auch mit unseren Leuten kommunizieren.

Kassel: Sagt der Kulturwissenschaftler und Blogger Michael Seemann, er hat mehrere Projekte im Internet. "ctrl-verlust" habe ich erwähnt, den Blog, "mspr0" gibt es noch, andere Seiten – brauchen Sie sich alles nicht zu merken, finden Sie als Link auf unserer Internetseite dradio.de. Herr Seemann, vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema