Blindsein macht keine Opernhelden

Von Roger Cahn · 12.11.2011
Vor drei Jahren hat der junge deutsche Komponist Anno Schreier mit seiner Kurzoper "Hinter Masken" den Wettbewerb "Teatro minimo" gewonnen. Als Preis erhielt er vom Züricher Opernhaus den Auftrag zu einem abendfüllenden Werk. "Die Stadt der Blinden" wurde jetzt uraufgeführt. Die Aufnahme beim Premierenpublikum war zwiespältig.
Theoretisch haben Anno Schreier und seine Librettistin Kerstin Maria Pöhler alles richtig gemacht. Mit José Saramagos Erfolgsroman "Die Stadt der Blinden", für den dieser portugiesische Autor 1998 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, haben sie sich einen faszinierenden Stoff ausgesucht: das Zusammenleben von Menschen unter Extrembedingungen, unter dem Einfluss einer unvorhergesehenen Katastrophe.

Dass ihre Rechnung in der Bühnenpraxis nicht aufgeht, liegt wohl daran, dass eine Menschenmenge in end- und grenzenloser Verzweiflung weder Opernhelden kreiert noch über zwei Stunden zu faszinieren vermag. Während ein Roman oder ein Film - der Stoff wurde auch erfolgreich auf die Leinwand gebracht - immer wieder die Fokussierung auf einzelne Figuren ermöglicht, herrscht auf der Bühne ständig Totale. Eine Oper lebt aber von Einzelschicksalen, deren emotionale Spannungen durch nichts besser ausgedrückt werden als durch Gesang. Und genau diese Aufgabe erfüllen weder das Libretto noch die Musik.

Regisseur Stephan Müller verfolgt ein klares Konzept: Von Akt zu Akt wird die Lage der Blinden in ihrer Stadt schlimmer. Werden im ersten Akt einzelne Personen in Quarantäne gesetzt, folgt im zweiten die grosse Masse - die Quarantäne wird zum Lager. Dann werden Menschen durchs "Eingepferchtsein" zu Tieren. Schliesslich wandelt sich die kleine Welt zur Hölle, um dann in einer nebligen Apotheose zu gipfeln. Während Samarago eine Art Happy End hinter seinen Roman setzt - die Blinden werden wieder sehend - lassen Schreier und Pöhler den Schluss offen. Während der Roman in einer realistischen früheren Psychiatrieklinik angesetzt ist, öffnet die Oper politische Dimensionen: Die Stadt könnte auch ein Internierungslager, ein Gulag oder ein Konzentrationslager sein. Das macht Terror zwar fassbarer, verdeckt umgekehrt die Sicht auf einzelne Schicksale.

Ähnliches lässt sich auch über die Musik sagen. Theoretisch schafft die Not Emotionen, welche durch Gesang optimal ausgedrückt werden könnten. Schreier aber fehlt genau dieser Mut zur Emotionalität. Seine Sprache bleibt konventionell. Die Musik geht nicht unter die Haut. Vielleicht hat genau dieser Mangel an Risikofreude dem traditionell gesinnten Teil des Premierenpublikums gefallen. "Für ein zeitgenössisches Werk war es gar nicht so schlimm!" Fazit: Besser den Roman lesen.

Zur Homepage Züricher Opernhaus
Mehr zum Thema