Blicke auf das einstige industrielle Herz

25.10.2012
In ihren Büchern verbinden Andreas Rossmann und Wilfried Kaute die Epochen, die den Städten des Ruhrgebiets ihr Gesicht gaben und geben: das industrielle und das postindustrielle Zeitalter.
"Wir im Pott sind einfach anders zu Hause", sprach der Herr Pichotka - ein wahrhaft polyglotter Ruhrpöttler: geboren und wohnhaft in Bottrop, Theaterbesucher in Oberhausen, mit Arbeitsplatz in Essen und Studium in Bochum, früheren Jobs in Dinslaken und Mühlheim.

Anders zu Hause? "Sind eben keine Städter", sprach der Herr Pichotka, als Andreas Rossmann von ihm wissen wollte, ob er sich eine Ruhrstadt wünscht. Wünschen sich angeblich 57 Prozent der Menschen zwischen Duisburg und Dortmund. Wünscht sich der Herr Pichotka nicht. Wünscht sich indes der FAZ-Kulturkorrespondent für Nordrhein-Westfalen mit Sitz in Köln, Andreas Rossmann, ein wenig.

Der "drittgrößte europäische Ballungsraum" mit anderthalb Millionen Einwohnern mehr als Berlin, mit elf Städten und vier Kreisen, aufgeteilt auf drei verschiedene Regierungsbezirke. Mit Deutschlands größtem Filmtheater, der Lichtburg in Essen. Mit dem "größten Binnenhafen der Welt" in Duisburg. Mit, in Bochum, der weltweit ersten S-förmigen Brücke, die "ausschließlich an den Innenseiten der Kurven aufgehängt, Fuß- und Fahrradverkehr zu tragen imstande ist". Das klingt kompliziert, doch Andreas Rossmann beschreibt das schwingende kleine Wunderwerk mit seinen Masten und Abspannseilen und Pfeilen so liebevoll und anschaulich, dass wir neben ihm im Wind die "leichte Seefahrt" genießen.

Auch, wenn wir von Architektur keine Ahnung haben; auch, wenn wir uns für Architektur überhaupt nicht interessieren: Andreas Rossmann hat die Ahnung und das Interesse für uns mit. Und so zieht sich die Architektur wie ein roter Faden durch seinen Band mit 44 FAZ-Artikeln, die zwischen 1988 und 2011 erschienen sind.

Andreas Rossmann, Sohn eines Karlsruher Architekten, hat zwei Leidenschaften. Erstens: Das Gebäude an sich - unter besonderer Berücksichtigung der Gewinnung profaner Zweckbauten für die Zwecke der Kultur. Zweitens: Das Ruhrgebiet an sich - unter besonderer Berücksichtigung der Gewinnung düsterer Industriebrachen für die lichte Kulturlandschaft. Wie die Essener Zeche Zollverein, die zum Unesco-Weltkulturerbe umgemodelt wurde. Oder wie der Oberhausener Gasometer, einst "größter Scheibengasbehälter Europas" und vor gut zwanzig Jahren durch die Internationale Bauausstellung Emscher Park zum Ort von Ausstellungen und Konzerten gemacht, zum Hort von Theatern und Kunstprojekten.

Sein Stil ist meist nüchtern, wenn auch nicht langweilig: durchbrochen von gelegentlich sehr plastischen architektonischen oder landschaftsgärtnerischen Details - die uns in diverse Landschaftsparks führen, wo einst Kohle gehauen oder Stahl gekocht wurde. Oder auch in Norman Fosters "Dampfer aus Glas" in Duisburg, das Haus der Wirtschaftsförderung. Ein dezenter Humor fehlt nicht. Aber Andreas Rossmann ist kein Jubel-Pötter. Wenn er es für nötig hält, kann er auch auskeilen - gegen gelegentliche Großmäuligkeit genauso wie gegen architektonisches Stückwerk. Dazwischen wunderbare Miniaturen wie über den "Weltuntergang in Wattenscheid", als sich dort zur Jahrtausendwende die Erde auftat und ein 500 Quadratmeter großer Krater entstand, wo einst ein alter Kohleflöz war.

Schade nur: so tiefgängig wie unter Tage die Artikel auch sein mögen, wie sehr sie das Ruhrgebiet als kreativ-kregle Kulturlandschaft beschreiben - eine Bilanz fehlt, in der wenigstens an einigen Beispielen beschrieben wird, was denn aus den vielen und teilweise hochfliegenden kulturellen Projekten der letzten zwei Jahrzehnte geworden ist, nun in Zeiten schlimmster Finanznot der Kommunen; wo etwas Bestand bekam für die nächste kleine Ewigkeit und wo etwas (des fehlenden Mammons wegen) mittlerweile gescheitert ist.

Wem die Schwarz-Weiß-Fotos der FAZ-Fotografin Barbara Klemm nicht ausreichen, die notgedrungen in Rossmanns Buch Postkartenformat haben, dem hilft im Mammutformat - und mit dem Gewicht eines halben Kasten Biers - der Bildband "Koks und Cola", den der Duisburger Fotograf und Kameramann Wilfried Kaute herausgegeben hat - mit mehr als 300 Fotos, vor allem in Schwarz-Weiß, von einem Dutzend Fotografenkollegen: das Ruhrgebiet der 1950er Jahre zum Zurückträumen in die Kindheit an Ruhr und Emscher.

Und die Dokumentation über den Stolz einer Region, die damals das industrielle Herz Deutschlands war. Mit dem rußgeschwärzten Hauer in der Kohlegrube und dem Pfeife rauchenden Stahlkocher im Hüttenwerk - ein Gentleman mit Arbeitshelm. Mit den Kindern auf den Trümmergrundstücken und den noblen Autos in den Schaufenstern, dem Bad in der Ruhr und der Taube in der Hand, mit Trauerumzügen nach einem Grubenunglück und Demonstrationen gegen erste Zechenschließungen, mit Kühen auf der Weide und dem neuen Fernseher im häuslichen Gelsenkirchener Arbeiterbarock, mit Fußball spielenden Frauen und einer Essener Fronleichnamsprozession, als wär´s ein Stück aus dem tiefsten Niederbayern. Aber: wo bleibt hier die Kultur - gab es damals wirklich nicht mehr als das Stadttheater Duisburg und eine Kunstausstellung in der Villa Hügel und die Essener Lichtburg?

"Der Rauch verbindet Städte" - so war einst in den Zwanzigern eine Ruhrgebietsreportage des legendären Joseph Roth überschrieben, der sich ratlos fragte: "Wozu so viele Namen, so viele Bürgermeister, so viele Magistratsleute für eine einzige Stadt?" Die Schlote qualmen nicht mehr. Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Diese beiden Bücher aber verbinden die Epochen, die diesen Städten ihr Gesicht gaben und geben: das industrielle und das postindustrielle Zeitalter.

Besprochen von : Klaus Pokatzky

Andreas Rossmann, Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr. Ruhrgebiet: Orte, Bauten, Szenen
Fotografien: Barbara Klemm, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2012, 264 Seiten, 14,80 Euro
Wilfried Kaute (Hg.), Koks und Cola. Das Ruhrgebiet der 1950er Jahre
Emons, Köln 2012, 320 Seiten, 39,95 Euro