Blaue Bände ohne Ende

Von Peggy Fuhrmann · 12.03.2008
Karl Marx war äußerst belesen und widmete sich unter anderem auch intensiven naturwissenschaftlichen Studien. Auch solche wenig bekannten Facetten der Persönlichkeit des Philosophen präsentiert die neue Marx-Engels-Gesamtausgabe, an der zurzeit gearbeitet wird.
Es ist der dritte Versuch, eine Gesamtausgabe herauszubringen. Die erste Gesamtausgabe – geplant von einem russischen Marxisten – stoppte Stalin. Die zweite wurde in der DDR begonnen und mit der Wende abgebrochen. Ein internationales Wissenschaftlergremium verhinderte, dass Marx gleichzeitig mit dem Ende der DDR abgewickelt wurde. Doch was hat uns Karl Marx heute, 125 Jahre nach seinem Tod, zu sagen?

Herfried Münkler: "Für mich war er ein scharfsinniger und teilweise brillant formulierender Denker. Er hat die Dinge vereindeutigt in einer Weise, die politisch in mancher Hinsicht ausgesprochen problematisch gewesen ist, aber er hat das eben mit jener intellektuellen Radikalität und Konsequenz und Aufrichtigkeit getan, an denen jeder Wissenschaftler heute immer noch lernen kann."

Über Karl Marx.

Manfred Neuhaus: "Das beeindruckt mich immer wieder, mit welcher Neugier er den Dingen nachging, dass er nicht geblendet war von Vorurteilen, hinzu kommt dieser Gestus eines der letzten Universalgelehrten."

Gerald Hubmann: "Als ein früher Theoretiker der Globalisierung wird er sicher gelten können, das würde ich meinen. Und er hat, wie ich denke, auch die Funktionsimperative des kapitalistischen Systems zu Ende gedacht wie vielleicht niemand vor ihm. Und das ist vielleicht auch was, was bleiben wird. Und dazu natürlich der generelle kritische Impetus, den er in die politische Ökonomie gebracht hat plus seinen emanzipativen Ansatz."

Einschätzungen von Herausgebern und Editoren der Marx-Engels-Gesamtausgabe.

Berlin-Mitte, Jägerstraße. Direkt am Gendarmenmarkt liegen die Büros der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Hier arbeitet die Editorengruppe der Marx-Engels-Gesamtausgabe - kurz MEGA. Das Team wird unterstützt durch Mitarbeiter in Japan sowie Russland und den Niederlanden, wo große Teile des Nachlasses der beiden Denker lagern.

Die Editoren arbeiten an einer imposanten Aufgabe: 114 Bände soll die Gesamtausgabe umfassen, von denen 53 bisher erschienen sind. Neben den eigentlichen Werken werden auch sämtliche Exzerpte, Entwürfe und Briefwechsel, die journalistischen Arbeiten und sogar ein Verzeichnis der Bibliotheken von Marx und Engels veröffentlicht.

Professor Manfred Neuhaus, der Leiter des Editoren-Teams, blättert in einem der jüngst veröffentlichten Bände: Exzerpte und Entwürfe, die nie zuvor publiziert wurden. Karl Marx befasste sich mit unglaublich vielen Themen. Allein in seinen letzten Lebensjahren:

"Mit Mineralogie. Mit Geologie. Mit Problemen der Agrarwissenschaft. Mit anorganischer Chemie. Also hier haben wir auch seitenweise anorganische (blättert) Formeln. Und dann haben wir noch mathematische Studien, den Band 28 in der ersten Abteilung."

Das aktuelle Projekt ist bereits der dritte Versuch, eine Gesamtausgabe sämtlicher Schriften der beiden großen Deutschen zu publizieren.

Dr. Gerald Hubmann, der stellvertretende Leiter des Editoren-Teams, stellt fest:

"Wenn man mal ins letzte Jahrhundert geht und schaut, zum 100. Todestag von Marx hat fast die Hälfte der Weltbevölkerung unter Regierungen gelebt, die sich auf seinen Namen beriefen. Jetzt feiern wir in einigen Jahren den 200. Geburtstag von Marx, und erstaunlich ist doch eigentlich, dass sein Werk immer noch nicht ediert ist. Oder vielleicht zur Hälfte ediert ist. Also das ist zunächst erstaunlich. Und bei dem, was in unserer Arbeit zum Vorschein kommt, ist für mich vielleicht der interessanteste Aspekt, dass Marx, das Marx'sche Werk, damit aber auch sein Denken, wesentlich vielseitiger war, als man es bisher immer dargestellt und gesehen hat. Und von daher bietet er als Klassiker durchaus Neues durch die neuen Materialien, die wir der Forschung zur Verfügung stellen."

Karl Marx wurde 1818 in Trier geboren und starb 1883 in London, also vor 125 Jahren. Und so wie die gesellschaftlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts sein Leben und sein Werk nachhaltig prägten, bestimmte die wechselvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts den Umgang mit seinem geistigen Erbe. Bereits in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts arbeiteten Wissenschaftler an einer Gesamtausgabe. Initiator war der russische Historiker und Philologe David Rjasanow, wie Manfred Neuhaus berichtet:

"Ein erstaunlicher Gelehrter, der für das Management einer modernen akademischen Marx-Engels-Gesamtausgabe verschiedene Voraussetzungen mitbrachte. Er war beispielsweise gut bekannt mit den führenden Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie. Also August Bebel kannte ihn, er ging bei Karl Kautsky ein und aus. Er hat im Exil in Deutschland und dann in England sich mit der Materie vertraut machen können. Und er hatte nach dem Sieg der russischen Revolution in Sowjetrussland die Chance, ein eigenes Forschungsinstitut aufzubauen. Er konnte ab 1927 mit der Veröffentlichung von Bänden beginnen. Daran beteiligt waren Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern, natürlich auch viele junge deutsche Wissenschaftler."

40 Bände sollte die Gesamtausgabe umfassen. Doch nachdem der 13. Band veröffentlicht war, stoppte Stalin das Projekt. Denn David Rjasanows Editions-Ansatz missfiel der Partei. Gerald Hubmann erklärt:

"Das Provozierendste an der Ausgabe war, das Provozierendste vielleicht, dass er durch sein Publikationsprojekt Marx und Engels in die Tradition der deutschen Philosophie gestellt hat. Er war der erste, der die 'Deutsche Ideologie' publiziert hat, die ökonomisch-philosophischen Manuskripte, so dass also diese Transformation des deutschen Idealismus bei Marx und auch bei Engels deutlich wurde. Und das waren Kontexte, die ganz gewiss nicht willkommen waren. Er hat auch viel zur Publizistik veröffentlicht und hatte vom Gesamtprojekt her eben den Anspruch, alles zu publizieren, den gesamten literarischen Nachlass, und das war nicht unbedingt das offizielle Interesse."

Nach dem Abbruch der ersten MEGA veröffentlichte die KPDSU nun selbst ausschließlich jene Schriften von Marx und Engels, die sich zur Untermauerung des Sowjetkommunismus eigneten - und versah sie zusätzlich mit politischen Kommentaren. David Rjasanow aber, den die Partei noch 1930 zu seinem 60. Geburtstag hoch gewürdigt hatte, wurde ein Jahr später verhaftet und deportiert. Sieben Jahre lebte er in der Verbannung. Dann ließ Stalin ihn als angeblichen Staatsfeind hinrichten. Und bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion wurde das Schicksal des russischen Gelehrten totgeschwiegen.

Manfred Neuhaus blickt zurück auf DDR-Zeiten:

"Der Rjasanow war immer ein Tabuthema. Also, er war bis zum Ende der Sowjetunion eigentlich eine Unperson. In der DDR war's ein klein wenig milder. Also, da wurde der Name dann im Kontext des MEGA-Projektes genannt, aber 'ne intensivere Beschäftigung mit seinem Werk und eine angemessene Würdigung seiner Leistungen war erst nach dem Ende des Staatssozialismus möglich. Das tragische Schicksal einiger junger deutscher Mitarbeiter seines Institutes wurde natürlich in der Öffentlichkeit auch erst nach dem Ende des Staatssozialismus bekannt. Die erste akademische Marx-Engels-Ausgabe scheiterte hauptsächlich, weil ihr Kopf und nicht nur ihr Kopf, sondern auch einige Editoren, von Stalin erschlagen wurden."

"Die Geschichte nennt diejenigen als die größten Männer, die, indem sie für das Allgemeine wirkten, sich selbst veredelten; die Erfahrung preist den als den Glücklichsten, der die meisten glücklich gemacht."

Überlegungen des 17-jährigen Karl Marx zu Fragen der Berufswahl.

"Wenn wir den Stand gewählt, in dem wir am meisten für die Menschheit wirken können, dann können uns Lasten nicht niederbeugen, weil sie nur Opfer für alle sind; dann genießen wir keine arme, eingeschränkte, egoistische Freude, sondern unser Glück gehört Millionen, unsere Taten leben still, aber ewig wirkend fort."

Karl Marx wirkte vermutlich in weitaus stärkerem Maße auf die Menschheit, als er sich je vorgestellt hatte. Allerdings wurde er auch instrumentalisiert: Mehr als drei Jahrzehnte lang kursierte in der Sowjetunion ausschließlich eine Partei-Ausgabe seiner Werke, die beschränkt blieb auf politisch willkommene Texte. Und diese Edition bildete auch die Grundlage für die Marx-Engels-Werke - kurz MEW, die in den 60er Jahren in der DDR veröffentlicht wurden. Das waren die berühmten blauen Bände. Sie fanden weite Verbreitung in Ost und West - obwohl man einiges an der Edition kritisieren müsse, wie Gerald Hubmann erklärt:

"Ich würde nochmal hinweisen auf die ideologische Darbietungsweise letztendlich. Also die drei Bände des Kapital werden eben als Marxens Hauptwerk dort präsentiert und propagiert, ohne auf die Probleme hinzuweisen, die Unabgeschlossenheit des Werkes, genauso bei der Deutschen Ideologie, die als fertiges Begründungswerk des Historischen Materialismus präsentiert wird, was so sicherlich nicht haltbar ist. Also es ist ein sehr fragmentarisches, unabgeschlossenes Manuskript, muss man sagen, so dass man von einem Werk heute gar nicht mehr sprechen möchte, und natürlich, was man berücksichtigen muss, dass vielsprachige Werk von Marx und Engels erscheint hier nur in Übersetzungen."

Einige MEW-Editoren versuchten bereits Ende der 50er Jahre, die DDR-Führung für eine neue Gesamtausgabe zu gewinnen. Bei Walter Ulbricht fanden sie Gehör. Er engagierte sich bei der sowjetischen Führung für die Edition einer neuen MEGA mit dem Erfolg, dass die Bündnispartner eine gemeinsame Ausgabe vereinbarten. Doch bei dieser Absichtserklärung blieb es zwei Jahrzehnte lang.

Manfred Neuhaus: "Seitens der DDR-Führung konnte man dort den großen Bruder, die Führungsmacht im Bündnis, wenn ich's mal salopp sage, ein wenig nerven, und für die Verhandlungsführer auf sowjetischer Seite (lacht) gab's dann immer wieder das Argument, also mehr Bände als eine Lenin-Ausgabe dürfe es aber nicht geben. Und als dann erste Probestücke und das Konzept diskutiert wurden, war für den einen oder anderen vom Pulver Ergrauten klar, welche Risiken das Ganze für die marxistisch-leninistische Orthodoxie herauf beschwören könnte. Also ich hab mal in den Protokollen der ersten Debatten in Moskau gelesen, da meldete sich ein Bolschewik zu Worte und sagte, für solch ein Konzept wäre man in der französischen Revolution guillotiniert worden."

Gerald Hubmann: "Die Ambivalenz für die Führungen beider Länder bestand darin, dass man auf der anderen Seite natürlich gerne auch so ein Monument nun den Schöpfern des wissenschaftlichen Kommunismus setzen wollte. Und das waren eben die Pole, und da musste man entscheiden. Und das gab wohl letztlich den Ausschlag, die Ausgabe dann zu machen."

... fügt Gerald Hubmann hinzu. 1975 endlich kamen die ersten Bände heraus. Die Buchdeckel waren in gediegenem dunkelblau gehalten, die aufgedruckten Titel cremefarben. Und diese Optik wurde beibehalten. 170 Bände sollte die DDR-MEGA umfassen, von denen 1990 40 fertig gestellt waren. Doch als die DDR kollabierte, wurde das Projekt gestoppt. Und eine Zeit lang sah es so aus, als würde zum zweiten Mal ein politischer Umbruch die Stimme des Denkers Karl Marx zum Schweigen bringen.

Herfried Münkler: "Es war nach der Wende klar, dass dieses Projekt in concreto nicht so weitergeführt werden kann, wie es angefangen worden war, nämlich im weiteren Sinne als die wissenschaftliche Unterfütterung und Unterbauung der realsozialistischen Staaten, deren gleichsam ideologisches Fundament es dargestellt hat. Das war klar. Andererseits allerdings waren die Standards, die innerhalb dieser Edition von vorneherein vorgeherrscht haben, wissenschaftlich solide - gut, in den Vorworten fand sich der eine oder andere Tonfall gelegentlich - aber in der eigentlichen Durchführung kann man sagen, es waren solide Grundlagen, also weiß Gott westlichen Standards vergleichbar."

... erklärt Prof. Herfried Münkler, der Vorstandsvorsitzende der Internationalen Marx-Engels-Stiftung in Amsterdam. Die politisch unabhängige internationale Stiftung fungiert als Herausgeber der MEGA und wurde auf Initiative des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte gegründet, in dessen Besitz sich der größte Teil des handschriftlichen Materials von Marx und Engels befindet.

Anfang der 90er Jahre sprachen sich eine Reihe von Politikern und auch Wissenschaftlern gegen die Weiterführung der MEGA aus. Sie behaupteten, die DDR-Edition sei ideologisch kontaminiert und deshalb fehle jegliche Basis, die Arbeit fortzusetzen. Außerdem habe sich mit dem Untergang des Sozialismus auch das Marx'sche Werk überlebt.

Wissenschaftler aus aller Welt hielten dagegen, Marx und Engels gehörten zu den großen Denkern des 19. Jahrhunderts, dem entsprechend sei ihr Gedankengut zu würdigen. Jahre vergingen, bis neue Kriterien für eine Fortführung der Edition gefunden waren, die auch Skeptiker anerkannten.

Herfried Münkler: "Ich glaube, das ist der wichtigste Punkt, dass wir Marx historisieren. Das heißt, das Ziel der Kommentierungen und der Einleitungen bestand darin, ihn als einen der großen wissenschaftlichen Köpfe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammen mit Engels, der eine stärker journalistische und populär orientierte Darstellungstechnik hat, sichtbar zu machen, um auf diese Weise - ja, man kann sagen - einen großen Fokus historisch-ökonomischen Denkens in dieser Zeit der Wissenschaft gut zugänglich zu machen. Das ist, denke ich, die wesentliche Veränderung, Marx nicht mehr als Grundstein einer politischen Ordnung, sondern Marx als ein Denker unter einer ganzen Reihe von Denkern."

Diese neue Sichtweise demonstrierte auch die Wahl des Verlages: Die neue MEGA erscheint im Akademie-Verlag, der auch vergleichbare Editionen anderer großer Denker wie Aristoteles, Kant und Leibniz im Programm hat. Dass sich das Ringen um eine neue Edition gelohnt hat, zeigte sich, als die ersten MEGA-Bände nach der Wende heraus kamen. Sie wurden überaus positiv in der Presse besprochen - und zwar weltweit.

Herfried Münkler: "Rechnen konnte man damit eigentlich nicht. Es zeigt sich aber, dass erstens, denke ich, die Akribie und Solidität des Projektes anerkannt worden ist in diesem Presse-Echo, und es zeigt sich darüber hinaus, nachdem - wie sagte Norbert Blüm damals: 'Marx ist tot, und Jesus lebt' - also nach sozusagen einer ersten Welle, jetzt ist Marx/Engels vorbei und hat uns nichts mehr zu sagen, und ab in die unterste Schublade oder gar auf den Müllhaufen, sich sehr bald herausgestellt hat, dass hier ein großer deutscher Denker da war, der eben uns doch noch einiges mitzuteilen hat und der für gegenwärtige Fragestellungen von nicht unerheblichem Interesse ist. Ich denke, das hat sich in diesem Presse-Echo niedergeschlagen, das wir nicht erwarten konnten aber vielleicht doch erhoffen durften."

In der Berlin-Brandenburgischen Akademie sichten und ordnen die Editoren nun Berge von Material, die Marx hinterlassen hat. Sie bringen Manuskripte in druckfertige Form und entziffern mühselig die kleine krakelige Handschrift, die sich manchmal nur mit Hilfe einer Lupe entziffern lässt. Über 30 Bände der neuen MEGA sind allein den Exzerpten und Notizen gewidmet -insgesamt Material, das bislang noch nie publiziert wurde.

Gerald Hubmann: "Das heißt also, das komplette Studienmaterial von Marx, was insbesondere für die letzten Lebensjahre von besonderer Wichtigkeit ist, weil er ja seit 1875 selbst gar nichts mehr publiziert hat, so dass man nur über diese Studienmaterialien weiß, womit er sich beschäftigt hat, das zum einen, zum zweiten natürlich auch über die ganze Lebensspanne gemessen die Publikation dieser Materialien überhaupt erst die Breite sichtbar macht seines Werkes, seiner Studien, Themen, zu denen er nicht publiziert hat wie die Geologie, die Chemie im wesentlich weiteren Sinne, als sie im Kapital vorkommt, also all das wird in einer eigenen Abteilung publiziert, die es überhaupt nur in der großen Gesamtausgabe bei uns gibt."

"Du wirst dir sicher einbilden, mein liebes Kind, dass ich Bücher sehr liebe. Aber du wärst sehr im Irrtum."

... schrieb Karl Marx an seine Tochter Laura.

"Ich bin eine Maschine, dazu verdammt, sie zu verschlingen und sie dann in veränderter Form auf den Dunghaufen der Geschichte zu werfen."

Zeit seines Lebens war Marx ein überaus eifriger Leser, der intensiv die Angebote öffentlicher Bibliotheken nutzte. Seine eigene Bibliothek, die nun ebenfalls erstmals veröffentlicht wurde, zeigt nur einen Bruchteil seines Lesestoffes.
Dr. Hanno Strauß, einer der Editoren:

"Schwerpunkte dürften sein Wirtschaftsgeschichte, Geschichte des Grundeigentums, erstaunlicherweise auch ganz speziell in Russland sowie Geschichte des Sozialismus, das würd ich sagen, sind die drei großen Schwerpunkte, wobei bei Engels dann noch dazukommt, Militärgeschichte, das ist sein Hobby gewesen, da gibt's auch einen erheblichen Fond in der Bibliothek."

"Bücher sind meine Sklaven…"

hatte Marx gesagt,

"... und sollen mir nach meinem Willen dienen."

Hanno Strauß: "So ist er mit diesen auch umgegangen, also da wird in mehreren Schichten mit verschiedenen Stiften drin rumgewirtschaftet, im Text, am Textrand und mit Tinte. Und das ist bei der damaligen Schreibweise natürlich auch mit sehr viel Tintenflecken und dergleichen verbunden. Also er hat die Bücher als Arbeitsmittel behandelt, nicht wegen schöner Rücken ins Regal gestellt."

"Mach, dass Du mit deinem nationalökonomischen Buch fertig wirst! Wenn Du selbst auch mit vielem unzufrieden bleiben solltest, es ist einerlei, die Gemüter sind reif!"

Wieder und wieder, viele Jahre lang, drängte Friedrich Engels, der Freund möge doch endlich das "Kapital" abschließen. 1867 endlich veröffentlichte Karl Marx den ersten Band des Kapitals. Mit Band zwei und drei quälte er sich bis zu seinem Tod herum, ohne sie zu vollenden.

Dr. Karl-Erich Vollgraff, einer der Editoren für die Marxschen Entwürfe der Bände zwei und drei des Kapitals, erklärt:

"1857 entwarf er einen sechsteiligen Aufbauplan für sein ökonomisches Werk und wollte dann neben dem Kapital auch noch separat Lohnarbeit und Grundrente und Staat und internationaler Markt usw. behandeln, und er abstrahierte deshalb im Kapital selbst von vielen der Dinge, die hier in diese Bücher hineingehört hätten, also er wusste, dass vieles noch auszuarbeiten war.

Offensichtlich war er aber dann mit der Konzeption allein schon von diesen drei Büchern des Kapitals sehr unzufrieden, anders ist es nicht zu erklären, dass er dann - ich hab zwar mal in einem Artikel übertitelt: 'Marx' Flucht vor dem Kapital', aber ich will nicht sagen, dass es unbedingt so gewesen sein muss, dass er deswegen chemische Studien oder derartige andere Studien betrieb, da ja auch diese Studien wieder entscheidend wichtig sind für Produktivitätsfragen, Grundrente usw. Also angesichts dieses Übermaßes an Arbeit ist es durchaus möglich, dass er auch Depressionen hatte."

Diese Vermutung würden einige Briefpassagen nahelegen, fügt Erich Vollgraff hinzu. So antwortete Marx auf Anfragen seiner russischen Herausgeber nach den Bänden zwei und drei des Kapitals: Bevor er diese Manuskripte fertig stelle, müsse er den ersten Kapital-Band noch einmal komplett überarbeiten.

Karl-Erich Vollgraff: "Es ist eine sehr erwähnenswerte Passage, die doch zeigt, dass er auch an diesem Teil zweifelte. Und diese Briefpassage werte ich persönlich als eine für das ganze Schaffenswerk von Marx recht tragische Eigenkommentierung. Weil er selber sich so in Frage stellt. Also im Grunde genommen sein Lebenswerk auch in Frage stellt."

Tatsächlich waren Band zwei und drei des "Kapitals" bei seinem Tod 16 Jahre später immer noch Fragmente. Marx hinterließ sie Friedrich Engels mit dem Hinweis, der Freund möge "etwas daraus machen." Das hat Engels auch getan. Viele Jahre lagen lediglich die von ihm zusammengestellten und überarbeiteten Fassungen vor. Die Editoren der MEGA aber haben nun erstmals die Marx'schen Originalentwürfe dieser "Kapital"-Bände veröffentlicht:

Karl-Erich Vollgraff: "Man kann sagen, dass es ein noch größeres Torso ist, als man sich bisher vorstellen konnte. Man kann beim Original erkennen, dass Marx seine Darstellung immer wieder abbricht, dass er zu auch wichtigen, aber jenseits des bisherigen Gedankenganges liegenden Themen abschweift, diese zunächst verfolgt, auch im Fußnotenbereich, dass er dann zu einem anderen Thema erst wieder Material sammelt, in die Quellen reingeht, dort Zitate aneinanderfügt, also dass es sich dann teilweise wieder in ein Studium verläuft, und dass es mitunter einfach inhaltlich abbricht."

Eine weitere Überraschung folgte, als die Editoren den Marx'schen Entwurf mit der Buchfassung von Engels verglichen:

Karl-Erich Vollgraff: "Im Grunde genommen gibt es nur sehr wenige Sätze, wo Engels - sagen wir mal ganz lax - nichts dran gemacht hat. Und man kann feststellen, dass Engels den Text aus verschiedenen Manuskripten kontaminierte. Wir können nachvollziehen anhand des Vergleiches dieser Texte, also dieses Entwurfs 1864/65 und der Endfassung von Engels 94, dass sich doch der Schatten des Herausgebers in erheblicher Weise über den Autor gelegt hat. Und diese Schattenfassung, wenn ich es mal so sagen darf, ist natürlich dann um die Welt gegangen und ist in dieser Form als Endtext von Marx rezipiert worden. Und das hat in der Geschichte der Bewertung der Marx'schen Theorie eine ganze Reihe von Irritationen ausgelöst."

So brachte der Vergleich der Texte einen Grundpfeiler der vermeintlich Marx'schen Theorie ins Wanken: Die systemimmanenten Widersprüche würden zwangsläufig zum Zusammenbruch des Kapitalismus führen, heißt es in Engels "Kapital"-Fassung. Der Entwurf von Marx aber klingt weniger eindeutig:

Karl-Erich Vollgraff: "Es ist erkennbar, dass er verschiedene vorgenommene Lösungen immer wieder selbst in Frage stellt und immer wieder versucht, von anderen Gesichtspunkten an die Sache heranzugehen. Ich selber habe den Eindruck, dass der Marx der objektiv wirkenden ökonomischen Gesetze des ersten Bandes bei der Arbeit an den weiteren Bänden, wo es nicht um Produktion für sich oder Zirkulation für sich geht, sondern um die Darstellung des gesamten Zusammenhanges, sich zurücknimmt, in Zweifel ist, ob nicht auch Widersprüche lösbar sind durch entgegenwirkende Tendenzen, so dass innerhalb des Systems ein Ausgleich stattfindet, also nicht wie es mit der Akkumulationstheorie des ersten Bandes zu sein scheint, sich die Widersprüche so verschärfen, dass sie nur noch durch den Zusammenbruch des Systems lösbar sind."

Karl Marx ist an seinem Hauptwerk schier verzweifelt. In Briefen bezeichnete er es als "Saubuch" oder "verdammtes Buch", das wie ein Alp auf ihm laste. Doch was ihm so große Schwierigkeiten bereitete, offenbarte er vermutlich niemandem. Zumindest existieren keine entsprechenden schriftlichen Hinweise. Es dürfte also für Engels sehr schwierig gewesen sein, aus den widersprüchlichen Texten herauszulesen, welche Intentionen genau Marx verfolgte.

Das müsse man Engels zu gute halten, kommentiert Erich Vollgraff, der seit 30 Jahren als Marx-Forscher arbeitet. Und dennoch:

"Diese großen Differenzen festzustellen zwischen dem Original und dem, was dann von Engels herausgegeben wurde, das war relativ schwierig zu verarbeiten, und es war dann auch nicht ganz leicht, ein Engels immer gerecht werdendes sachliches Urteil zu finden."

Die MEGA könnte noch für weitere Überraschungen sorgen, denn noch fehlen 61 Bände. Die Finanzierung des Projektes ist vorerst bis 2015 gesichert - doch bis dahin wird es nicht abgeschlossen sein. Allerdings lässt sich kaum vorstellen, dass auch dieser dritte Versuch, eine Marx-Engels-Gesamtausgabe zu publizieren, abgebrochen werden könnte. Zumal sich gerade in den letzten Jahren die Stimmen von Wissenschaftlern mehren, die Marx als Lektüre empfehlen. Und zwar nicht nur, um historische Fragen zu klären, sondern auch, um aktuelle Probleme besser einordnen zu können.

Herfried Münkler stellt fest:

"Kapitalistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft großer sozialer Ungleichheit. Aber es ist nicht gesagt, dass diese soziale Ungleichheit sich formiert im Klassenkampf. Das hat der Marx natürlich aus bestimmten Gründen gehofft. Aber wenn man das abzieht, dann ist Marx eigentlich vom Kommunistischen Manifest bis zu dem Buch 'Kapital' - ich mein, er hat ja nicht das Buch geschrieben: 'Die sozialistische Zukunftsgesellschaft' oder so etwas, sondern es heißt: Das Kapital - eigentlich der Theoretiker einer Welt, in der wir immer noch leben."

Und nicht nur Wissenschaftlern nötigt der Denker Karl Marx auch heute großen Respekt ab: Vor wenigen Jahren wählten über eine Million Menschen für die ZDF-Fernsehsendung "Unsere Besten" aus, wer ihrer Ansicht nach zu den 100 wichtigsten großen Deutschen gehört. Karl Marx kam in dieser Liste auf Platz drei: Er folgte Konrad Adenauer und Martin Luther - und rangierte noch vor Goethe, Bach und Einstein.
Josef Stalin
Josef Stalin© AP
Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der HU Berlin
Herfried Münkler, Politikwissenschaftler an der HU Berlin© HU Berlin
Marx-Engels-Denkmal in Berlin (1995)
Marx-Engels-Denkmal in Berlin (1995)© AP Archiv
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