Bittere Schokolade

Von Alexander Göbel · 11.03.2010
Einst galt die Côte d'Ivoire, die Elfenbeinküste, als Musterland Westafrikas, als wirtschaftliches und gesellschaftliches Vorbild für die gesamte Region. Dann wurde das Land von Staatsstreichen und Bürgerkriegen heimgesucht. Heute lähmen nicht enden wollende Machtspiele den Staat.
Abu Chérif klopft sich die Sägespäne vom Hemd, in seinem Gesicht bleiben sie kleben – der Schweiß läuft ihm von der Stirn. Abu ist Zimmermann. Sein Geschäft läuft nicht gut. Zwar bestellen seine Kunden nach wie vor Tische, Stühle und Schränke bei ihm – aber sie können nicht mehr bezahlen. Abu lebt in Youpougon, einem lebhaften Viertel von Abdjan – in der Rue Princesse. Dort hat er auch seine kleine Werkstatt – ein Bretterverschlag, der ein bisschen Schatten spendet. Die Luft ist heiß. Es stinkt beißend nach Urin, fließendes Wasser gibt es hier nicht, die Abflussrohre funktionieren schon lange nicht mehr.

"Wirklich, das ist ekelhaft ... alles ist kaputt. Wir bräuchten hier jemanden, der aufräumt. Der die Politik in Ordnung bringt, die Finanzen, das ganze Leben hier. Wir schlagen uns irgendwie durch. Aber ich bin sehr enttäuscht von denen da oben."

"Die da oben", wie Abu die Politiker nennt, sind derzeit wieder auf Tour – und versprechen, dass alles besser wird, mit den nächsten Wahlen. Doch die sind seit 2005 bereits zum sechsten Mal verschoben worden. Abu ist Anfang 30 - und damit genau so alt wie der Niedergang seines Landes. Die Côte d'Ivoire, das ehemalige Musterland, der einstige Wirtschaftsmotor Westafrikas, sei heute schlimmer dran als jemals zuvor, findet auch Patrick N'Gouan vom Netzwerk der Zivilgesellschaftlichen Gruppen in Abidjan. Nur noch übertroffen von Südafrika sei es das Land mit der ungerechtesten Verteilung von Reichtum auf der Welt:

"Von insgesamt 50 Jahren Unabhängigkeit hatten wir 20 gute Jahre, aber danach 30 schlechte. Die großen Löcher von heute können wir mit dem bisschen Wachstum gar nicht stopfen. Die Politiker glauben, sie können die Menschen noch eine Weile hinhalten, aber das wird nicht mehr lange gut gehen."

Die Côte d'Ivoire zahlt einen hohen Preis für jahrzehntelange Misswirtschaft. Dafür, dass sie sich viel zu lange von der schwächelnden Kakaobranche abhängig gemacht hat. Den Bauern reicht der Ertrag kaum zum Überleben, die Abhängigkeit von Kakao ist für das Land am Golf von Guinea immer mehr zu einem Fluch geworden. Dabei ist die Côte d'Ivoire der größte Kakaoproduzent der Welt und damit der wichtigste Lieferant für die Schokoladenindustrie, das Land liefert mehr als ein Drittel des gesamten Weltbedarfs an Kakao - ein Viertel der 20-Millionen-Bevölkerung lebt vom Anbau. Doch das vierte Jahr in Folge erlebt die Côte d'Ivoire schlechte Ernten. Die Plantagen sind zu alt und leiden unter Pilzbefall. Aber auch die Korruption hat dem wichtigsten Wirtschaftszweig schwer zugesetzt. Niemand weiß, was mit den enormen Steuereinnahmen aus dem Kakaoanbau geschieht – angeblich fließen sie in den Bildungssektor. Ein Blick auf die heruntergekommene Universität oder die Schulen von Abidjan beweist das Gegenteil.

Natürlich zahlt das Land auch für den Bürgerkrieg: Acht Jahre ist es her, dass die Elfenbeinküste in einen muslimischen Norden und einen christlichen Süden auseinanderbrach. Und heute, drei Jahre nach dem Friedensabkommen von Ouagadougou, ist die Côte d'Ivoire de facto noch immer ein geteiltes Land. Das Lager von Präsident Laurent Gbagbo kontrolliert nach wie vor den Süden, im Norden, in Bouaké, herrschen die Forces Nouvelles, die ehemaligen Rebellen. Die Pufferzone, die sich mitten durchs Land zog, wurde 2007 aufgehoben – der frühere Rebellenführer Guillaume Soro tauschte seine Uniform gegen einen Anzug und wurde Premierminister. Aber von echter Wiedervereinigung keine Spur. Auch wenn Laurent Gbagbo der Präsident aller Ivorer sein will. Im Norden und im Süden.

Laurent Gbagbo: "Ich bin der Kandidat für die gesamte Côte d'Ivoire! Wir haben schwere Zeiten hinter uns, mussten einen Krieg durchstehen. Die kommenden Wahlen werden dieser langen Krise ein Ende machen!"

Doch die Wahlen – sie kommen nicht. Präsident Gbagbo regiere seit zehn Jahren ohne Bestätigung durch das Volk – aus seinem Regierungschef Soro sei ein fetter, selbstzufriedener Funktionär der Macht geworden. Die Führung der Côte d'Ivoire habe sich wie Maden im Speck im Übergangszustand eingerichtet, schimpft Gbagbos ärgster Widersacher, Henri Konan Bedié. Der Mann, der nach dem Tod von Staatsgründer Félix Houphouet-Boigny selbst schon einmal Präsident war und Ende der 90er-Jahre aus dem Amt geputscht wurde.

Bedie. "Enttäuschung, Frust, Ohnmacht und auch Wut – all das kann man deutlich in den Gesichtern der Menschen lesen. Der Präsident will gar keine Wahl – denn er weiß, dass er diese Wahl verlieren und danach in der Opposition landen wird!"

Bedié will es noch mal wissen – macht trotz seines hohen Alters von 75 Jahren unermüdlich Wahlkampf – mit dem von Barack Obama geklauten Slogan "Oui, nous pouvons" – Yes we can. Wenig originell. Aber mit seinen Vorwürfen an Gbagbos Adresse kommt er an. Viele Menschen sind überzeugt, dass Gbagbo, der große Manipulator, auf Zeit spielen will. Denn so lange er im Amt ist, kontrolliert er auch den internationalen Geldsegen: Die internationale Gemeinschaft und vor allem die alte Kolonialmacht Frankreich haben ein politisches und vor allem wirtschaftliches Interesse an einer friedlichen Elfenbeinküste. Im Dezember erließ Frankreichs Botschafter der Elfenbeinküste 330 Millionen Euro Auslandsschulden. Gleichzeitig bekannte die EU sich erneut dazu, den Friedensprozess weiter zu finanzieren. Ein dicker Batzen, denn mit noch einmal knapp 300 Millionen Euro leistet sich die Elfenbeinküste die teuersten fremdfinanzierten Wahlen der Welt.

Und Gbagbo? Er lässt die Wahlkommission und dann die gesamte Regierung auflösen, um sie dann aufwändig wieder zu besetzen. Das kostet Zeit, und die ist auf seiner Seite. Ein gefährliches, ein blutiges Spiel, denn der Zorn der Bevölkerung wächst. Ende Februar hatte das Militär das Feuer auf wütende Demonstranten eröffnet, mehrere Menschen kamen ums Leben.

Doch auch Henri Konan Bedié trägt große Verantwortung für die Misere seines Landes – aus seiner Zeit als Präsident stammt schließlich die Ideologie der "Ivoirité", die die Gesellschaft spaltet und die Bevölkerung teilt - in sogenannte "echte Ivorer" und andere Ethnien. Aus machtpolitischem Kalkül opfern Bedié und andere den ohnehin schwachen Zusammenhalt des Landes. Dabei ist die Elfenbeinküste seit Jahrzehnten auf Immigranten aus Burkina Faso, Mali, Niger und anderen Ländern angewiesen – die wichtigsten Arbeitskräfte in den Kakaoplantagen. Doch mit dem Konzept der Ivoirité wurden Hunderttausende zu Bürgern zweiter Klasse. Nach dem Tod des ersten Präsidenten Houphouet-Boigny und dem Verfall der Kakaopreise wird das Einwanderer-Thema in den 90er-Jahren immer mehr zu einem politischen Streit, der das Land immer weiter vergiftet. Sagt auch der Politiker Alassane Ouattara – selbst Moslem aus dem Norden:

"Wissen Sie, diese Frage der Identität hat die Elfenbeinküste in die Katastrophe getrieben. Sie hat zu Mord und Totschlag geführt, es gab Massaker im Namen der Nationalität! Die Menschen sind lange Zeit absolut ungleich behandelt worden. Das hat zum Staatsstreich gegen Bedie geführt, zur Rebellion des Nordens, zum Bürgerkrieg. All das sollte uns eine Lehre sein, damit wir den Hass in dieser Gesellschaft endlich eindämmen, diese Diskriminierung, die zu so großen Spannungen geführt hat."

Alassane Ouattara hat das am eigenen Leib erfahren. Im Jahr 2000 wurde der frühere Ministerpräsident und Hoffnungsträger der Opposition gar nicht erst zur Präsidentschaftswahl zugelassen – weil er nicht als Ivorer galt.

Alassane Ouattara: "Dabei ist das Gesetz zur Nationalität eindeutig – Ivorer ist, wer ivorische Eltern hat. Punkt. Das ist bei mir der Fall, nur haben die Behörden mir damals alle möglichen Steine in den Weg gelegt, damit ich an der Wahl nicht teilnehmen kann. Wir müssen endlich über diese Kategorisierung von Menschen hinwegkommen, denn die hat in diesem Land großen Schaden angerichtet."

Damals, vor zehn Jahren, hat Laurent Gbagbo, der neue mächtige Mann nach dem Militärputsch, die ethnische Frage so weit zugespitzt, dass das Land schließlich im Krieg versank. Heute zündelt er wieder, vergiftet das politische Klima weiter. Dem mittlerweile entlassenen Chef der Wahlkommission wirft er Betrug vor: Er habe versucht, die Wählerlisten zu manipulieren und sie um rund 430.000 Namen zu erweitern – um die Chancen der Opposition zu erhöhen, es handele sich um Muslime aus dem Norden. Mittlerweile gibt es zwar eine neue Übergangsregierung und auch einen neuen Chef der Wahlkommission, Alassane Ouattara wird offiziell kandidieren können – nur weiß niemand so genau, ob und wann die Wahlen wirklich stattfinden. Das Gerede von neuen Terminen glaubt bald niemand mehr.

Nervös wird man langsam auch bei den Vereinten Nationen. Auch wenn ONUCI FM, der sehr populäre UN-Radiosender, sozusagen von Amts wegen Optimismus verbreiten soll. Die Elfenbeinküste sei "en route vers la paix" - auf dem Weg zum Frieden. Das ist der Slogan des Radios, und auch das Credo von Reporterin Mireille Gnahoré-Boti:

"Die Menschen verlieren die Geduld und wissen nicht, was kommt. Aber wir können ja nicht stehenbleiben, es muss vorwärts gehen. Wir müssen optimistisch sein – wir können uns gar nichts anderes leisten!"

Ohne Wahlen kein Frieden, keine Versöhnung – und keine Entwaffung! Große Teile der früheren Rebellen der Forces Nouvelles und der Gbagbo-treuen Milizen haben ihre Waffen bis heute nicht abgegeben, sie denken gar nicht daran. Im Gegenteil: Der Waffenhandel an den porösen Grenzen blüht, vor allem mit krisengeschüttelten Staaten wie Guinea und Liberia. Yongi Choi, der Chef der UN-Mission in der Elfenbeinküste:

"Wir können die Côte d'Ivoire nicht entwaffnen – das ist unmöglich. Wir können das nur symbolisch tun, indem wir politische Bedingungen schaffen, die dazu beitragen, dass die Kontrahenten keine Waffen einsetzen wollen."

Und so bleibt die Unsicherheit vorerst das Einzige, was sicher ist in der Elfenbeinküste. Die Führer des Landes spielen ein gefährliches Mikado. Ganz nach dem Motto: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.

Die Menschen wenden sich ab von einem schmutzigen politischen Schauspiel – und verlieren das Vertrauen in die Demokratie. Ihre Ablenkung, ihr einziger Trost – das ist der Fußball. Die Nationalmannschaft der Côte d'Ivoire, die bei der Weltmeisterschaft in Südafrika antreten wird. Wo die Politiker versagen, hoffen die Ivorer auf die "Elephants", die Superstars um Didier Drogba und die Touré-Brüder. Sie sind für die Côte d'Ivoire momentan die einzigen Friedensbringer. Weil sie für das ganze Land spielen, sagt Pascal Sika, Besitzer der Fußballkneipe Drogbacité in Abidjan.

"Der Fußball versöhnt die Menschen miteinander. Didier Drogba hat damals seine Trophäe als bester afrikanischer Spieler sogar im Norden vorgestellt, im Rebellengebiet von Bouaké. Das war ein großartiges Zeichen des Friedens. Und noch heute vergessen die Menschen beim Fußball ihre Sorgen, wenigstens für einen Moment."

Und außerdem macht ein magisches Bier die Eléphants gewissermaßen unbesiegbar.
"Das ist das Drogba-Bier! So nennen wir das Solibra. Da geht nix drüber! Wooooooo!"

Doch Fußballromantik allein, das reicht nicht – warnt Kajeem, einer der großen Reggaemusiker des Landes. Er brandmarkt die Politiker als Scharlatane, und den Fußball als Opium für das Volk. Genauso wie die brasilianischen Telenovelas, mit denen das Staatsfernsehen neuerdings die Zuschauer sediert.

Kajeem: "Wahlen hin oder her - wann wird es endlich Arbeit für die jungen Leute geben? Wir haben schließlich Millionen Arbeitslose! Es tun immer alle so, als hätten wir hier nach den Wahlen das Paradies auf Erden. Aber sollen wir denn jubeln, wenn wir die Wahl zwischen Pest und Cholera haben? Wahlen in der Elfenbeinküste sind doch nur so etwas wie ein Knochen, den man dem Volk hinwirft, um es zu beschäftigen, während man die Staatskassen leer räumt."

Kajeem spürt, dass die Fieberkurve der desillusionierten Jugend immer weiter steigt. Und er fragt sich, ob die Politiker davon etwas mitbekommen. "Die da oben", wie Abu sie nennt, der Zimmermann aus dem Slum von Youpougon.

Abu Cherif: "Dabei ist es doch ganz einfach: Ich will, dass meine Kinder es einmal besser haben als ich, der ich jeden Tag leiden muss und nicht weiß, ob es morgen noch Arbeit gibt. Da muss doch einer sein, der uns helfen kann. Oder etwa nicht?"