Birgit Kreipe: "soma"

Verse aus dem verdrängten Reich der Kindheit

Nur mit einer Windel bekleidet, schiebt der knapp zweijährige Junge den Kinderwagen durch einen Park.
Kinder und ihre "Innenlandschaften": Birgit Kreipe ist auf der Suche nach dem Verborgenen © dpa / picture alliance / Frank Rumpenhorst
Von Claudia Kramatschek · 18.08.2016
"soma" heißt der neue Gedichtband von Birgit Kreipe. Die Sprache der Dichterin ist alles andere als plakativ: Rätselhaft verdichtete Bilder erforschen das Unbewusste. Und manchmal kommt ein Gespenst zum Vorschein.
"hier, wo die blauen luftschiffe aufsteigen
wie soda, war mein acker. unter dem grün
das feld, wo wir licht anbauten
in den jahren des zusammenhalts."
Mit diesen Versen beginnt Birgit Kreipes neuer Gedichtband "soma". Was ihre Gedichte uns sagen, ist schwer zu benennen. Denn nicht "etwas" wird in ihnen gesagt. Vielmehr sagt sich in ihnen etwas, das unterhalb des bewussten Ausdrucks, da unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle liegt: Es geht um die Sprache, um das Gedächtnis des Körpers.

Kreipes Gedichte sind knapp und komplex

Der Titel "soma" ist also programmatisch: knapp und komplex – wie Kreipes Gedichte. Allesamt entführen sie in das Reich der Erinnerung, indem das untergegangene Reich der Kindheit – bei Kreipe oft von darin verborgenen Gespenstern durchtränkt – zur Sprache kommt: "ein riesiger mund sprach das schlusswort" heißt es im einleitenden Gedicht.
Birgit Kreipe, die selbst Psychologie studiert hat, nutzt dazu die Sprache des Unbewussten, und das drückt sich immer aus in rätselhaft verdichteten Bildern, wie ein gerissener Film, in aufblitzenden Fetzen: sprunghaft, flackernd, driftend, erratisch und doch hochsymbolisch.
Kreipes Gedichte machen dabei hör- und fühlbar, dass das verdrängte Reich der Kindheit zugleich voller Ängste und Verheißung war:
"die erde ausgedörrt und doch: unter den sohlen
das gras ist weich. wurde gerade geschnitten.
(...) und obwohl die wirklichen vögel tot sind
wecken mich alter gesang von hähern und
ahornsegel, gehisste, blätter, die immerzu fallen
aus zweigen, dem licht weit über den stümpfen."

Kinderängste und Erwachsenenwissen

Just dieser doppelte Blick, der die Kinderängste und das Erwachsenenwissen ineinander blendet, strukturiert und schärft diese Gedichte:
"linse, nach innen gestülpt. eingetrübt, fleckig.
alles sehe ich doppelt. zeitkrank, gehe ich
zum haus. zum haus. die mauern; mauern.
in den tapeten leuchten alte tapeten und holztrümmer
fügen sich zu parkett."
Im Zyklus "Kinderheim" evoziert die Autorin eindringlich die Innenlandschaften kindlicher Insassen: Da ist die "poison queen" – "aus ihren lächeln quillt unruhe, kribbelt wie juckpulver. mücken". Da ist der "sternschnuppen – novize, untergetaucht in einem nachtblauen/betonklotz im viertel wü̈rfel der wut". Das Meer und damit das Fluide, Flüssige, nicht Fixierbare spielt ebenso eine symbolische Rolle wie das Bild der Ausgrabung, das die Autorin dezidiert auf Sigmund Freud zurück führt, der die Erinnerungsarbeit mit der archäologischen Ausgrabung verglichen hat.

Rückkehr zu den Ursprüngen

Freud war seinerzeit allerdings davon überzeugt, dass die Erinnerung sich wieder zu einem Ganzen kitten lässt. Birgit Kreipe verneint eben dies und spielt so bewusst wie kreativ damit, dass aus der Evokation des Verdrängten etwas Neues, eine eigene Sprache entsteht.
Ihre Gedichte erinnern deshalb nicht zuletzt daran, was Sprache – allemal die poetische – kann: Sie ist im besten Sinne Re-Volte, also Rückkehr zu den Ursprüngen, doch ohne den Anspruch, dort je wieder anzukommen. "wären die alpen doch wolken geblieben", lautet der Stoßseufzer in "über die alpen". Aus eben dieser Paradoxie beziehen Birgit Kreipes Gedichte in "soma" ihre so dunkle wie leuchtende Strahlkraft.

Birgit Kreipe: "soma"
Gedichte
Kookbooks Verlag, Berlin 2016
80 Seiten, 19,90 Euro

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