Biomimicry

Lösungen der Natur weisen der Wissenschaft den Weg

Blattscheiderameisen transportieren kleine Stücke von Brombeerblättern in ihren Bau.
Auch Ameisenvölker dienen Forschern als Modell für Verkehrssysteme der Zukunft © picture alliance / dpa
Arndt Pechstein im Gespräch mit Dieter Kassel  · 13.01.2015
Biomimicry ist eine junge wissenschaftliche Disziplin, die sich Lösungen aus der Natur für die heutige Wirklichkeit zunutze macht. Der Neurowissenschaftler Arndt Pechstein setzt auf die innovative Kraft dieser Idee.
"Ziel ist es dabei, nicht nur Lösungen zu entwickeln, die technisch innovativ sind, sondern die eben darüber hinaus auch neue Herangehensweisen etablieren", sagte Arndt Pechstein im Deutschlandradio Kultur. Es gehe dabei nicht nur um Produkt-Innovationen, sondern auch um Dienstleistungs-Innovationen.
Der Biomimicry-Experte und Gründer des Berliner Startups "phi360" arbeitet dafür eng mit Wirtschaftsunternehmen und Architekturagenturen zusammen. "Es ist keine direkte Kopie der Natur, sondern immer eine Abstraktion, um unsere Probleme zu lösen", sagte Pechstein und machte damit den Unterschied zur Bionic deutlich.
Wüstenkäfer in der Sahara
Als Beispiel nannte der Wissenschaftler das Beispiel eines Wüstenkäfers in der Sahara, der durch die Beschaffenheit seines Rückenpanzers Wasser aus dem Morgennebel ziehe und damit trinke.
"Das ist natürlich faszinierend, wie hat die Natur solche Prozesse, solche Strukturen hervorgebracht, die das ermöglichen."
Wenn man solche Lösungen nicht nur auf einzelne Organismen übertrage, sondern auf ganze Systeme dann könne man von der Effizienz solcher Lösungen in der Natur lernen. Das lasse Übertragungen beispielsweise auf die Organisation moderner Verkehrssysteme und eine Mobilität der Zukunft zu.

Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Wir haben heute Morgen um ungefähr zwanzig vor sechs schon - da waren Sie möglicherweise noch nicht wach, aber Tipp, Sie können alles im Internet nachhören bei uns -, da haben wir geredet über einen neuen Trend im Bereich der Automobilwirtschaft, der vergangenen Trends ein bisschen entgegenläuft, denn da geht es inzwischen in vielen Ländern wieder um stärkere Motoren, größere Autos und mehr Angeberei und auch längere Suche nach Parkplätzen.
Das ist ein Trend, der sicherlich nicht unbedingt zukunftsweisend ist. Unsere Mobilitätsprobleme der Zukunft, die muss man anders lösen. Viele wissenschaftliche Forschungsbereiche suchen nach solchen Lösungen, und manch einer sucht sie in der Natur, konkret: im Bereich Biomimikry. Zu den deutschen Wissenschaftlern, die sich auf diesen Bereich spezialisiert haben - viele sind es noch nicht -, gehört Arndt Pechstein. Er ist eigentlich Neurowissenschaftler und unter anderem Mitbegründer und Vorsitzender des Vereins Biomimicry Deutschland. Er will mit diesem Verein die Biomimikry in Deutschland bekannter machen, und das soll er jetzt auch bei uns tun in den nächsten Minuten.
Schönen guten Morgen, Herr Pechstein!
Arndt Pechstein: Schönen guten Morgen!
Kassel: Ich muss zugeben, ich habe das erste Mal das Wort Biomimikry, oder international, Biomimicry, vor etwa 48 Stunden gehört, und ich glaube, andere Leute kennen es auch nicht. Was ist das ganz grundsätzlich?
Geniale Lösungen der Natur
Pechstein: Richtig, das ist auch relativ neu in Deutschland, das haben wir tatsächlich vor zwei Jahren überhaupt erst eingeführt. Der Begriff wurde ursprünglich von Janine Benyus in den USA in den Neunzigern geprägt, und er setzt sich zusammen aus den griechischen Worten Bios für das Leben und Mimese, also das Nachahmen. Also wenn man das übersetzt, ist das im Prinzip "von der Natur lernen und Sachen nachahmen".
Der Gedanke ist, dass in der Natur über 3,8 Milliarden Jahre, über die gesamte Evolution geniale Lösungen von der Natur hervorgebracht wurden - und auf allen Gebieten: ob das Architektur ist, Temperaturisolation, Energiegewinnung, Wassergewinnung und -speicherung, aber auch -reinigung, und eben auch Transport. Und Biomimicry nutzt diese Konzepte, analysiert die zugrundeliegenden Designprinzipien und überträgt sie in unsere Welt zur Lösung der Probleme, die wir eben genau in diesen Bereichen oft haben. Und das Ziel ist es dabei, nicht nur Lösungen zu entwickeln, die technisch innovativ sind, sondern eben, die darüber hinaus auch neue Herangehensweisen etablieren, also nicht nur Produktinnovation, sondern auch Serviceinnovation, und zweitens, die wirkliche Nachhaltigkeit integrieren. Also es ist noch mal keine direkte Kopie der Natur, sondern immer eine Abstraktion, um unsere Probleme zu lösen.
Kassel: Das heißt, das ist dann vermutlich auch der Unterschied zur Bionik.
Pechstein: Richtig.
Kassel: Die gibt es ja schon länger und die macht ja, vereinfacht gesagt, genau das: Sie guckt sich bei der Natur neue Techniken ab.
Pechstein: Genau, richtig.
Kassel: Was fasziniert Sie denn eigentlich an der Biomimikry so sehr? Sie sind Neurowissenschaftler.
Pechstein: Genau.
Kassel: Das kriege ich erst mal ja nicht ganz zusammen. Also schauen Sie sich quasi auch die Nerven- und Hirnvorgänge der Natur an?
Von der Effizienz der Nervensysteme lernen
Pechstein: Ja, auch das, aber was mich prinzipiell erst mal daran fasziniert, sind zwei Sachen: Das Erste ist eben, die Natur als Vorbild zu nutzen, wie wir Sachen besser machen können, wie wir Sachen auch gut machen können, und das Zweite ist - und das ist der zugrundeliegende Prozess im Biomimikry - der nutzerzentrierte, also auf den Menschen fokussierte Innovationsprozess. Und vielleicht ein ganz kleines Beispiel, warum es so faszinierend ist: Wenn man sich zum Beispiel anschaut, hat zwar jetzt nichts mit Transport zu tun, aber einfach, um das Prinzip mal zu verstehen: Es gibt in der Sahara zum Beispiel den Namibischen Wüstenkäfer, der durch seinen Rückenpanzer sozusagen, durch seinen Rücken, wo so kleine Huckel drauf sind, Wasser aus dem Morgennebel zieht und damit trinkt.
Also durch die Oberfläche seiner Rückenstrukturen kann er Wasser sammeln und das dann zum Leben nutzen. Und das ist natürlich faszinierend: Wie hat die Natur solche Prozesse und solche Strukturen hervorgebracht, die das ermöglichen? Und das an sich ist faszinierend. Und wenn man das natürlich jetzt nicht nur auf einzelne Organismen und vielleicht Strukturen überträgt, sondern auf ganze Systeme wie eben das Nervensystem, dann können wir uns anschauen: Wie können wir, wenn wir von der Effizienz der Nervensysteme lernen wollen, wenn wir auch davon lernen wollen, wie zum Beispiel es dort nicht, wie in unserem Verkehr, Staus gibt und Fehlfunktionen, dann können wir da enorm viel lernen und unsere Prozesse verbessern.
Kassel: Sind Sie denn zum Teil schon so weit, also haben Sie schon Konzepte für die, jetzt kommt der große Begriff, die Mobilität der Zukunft?
Pechstein: Genau. Wir haben an einem Wettbewerb teilgenommen - das ist die Audi Urban Future Initiative - im vergangenen Jahr, und haben da ein ganzes Konzept entwickelt für Berlin, also was eben auch skalierbar ist, wo es genau in diese Richtung geht.
Kassel: Und was war das, also wo ist da der Bezug zur Natur?
Neue Verkehrssysteme
Pechstein: Genau, der Bezug zur Natur war im Prinzip, dass wir gesagt haben: Wir müssen das gesamte System neu denken. Wenn wir jetzt unsere jetzigen Systeme anschauen, sind die eben zentral gesteuert durch Ampelsysteme, wir haben eben Fahrer, die natürlich in ihren Fahrzeugen selber fahren, und das verursacht die Probleme, die wir haben. Wir haben Staus, wir haben auch durch die Antriebssysteme, die wir natürlich verwenden, Probleme mit Verschmutzung, Luftverschmutzung, und wir haben eben während der Rush Hour, also wenn die Stadt am vollsten ist, natürlich Probleme mit Stau und auch Zugang zu bestimmten Verkehrssystemen. Und wir haben gesagt einfach: Wir müssen prinzipiell das System neu aufstellen, also wir müssen es neu denken.
Wir haben zum Beispiel über ein modulares Design nachgedacht, also um eben auch diese Resilienz - wie das bezeichnet wird, auch in der Biologie, also die Toleranz eines Systems gegenüber Störungen oder eines Systems, mit Veränderungen umzugehen -, um das zu integrieren. Wir haben gesagt, das System muss praktisch von unten organisiert werden, das heißt, unsere Idee war, dass wir langfristig - und da schauen wir auch schon in die Zukunft -, dass wir eben nicht Fahrzeuge haben, die von Menschen gesteuert werden, sondern die autonom fahren, um damit praktisch ganz neue Verkehrssysteme zu ermöglichen, die selbstgesteuert sind, die auch den Verkehr verteilen können, sodass eben keine Staus entstehen.
Kassel: Wissen Sie, woran ich gerade denke? Ist möglicherweise Quatsch, aber ich sage es mal trotzdem: Ich denke an einen Ameisenhaufen, wo wir ja immer hingucken und denken, das ist ein irres Chaos - wir wissen aber: Es ist genau das Gegenteil davon.
Pechstein: Genau. Das war auch eines unserer Modelle, in das wir geschaut haben bei Ameisen. Das ist das Faszinierende: Die kommunizieren ja nicht von Organismus zu Organismus direkt, sondern die kommunizieren über Signale in der Umgebung. Das wird also Stigmergy bezeichnet - dafür gibt es gar kein deutsches Wort direkt -, was die machen. Die legen sogenannte Pheromone, also Duftstoffe in der Umgebung ab, und die dann nachfolgenden Ameisen riechen, also lesen diese Daten aus und folgen dann dieser Information. Und wir haben das Ganze übertragen und das praktisch auf den Datenraum, und Big Data ist jetzt auch so eine ganz große natürlich Entwicklung, die wir nutzen können für unseren Verkehr, um auch unser Verkehrssystem zu verändern. Und das ist was, was wir eben auf Verkehrsplanung übertragen: Wie können wir diese Sachen nutzen und was können wir - und das war auch in der Zusammenarbeit dann mit einer Fahrstuhlfirma -, was können wir auch aus der Fahrstuhlwelt lernen?
Weil es geht eben auch darum - und das machen wir in der Vertikalen bereits, aber in der Horizontalen noch nicht: Wie können wir unabhängig von bereits bestehenden Routen, wie können wir praktisch zielgesteuert Leute transportieren? Und ein zweiter Punkt, und das ist auch was, was wir aus der Natur lernen können: Wenn wir uns anschauen, wie die Nutzungsrate eines Fahrzeugs momentan ist: ungefähr fünf
Prozent - 95 Prozent der Zeit steht das Auto auf irgendeinem Parkplatz. Das ist natürlich eine große Verschwendung von Ressourcen, und das würde in der Natur nicht passieren. Das heißt, wie können wir ein System generieren, was direkt auf die Bedürfnisse abgestimmt ist, und wenn ich es brauche, rufe ich über eine App oder über eine andere Funktion mein Fahrzeug, es kommt zu dem Punkt, wo ich es benötige und bringt mich zu dem Punkt, wo ich hin will. Und das war eigentlich auch so ein prinzipieller Ansatz für unser System, das wir uns erdacht haben.
Kassel: Nun habe ich ja sozusagen, und das war wirklich fast erfunden, 100 Punkte mit meinem Ameisenhaufen. Aber gibt es denn - um vielleicht noch mal ein bisschen zu gucken auf Dinge, auf die man als Laie nicht kommt bei der Biomimicry, Biomimikry - auch Sachen, wenn wir auch mal beim Verkehr, bei der Mobilität bleiben, aus der Tierwelt, die nicht ganz so naheliegend sind wie Ameisenhaufen, wo vielleicht der Laie sagt, na ja, gut, das Tier hat ja nun nichts mit unserem städtischen Straßenverkehr zu tun?
Pechstein: Genau. Also vielleicht hole ich erst mal ein Beispiel aus der Kammer sozusagen, was vielleicht einige kennen, aber die meisten sicherlich nicht, was jetzt nicht direkt auf den Fahrzeug- und Autoverkehr in der Stadt sich bezieht. Und zwar ist das ein Beispiel, was in Japan verwendet wurde.
Und zwar kennen wir ja alle diese Schnellzüge, und Japan hat auch so einen Schnellzug, den Shinkansen-Zug, und das Problem in der Vergangenheit war: Der wurde auch als bullet train, also praktisch der Geschoßzug, bezeichnet, weil er eben relativ kurznasig vorne war, und immer, wenn er aus dem Tunnel rauskam und sich mit hoher Geschwindigkeit bewegt hat, hat es einen lauten Knall gegeben. Und das hat einerseits natürlich die Anwohner gestört und zweitens war das eine Riesen-Energieverschwendung - bis ein Ingenieur festgestellt hat, dass das Design anders sein muss, und er wurde inspiriert von dem Kingfisher, das ist ein Vogel, der praktisch in das Wasser taucht und mit dem Schnabel, der eine besondere Form hat, keine Wellen und keine Spritzer verursacht.
Das heißt, er kann von einem dünnen Medium in ein optisch dichteres Medium eintauchen, ohne Turbulenzen zu verursachen. Und dann hat er dieses Prinzip übertragen auf den Zug und die Nase des Zuges sozusagen verändert, und dadurch wurde Energie gespart und der Zug konnte sich ohne diese Geräusche fortbewegen. Was wir geschaut haben zum Beispiel auch im Sinne von Designprinzipien, die wir auf jetzt den städtischen Individual- und öffentlichen Verkehr übertragen wollten, waren zum Beispiel Mechanismen, wie wir einzelne Fahrzeuge ... Und wir haben gesagt: Ein Fahrzeug, das heutzutage praktisch ein Fassungsvermögen für fünf Personen hat, ist auch überdimensioniert, weil in der Regel sitzen ein bis zwei Personen in der Stadt darin.
Kassel: Allerdings.
"Wir brauchen kleinere Fahrzeuge"
Pechstein: Das heißt, wir brauchen kleinere Fahrzeuge, und da ist wieder dieser modulare Aspekt, den ich vorhin schon erwähnte. Aber wir wollen auch koppeln können, um neue soziale praktisch Phänomene zu schaffen und um es auch zu ermöglichen, dass zum Beispiel eine Familie zusammen reisen kann in der Stadt. Und da haben wir überlegt: Wie können wir Fahrzeuge koppeln?
Und da haben wir tatsächlich zum Beispiel bei dem Virus nachgeschaut und haben festgestellt: Es gibt eine bestimmte Geometrie, die über Dreiecke sich öffnet und die man dann koppeln kann. Und das waren zum Beispiel nicht naheliegende Beispiele, die wir aus der Natur verwendet haben, um neue Kopplungsmechanismen für modulare Fahrzeugdesigns zu entwickeln.
Kassel: Arndt Pechstein, Neurowissenschaftler und Vorsitzender und Mitbegründer des Vereins Biomimikry Deutschland über Lösungen an Stellen, wo man sie vielleicht nicht suchen würde, wo er sie aber sucht. Ich denke, Herr Pechstein, wir hören uns wieder, Sie haben mich jetzt irgendwie angefixt, was dieses Thema angeht. Für heute erst mal vielen Dank! Tschüss!
Pechstein: Sehr schön! Sehr gerne, vielen Dank. Tschüss!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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