Biografie

Wenn sich Vernunft und Denken verheddern

Von Jörg Magenau · 14.02.2014
In einer neu aufgelegten Hölderlin-Biografie bietet Wilhelm Waiblinger ein überraschend modernes Verständnis der geistigen Verwirrung Friedrich Hölderlins an. Das Zeitdokument gab es bislang nur in Bibliotheken und Antiquariaten.
Wilhelm Waiblinger gehörte zu den jungen, genialischen Schwaben des frühen 19. Jahrhunderts, der, als gehörte das zu einem echten Genie dazu, schon im Alter von 26 Jahren 1830 in Rom starb. Von Ludwig Uhland protegiert, mit Eduard Mörike befreundet, hatte er am Tübinger Stift Theologie studiert, aber nur, um sich dort intensiv mit Literatur zu beschäftigen und – auch das gehört zum Genie – sich in eine skandalträchtige Liebesgeschichte zu werfen.
Mit 18 schrieb er seinen ersten Roman "Phaeton", der das Vorbild Friedrich Hölderlin erkennen ließ, und war so etwas wie ein Star. Insgesamt hinterließ er ein Werk von mehr als 4000 Seiten, darunter viel egomanes, pubertäres Getöse, aber auch – und damit blieb er der Nachwelt ein Begriff – eine kleine Biografie über Hölderlin, die erste überhaupt und die einzige aus nächster Nähe und persönlicher Anschauung. Über fünf Jahre hinweg während seiner Tübinger Zeit besuchte Waiblinger den in seinem Turmzimmer vegetierenden Dichter, der da schon seit anderthalb Jahrzehnten als geistig umnachtet galt und mehr oder weniger entmündigt war. Das eindrucksvolle Porträt entstand 1827/28 in Rom. Zuletzt nur antiquarisch erhältlich, wird es nun im Tübinger Klöpfer & Meyer Verlag neu aufgelegt.
Waiblinger bewunderte Hölderlin, und da er sich selbst als frühreifes Genie stilisierte, kokettierte er auch mit dem Wahn, der den Geniekult begleitete und den Hölderlin gewissermaßen bewahrheitete. Waiblinger spiegelt sich in seinem Idol, doch genau das macht dieses Bildnis so intim und einfühlsam. Er schildert ihn in seinem für Außenstehende närrischen Verhalten, seinen sinnlosen Verbeugungen und überhöflichen Anreden, schildert die erschreckend langen Fingernägel, die Gesichtszuckungen, die "erloschenen, aber noch nicht seelenlosen lieben Augen" und immer wieder die Unfähigkeit, ein Gespräch zu führen.
Waiblinger erkennt die Vernunft
Doch Waiblinger hält Hölderlin nicht eigentlich für verrückt. Er erkennt die Vernunft, die sich in diesem "armen" Kopf um Ordnung bemüht. Doch es scheint so, dass in diesem Kopf immer viel zu viel gleichzeitig geschieht und deshalb der Überblick verloren geht. Waiblinger diagnostiziert nicht eigentlich Narrheit, sondern eher Schwäche und Erschöpfung gegenüber diesem Dauerandrang des Viel-zu-Vielen.
Kaum ist ein Satz gesprochen, ein Gedanke zu Papier gebracht, verliert Hölderlin den Faden und sich selbst vom Hundertsten ins Tausendste. So führte er in seinem Turmzimmer am Neckar endlose, laute Selbstgespräche zur inneren Absicherung und pflegte sich immerzu aus seinem "Hyperion" vorzulesen. Denn alles Fremde, Unbekannte, von Außen Kommende bedrohte und überforderte ihn in seiner Aufnahmekapazität.
Waiblinger bietet auf diese Weise ein überraschend modernes Verständnis der geistigen Verwirrung an: da sind keine bösen Dämonen am Werk, sondern es ist die Vernunft und das Denken selbst, das sich in sich verheddert und nicht mehr hinausfindet.
So schreibt sich das junge Genie Waiblinger über den Genie-und-Wahnsinn-Kult hinaus. Denn wenn der Wahn nichts ist, was unerklärlich von außen kommt und den Menschen überfällt, dann ist auch das Genietum nicht länger eine göttliche Flamme oder was auch immer, die den Dichter erleuchtet. Dann arbeitet der poetische Verstand – oder eben nicht. Man würde Waiblinger missverstehen, wenn man seine Schrift – wie das lange geschehen ist – als Beleg für das in den Wahn mündende Genialische lesen würde. Der dramatisierende Titel seiner Schrift hat zu diesem Missverständnis sicher beigetragen.

Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn

Klöpfer & Meyer, Tübingen 2014
80 Seiten, 14 Euro

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