Biografie

Der hartkantige Weltbürger

Der Philosoph Jürgen Habermas am 12.12.2012 bei einer Pressekonferenz im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen).
92 Jahre alt: Der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas © picture alliance / dpa - Martin Gerten
Von Arno Orzessek · 14.07.2014
Aufregend ist die Biografie von Stephan Müller-Doohm über Jürgen Habermas - aufregend wie der Philosoph selbst. Reizvoll ist das Buch auch, weil sich die Geschichte der Bundesrepublik noch einmal mit Habermas durchdenken lässt.
Ja, es stimmt! Viele wissenschaftliche Texte von Jürgen Habermas gleichen "papierenen Wüsteneien" (Arno Widmann). Und auch Stefan Müller-Doohm ist kein allzu spritziger Rhetoriker. Trotzdem ist seine Habermas-Biografie aufregend, weil Habermas selbst ein aufregender, oft auch aufgeregter Mensch ist, ein leidenschaftlicher Intellektueller und urteilsgieriger Disput-Junkie.
Habermas' bürgerliches Leben, das Müller-Doohm skizziert, aber keineswegs bunt ausmalt, verlief insgesamt geordnet - bis hin zum Bezug der schnieken Villa im Bauhaus-Stil am Starnberger See und einem wahren Gewitter von Auszeichnungen.
Im Leben des Geistes aber bewegte er sich über die Jahrzehnte in scharf profilierten Rollen: Als genialischer Aufmucker, der in der "FAZ" mit Heideggers Nazismus abrechnet; als Jungstar am Frankfurter Institut für Sozialforschung, wo er Max Horkheimer durch Marx-Lektüre auf- und missfällt; als Züchtiger der Studentenbewegung, die er vor "linkem Faschismus" warnt; als eifernder Wachtmeister, der die Singularität des Holocaust im Historikerstreit vor Nivellierung durch Ernst Nolte u. a. bewahrt; als Machtmensch, der den Suhrkamp Verlag eher dominiert als berät; als global verehrter Reise-Philosoph, der in Rot-China von Studenten gefeiert wird.
Und immer versteht sich Habermas als unerbittlich niveauvoller Vordenker, der nur einem Fetisch huldigt oder zu huldigen vorgibt: dem "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" als dem berühmt-berüchtigten Substanzkern seiner "Theorie des kommunikativen Handelns".
Abenteuerlustig, aber unrettbar verkopft
Müller-Doohm weiß offenbar alles über die öffentliche Figur, den Wissenschaftler und die Texte von Habermas (der Anmerkungsapparat umfasst knapp 200 Seiten). Als Analytiker des Privatmannes tritt er zurück:
"Das für Habermas' Wirken typische Zusammenspiel von philosophischer Reflexion und intellektueller Intervention strukturiert diese Biografie."
Das schließt Anekdoten, verstanden als charakteristische Begebenheiten, keineswegs aus. 1954, so erzählt Müller-Doohm, fuhr Jürgen in einem alten Opel namens "Grauchen" bis nach Portugal ... und veröffentlichte, kaum zurück, den Artikel "Autofahren. Der Mensch am Steuer", in dem er das Autofahren "so etwas wie eine Geisteswissenschaft" nennt. Am Steuer müsse man nämlich "fortwährend fremde Texte übersetzen, fremde Welten, Stile, Manieren und Marotten". Was sehr schön belegt, dass der junge Jürgen H. abenteuerlustig, aber längst unrettbar verkopft war. Und vor allem, dass er alles, was ihm begegnete, zu Text machen konnte. Ein wichtiger Punkt: Auf Texte hat der sprachbehinderte Meisterdenker stets mehr gegeben als auf mündliche Rede.
Nicht zuletzt liegt der Reiz von Müller-Doohms Biografie darin, dass man die Geschichte der Bundesrepublik noch einmal mit Habermas erlebt, durchdenkt - und von ihm beeinflusst sieht. Gegen eine seiner Parolen hat der hartkantige Weltbürger gewiss nicht verstoßen:
"Öffentliches Engagement ist die [...] wichtigere Aufgabe der Philosophie."

Stephan Müller-Doohm: Jürgen Habermas - Eine Biographie
Suhrkamp Verlag 2014
736 S., 29,95 Euro.
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