Biografie

Autor und Abenteurer

Besprochen von Wolfgang Schneider · 06.11.2013
Für Albert Camus war Europa ein häßlicher Zweckbau, dem er seinen Entdeckungsgeist entgegenstellte. In ihrer Biografie beschreibt Iris Radisch auch, wie leidenschaftlich Camus sich Jean-Paul Sartre stritt und was er sich von seiner Mittelmeerutopie erhoffte.
Iris Radischs mit Temperament und stilistischem Schliff geschriebene Biographie zieht einen sofort in den Bann. Denn Camus‘ Leben begann 1913 kein bisschen nobelpreisverdächtig, irgendwo in Algerien, in ärmlichsten, geradezu vorzivilisatorischen Verhältnissen. Die Mutter ist eine apathische Analphabetin mit einem Wortschatz von 400 Wörtern; der Vater stirbt ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes in der Marne-Schlacht.
Für den Schriftsteller ist die Putzfrauen-Mutter zeitlebens ein verklärtes Idol archaischer Einfachheit. Der gleichgültige, dürre Ton des "Fremden" ist nicht bei den modernen Amerikanern entliehen, er reicht zurück in die gelebte Erfahrung eines Kindes, das eine unsentimentale Erziehung unter der Sonne Nordafrikas verabreicht bekommt.
Und Camus hatte das Glück, mit Germain und Grenier zwei Lehrer zu haben, die ihn förderten, wo sie konnten. Das französische Schulsystem brachte ihn nach oben. Seine frühen Jahre konnte er deswegen als verlorenes Paradies beschreiben. Der Armut stand ein Reichtum gegenüber: das Meer, das lichtdurchflutete Leben an der Küste, die Freuden des Körpers. Die algerischen Jahre waren seine Lektion in Weltliebe und Augenblicksgenuss.
Dem "hässlichen modernen Zweckbau namens Europa" stellte er seinen Wertekatalog des "Mediterranen" gegenüber: Bescheidenheit, Brüderlichkeit, Einfachheit, Augenmaß, "Geschmack am Leben". Seine Mittelmeerutopie, die Iris Radisch in erhellende Kontexte stellt, hat allerdings auch Wurzeln, die aus dem kalten Norden herüberwachsen: Spengler und Nietzsche und die notorische deutsche Griechenlandverherrlichung.
Der lungenkranke Frauenheld
Während des Zweiten Weltkriegs machte der ausgemusterte Lungenkranke und Frauenheld eine
Blitzkarriere: als Autor, als Lektor bei Gallimard, als Journalist. Der "Fremde" erschien 1942 im besetzten Paris. Die deutsche Zensur hatte nichts gegen die fatalistische Welthaltung einzuwenden; „Gleichgültigkeit“ war den Besatzern lieber als Widerstand. Der "Mythos des Sisyphos" und die Absurditätsphilosophie passten allerdings zu einem Frankreich, wo Millionen mit Handkarren auf der Flucht vor der Wehrmacht waren.
Andererseits erlebte Camus in diesen Jahren wie viele Schriftsteller eine Remoralisierung. Sein zweiter Werkzyklus, zu dem der Roman "Die Pest" gehört, kreist um die Begriffe des Kampfes und der Revolte. Mehrere Jahre war er Chefredakteur und unermüdlicher Leitartikler der Tageszeitung "Combat", die erst im Untergrund erschien und nach der Befreiung noch eine Weile das maßgebliche Blatt der Stunde war.
Radisch schildert nicht nur ein schnelles, abenteuerliches Schriftstellerleben, sie stellt auch die Werke mit ihrem heute noch tragfähigen Ethos vor. Spannend lesen sich die Ausführungen über die Kontroverse mit Sartre, der Camus für einen "schlechten" Denker hielt. Dieser allerdings behielt in fast allen Belangen gegenüber dem moskautreuen Sozialisten Sartre recht. Antitotalitarismus, Kritik der instrumentellen Vernunft, Wachstumsskepsis. Es gibt viele Motive in Camus‘ Denken und Schreiben, an die sich heute anknüpfen lässt.
Iris Radisch: Camus. Das Ideal des Einfachen. Eine Biographie
Rowohlt, 2013
351 Seiten, 19,95 Euro
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