Biodiversität auf Friedhöfen

Ruhe für die Toten, Leben für die Natur

Eine Jesusfigur unter einem Baum
Im Laufe des Lebens eines Baums kommen ungefähr 1000 Arten vor, die darauf leben, zum Beispiel etliche Käferarten © picture alliance / dpa / Patrick Seeger
Von Antje Stiebitz · 03.04.2016
Immer mehr Menschen lassen sich in Urnen bestatten. Der Anteil der Friedhofsflächen, der für neue Gräber genutzt wird, sinkt deshalb. Der Natur bietet das die Chance sich zu entfalten. Seltene Brutvögel siedeln sich an oder wilde Farnpflanzen.
Ines Fischer öffnet das Tor zum Georgen-Parochial-I-Friedhof im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg und gibt den Blick auf 2000 Quadratmeter verwilderte Friedhofsfläche frei. Die 36-Jährige ist Landschaftsarchitektin und arbeitet für die Grüne Liga. Der Umweltverband nutzt die Fläche als Gemeinschaftsgarten und baut hier mit Kindergartenkindern und Schülern aus dem Kiez Gemüse an. Ines Fischer deutet mit dem Zeigefinger auf eine von sieben hüfthohen Holzkonstruktionen, die entlang der Friedhofsmauer stehen, sogenannte Hochbeete:
"Da kommt unten Reisig rein, und Totholz und Laub, alles was in so einem Garten, auf so einem Friedhof anfällt und oben ist Kompost und richtige Erde und dadrin wird Gemüse angebaut. Denn viele Gärtnerinnen und Gärtner, die haben, ja so, ethische Bedenken, direkt in der Friedhofserde zu gärtnern."
Einige Meter weiter zeigt sich, was Ines Fischer meint: "Vorsicht, hier wohne ich!" steht auf einem Schild mit dem Abbild eines Fuchses. Gleich darunter liegt der Eingang zu einem Fuchsbau und neben dem Eingangsloch türmt sich die herausgebuddelte Erde – vermengt mit Knochensplittern.

700 Spezies wilder Pflanzen

"Deswegen ist es auch wichtig, sich so ein bisschen abzugrenzen von dieser Fläche. Wenn wir hier mit Kitas und Schulen sind, dann erklären wir denen schon, das das mal ein Friedhof war, und dass man die Fläche auch in Ruhe lässt und eben nur an den gekennzeichneten Wegen entlangläuft."
Diese Ruhe zieht nicht nur zahlreiche Vögel, sondern auch Insekten, Schmetterlinge und Kleintiere an. Außerdem gedeihen zwischen alten Grabsteinen und Gräbern, deren Umrandungen kaum noch erkennbar sind – völlig ungestört - vielfältige Pflanzen. Für Manfred Schubert, Geschäftsführer der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz, sind Friedhöfe Refugien der Natur in der Innenstadt, weil sie einen geschützten Raum und eine große Vielfalt an Lebensräumen bieten – frei von Dünger, Pestiziden, von Mähmaschinen und Traktorenlärm. Der Biologe steht auf dem Luisenstädter Friedhof im Berliner Stadtteil Kreuzberg und macht auf einen alten Baumstamm aufmerksam, der kahl in die Luft ragt:
"Im Laufe eines Lebens so eines Baums kommen da ungefähr 1000 Arten vor, die darauf leben, also Insektenarten, Käferarten, also immer wechselnd natürlich in einem jungen Baum leben andere Tiere als bei so einem alten Baum. Sie sehen auch die alten Baumpilze, die da dran sind."
Rund 63 Brutvogelarten kann man auf Berlins Friedhöfen zählen. Schattige Friedhofsmauern und sonnige Wiesen beherbergen 700 Spezies wilder Farn- und Blütenpflanzen. Insbesondere auf ungemähten Wiesen tummeln sich Rüsselkäfer, seltene Gräser schaukeln im Wind.
Mit dem Thema Friedhof beschäftigen sich Manfred Schubert und sein Team besonders intensiv, weil sich seit einigen Jahren zwei erstaunliche Trends abzeichnen. Zum einen sind die Friedhofsverwaltungen mit rückläufigen Bestattungszahlen konfrontiert und zum anderen verändern sich die Bestattungsgewohnheiten. Waren früher Erdbestattungen üblich, geht der Trend heute zu Urnengemeinschaftsanlagen.
"Eine Erdbestattung braucht mehr Fläche als eine Urnenbestattung und deswegen sage ich mal zu dem Zeitpunkt ist ermittelt worden von den etwa 1400 Hektar Friedhofsfläche, die Berlin und zum Teil außerhalb der Stadt hat, werden nur langfristig 700 Hektar benötigt. Und die Frage ist, was passiert mit den anderen 700 Hektar, die nicht mehr für Bestattung benötigt werden."

Sogar Bienenstöcke gibt es auf dem Friedhof

Die Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz legte eine minutiöse Bestandsaufnahme der Berliner Friedhöfe vor und ging der Frage nach, was die Grünflächen für den Naturschutz bedeuten. Damit lieferte der Dachverband eine Entscheidungsgrundlage für die Berliner Senatsverwaltung über eine mögliche Nachnutzung. Die Alternativen: Wird die Grünfläche erhalten oder soll hier Baugrund entstehen? Die Kirchen, die immerhin 57 Prozent der Berliner Friedhöfe besitzen, werden hier ebenfalls Entscheidungen fällen müssen.
Noch ist nicht klar, ob der Nutzungsvertrag der Grünen Liga für die Grünfläche auf dem Georgen-Parochial verlängert wird. Die Entscheidung wird auch Max Grüber betreffen. Der 32-jährige Imker hat in einer Ecke des Parks entlang der Mauer zehn Bienenstöcke aufgestellt.
Grüber freut sich über die Pracht der Blausterne, die den Friedhofsboden überzieht, denn er weiß, wie bedeutsam deren Pollen und Nektar für seine Bienen sind
"Also Bienen sind ja ganz wichtige Bestäuber neben vielen anderen Insekten, Solitärbienen, Hummeln, genau, und leiden natürlich wie alle anderen Bienen oder alle anderen Insekten auch unter Insektiziden, die eingesetzt werden durch den Menschen und ja, Bienen sind abhängig von den Pflanzen und die Pflanzen in gewisser Weise von den Bienen oder von bestäubenden Insekten."
Der Imker hebt einen der Kistendeckel an. Unter einem Gitter krabbelt das Bienenvolk:
In der Morgenfrische ist das Summen noch verhalten, doch sobald Grüber mit seinen Fingerknöcheln gegen die Kistenwand klopft, reagieren die Tiere. Mit der steigenden Tagestemperatur werden sie munter und schwingen sich in die Frühlingsluft. Da es Bienenvölker in der freien Natur immer schwerer haben, sind die Bienenstöcke zwischen den Gräbern ein kleines Paradies für sie.