Billy Hutter: "Karlheinz"

Sonntags geht's in den Puff

Passanten laufen am 13.01.2014 in Hamburg über die Reeperbahn. Touristen-Führer und Ladenmitarbeiter auf der Reeperbahn haben die Folgen der Krawalle und der Einrichtung von Gefahrengebieten durch die Polizei gespürt. Foto: Axel Heimken dpa (zu dpa: "Randale, Proteste, Gefahrengebiete: Arbeiten auf der Reeperbahn" vom 14.01.2013)
Kleiner Ausflug: In seinem Roman schildert Billy Hutter eine exemplarische Nachkriegsbiografie aus Westdeutschland. © picture alliance / dpa / Axel Heimken
Von Pieke Biermann · 17.09.2015
Bei einer Wohnungsauflösung findet Billy Hutter den Nachlass von Karlheinz N. Der hat sein Leben akribisch dokumentiert - sogar Besuche bei Prostituierten. In seinem Roman "Karlheinz" rekonstruiert Hutter das Bild eines Spießerlebens.
Wer je die Wohnung einer verstorbenen Nachbarin betreten oder die von Vorfahren aufgelöst und sich, beim Entsorgen ihrer unbrauchbaren Intimitäten, kurz auf der Müllkippe umgesehen hat, der kennt das Gemisch aus Beklommenheit und Neugier. Eine milde, weil hinter Marktlogik verschleierte Form kennen nur noch Leute, die ihre ersten Schritte ins eigene Leben mit Trödel möbliert haben. Wer heute flügge wird, improvisiert mit IKEA & Co. und verpasst dabei eine sinnliche Erfahrung: Trödel ist das stoffliche Pendant zur Oral History. Er erzählt, was nicht in die offiziöse Historiografie passt: Lebens- und Alltagsgeschichte. Vielleicht muss man heute Künstler sein, um sie lesen zu können – in den Brandspuren, zum Beispiel, die wieder zum Vorschein kommen, wenn man einen Schrank abflammt, der den Zweiten Weltkrieg hinter sich hat. Billy Hutter ist so ein Künstler. Einer, der seit über 30 Jahren in Projekten zwischen Dada, ApO-Happening und Polit-Punk aktiv ist und Heimatgeschichte in Dialekt erzählt – eine Naziagentenbiografie, zum Beispiel. Ebenso lange entrümpelt er Wohnungen, zum Lebensunterhalt, als Mitgründer einer Arbeitsloseninitiative.
Heimatkunde und Mentalitätsforschung über die Bundesrepublik
Der Dialekt ist Pälzisch, pardon: Pfälzisch. Die Heimat ist Ludwigshafen, eine Art Wolfsburg von NS-Deutsch-Südwest, Chemieindustrie, früher IG Farben, heute (wieder) BASF. "Eine Arbeiterstadt. Hier dominiert leider ein schlechter Geschmack." Die Monnemer, pardon: Mannheimer am andern Rheinufer sagen herablassend Lummbehaawe. Mitten drin Billy Hutter, ein moderner "Jäger aus Kurpfalz", nur reitet er nicht durch den grünen Wald, sondern durch Familie Mustermanns Keller und Dachböden. Dabei stößt er 1990 auf einen Mann, der tot aus dem Rhein gefischt wurde. Über 20 Jahre und manchen Familienzwist später konstruiert er aus einem halben Dutzend ramponierter Koffer, ein paar Kartons und einem Wäschekorb mit einem Griff einen Roman. Er heißt wie jener Mann: "Karlheinz" und ist eine hinreißende Mischung aus Elementen, die angeblich keine chemische Verbindung eingehen: akribisch recherchierte Biografie und autobiografische Reflektion, Heimatkunde und Mentalitätsforschung über die Bundesrepublik von "Wirtschaftswunder" bis "geistisch-moraliche Wende".
Hutter erzählt, natürlich auf Hochdeutsch, stilistisch kunstvoll mäandernd – mit Dokumenten und Fiktivem, Bildern und scheinbar quertreibenden Zitaten – entlang einer gruseligen Familienaufstellung. Karlheinz, Jahrgang 1929, wohnt zeit seines Lebens bei den Eltern und hat dieselbe Manie, über alles Buch zu führen, wie sein Chemiker-Vater, "ein Mann der Salze und der Säuren". Als Kind spielt er mit einem "dicken Nachbarsjungen", der später Bundeskanzler wird. Karlheinz wird nur BASF-Mitarbeiter, Opelfahrer, manischer Verwalter seines kleinen Lebens inklusive Urlaube mit den Eltern, Abneigung gegen die Schwester und deren Kinder, Arzt-, Pornokino- und Puffbesuche. "Karlheinz" ist ein Seiltanz aus Beklommenheit und Neugier – anrührend und mit keiner Silbe voyeuristisch.

Billy Hutter: Karlheinz
Roman. Metrolit Verlag, Berlin 2015
224 Seiten, 25 Euro

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