Bildungspolitisches "Entwicklungsland"

Moderation: Holger Hettinger · 13.02.2006
Der Bildungsforscher Klaus Klemm hat Deutschland im Hinblick auf die Bildungschancen von Kindern aus sozial schwachen Familien als "Entwicklungsland" bezeichnet. Zwar gebe es in allen Industrieländern unterschiedliche Chancen für Kinder aus reicheren Familien einerseits und Kindern aus ärmeren Familien und Familien mit Migrationshintergrund andererseits. In Deutschland sei diese Kluft allerdings besonders stark ausgeprägt, sagte der Wissenschaftler.
Hettinger: Der Sonderberichterstatter der UN-Menschenrechtskommission untersucht ab heute, wie in Deutschland das Recht auf Bildung für Kinder aller Gesellschaftsschichten umgesetzt ist und was in Deutschland nach dem schlechten Abschneiden bei der PISA-Studie getan wird. Über die Hintergründe dieser Untersuchung, aber auch über die Chancen, die solch ein Papier des UN-Sonderberichterstatters bietet, darüber sprechen wir nun mit Klaus Klemm, er ist Bildungsforscher an der Universität Essen. Herr Professor Klemm, die Nachricht klingt ja zunächst mal beunruhigend: Die UN-Menschenrechtskommission untersucht ab heute die Verhältnisse in Deutschland, an Deutschlands Schulen. Ist es hierzulande wirklich so schlimm oder hätte man die Situation eine Nummer kleiner untersuchen können?

Klemm: Also zunächst mal der Tatbestand, dass das untersucht wird, ist nicht beunruhigend, sondern der Tatbestand, dass wir in der Tat weltmeisterlich vorne sind, wenn es um soziale Ungleichheit in unseren Schulen geht, der ist beunruhigend. Wir sind in den Leistungen – das ist ja nun viel in den letzten Jahren diskutiert worden – internationales Mittelmaß, und in dem einen Bereich, da, wo es um die soziale Auslese geht, um den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und auch nationaler, ethnischer Herkunft und Bildung, da sind wir wirklich, ja, Entwicklungsland.

Hettinger: Welche Kinder sind denn da besonders davon betroffen, können Sie da ungefähr das Spektrum benennen?

Klemm: Ja, wenn wir insgesamt auch die letzten - meinetwegen - 100 Jahre betrachten, haben wir immer das Problem und immer das Thema in der deutschen Schuldiskussion, dass die Kinder mit einem sozial schwächeren Hintergrund, früher sagten wir, die Kinder aus Arbeiterfamilien, dass diese Kinder im deutschen Schulsystem deutlich schlechter vorankommen als Kinder, ja, als meine Kinder zum Beispiel, als Kinder aus Akademikerfamilien usw. Das ist das, was wir traditionell wissen, was seit zehn, zwanzig, dreißig, vierzig Jahren, seit vielen, vielen Jahrzehnten immer thematisiert wird, ohne dass sich viel ändern würde. Hinzugekommen ist seit den 60er Jahren die Gruppe der Kinder mit Migrationshintergrund, früher haben wir von Ausländerkindern gesprochen, diese Gruppe ist hinzugekommen.

Hettinger: Woran liegt denn das, dass gerade diese "Problemgruppen" so extrem benachteiligt sind und dass man anscheinend kein Rezept gefunden hat, irgendwo den Hebel anzusetzen?

Klemm: Na ja, man muss zum einen sagen, auf welches Land immer wir auch schauen, wir finden kein Land, wo es nicht einen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolgen gibt. Das ist überall so, und es ist auch überall so, dass der Zusammenhang zwischen dem Migrationshintergrund und Bildungserfolgen überall sichtbar ist. Was aber eben uns in Deutschland beunruhigen muss – und deshalb wahrscheinlich auch der UNO-Besuch -, was uns beunruhigen muss, ist die Tatsache, dass dieser Zusammenhang in Deutschland besonders straff ist, und da müssen wir dann nach national verursachten, nach in Deutschland verursachten Gründen suchen. Und ein Grund – und das ist die Debatte seit vielen, vielen Jahrzehnten -, ein Grund liegt sicher auch in der strukturellen Gliederung unseres Schulsystems. Dadurch, dass wir nach der vierten Klasse Kinder aufteilen auf Grund der Leistung, die sie bis dahin erbracht haben, auf verschiedene Schulformen, verschärfen wir soziale Unterschiede. Wir haben in den letzten Jahren durch die große Grundschulstudie IGLU durch diese Studie noch mal gezeigt gekriegt, dass bei dem Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Schulen Kinder mit gleicher Leistungsfähigkeit, aber unterschiedlicher sozialer Herkunft deutlich unterschiedliche Empfehlungen kriegen. Ein Kind, das einen Akademikervater hat, eine Akademikermutter, also aus einem akademischen Elternhaus kommt, hat im Vergleich zu einem Kind aus einer Arbeiterfamilie bei gleicher Leistungsfähigkeit in Klasse 4, eine 2,7-mal so hohe Chance, eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Das ist ein Skandal. Hätten wir diesen Übergang aus der Grundschule in die weiterführende Schule nicht an diesem frühen Zeitpunkt, könnten solche Empfehlungen nicht wirksam werden, könnten Kinder gemeinsam mit den anderen länger lernen sich dann selbst freischwimmen, sage ich mal.

Hettinger: Sie sprechen von den Empfehlungen, also den Weichenstellungen, den Prognosen. Nun gibt es aber doch auch Schülerinnen und Schüler, die sind objektiv, auch wirklich nach den Noten ganz deutlich schlechter als ihre Klassenkameraden. Da muss man doch auch irgendwas tun, um hier diese Kluft noch ein bisschen zu überbrücken.

Klemm: Keine Frage. Wir haben in den Schulen ein großes Spektrum, auch am Ende der Grundschule ein großes Spektrum von Leistungsfähigkeit, und wir haben auch da schon einen Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und der Leistungsfähigkeit. Es ist keine Frage, dass Kinder aus bildungsferneren Schichten sich schwerer tun, schulisch sich so zu entwickeln wie die Kinder aus den bildungsnahen Elternhäusern, das ist keine Frage. Da tut die Schule auch schon zu wenig, das ist aber wohl international ähnlich. Bei uns wird das eben, das zu wenig Tun, dann noch mal verschärft durch die Struktur. Aber wir können früher mehr tun. Wenn wir uns die beiden Gruppen einmal anschauen, die Kinder aus sozial schwachen Familien und die Kinder mit Migrationshintergrund, dann fängt das alles schon lange vor der Schule an. Wir haben anders als andere Länder ein nicht so sehr aufgebautes Vorschulwesen. Wir haben viel zu spät Sprachförderung vor der Schule für die Kinder mit Migrationshintergrund. Die kommen häufig noch in die Schule und können dem Unterricht im Deutschen sprachlich nicht folgen. Also schon im Vorschulbereich wird vieles versäumt, und dann geht es in der Schule weiter, wieder mit einer besonderen deutschen Besonderheit, unsere Kinder sind nur halbtags in der Schule, das heißt, sie haben nachmittags nicht die Möglichkeit, durch geschultes Personal gefördert zu werden. Das ist für meine Kinder weniger schädlich, weil das dann zu Hause passiert, aber für Kinder, denen zu Hause diese Hilfen nicht geboten werden können, ist das ein Manko, das sie unterscheidet von den Kindern anderer Länder.

Hettinger: Da sprechen Sie ja genau ein Dilemma an. Was muss denn überhaupt noch in der Familie geleistet werden? Denn wenn man mit Lehrern spricht, dann hört man schon den zentralen Kritikpunkt, dass auch zu Hause in den Familien etwas getan werden muss. Der Effekt ist, der schwarze Peter wird immer weiter hin und hergeschoben. Wie kann man das verhindern?

Klemm: Die Lehrer, die sagen, in den Elternhäusern geschähe zu wenig an Förderung für die Kinder, haben wahrscheinlich Recht. Aber was hilft uns das denn, was hilft es mir denn, wenn ich zu einer Familie gehe, die hier in Essen im sozialen Brennpunkt lebt – wir haben Stadtteile, wo 50 Prozent aller Kinder aus Familien kommen, die von Sozialhilfe leben -, wenn ich in eine solche Familie gehe und denen sage, ihr müsst euer Kind mehr fördern, ja, was hilft das denn dann? Das kann man sagen … und dann kann die Gesellschaft sagen, okay, die Familien sind selbst schuld, haben wir kein Problem mit, oder die Gesellschaft muss sagen, es ist unsere Pflicht, das auszugleichen.

Hettinger: Man hat oft das Gefühl, dass in Deutschland immer ganz gerne ins Ausland geschielt wird, um da nach den passenden Rezepten zu suchen, und dann nach einer gewissen Zeit herrscht ein gewisses Achselzucken, na ja, den Stein der Weisen haben wir wohl denn doch nicht gefunden. Was kann man denn wirklich aus anderen Ländern übernehmen, was ist den speziellen Verhältnissen vor Ort geschuldet?

Klemm: Also ich denke, der Blick ins Ausland sollte nicht dazu dienen, da jetzt nach konkreten Modellen zu suchen, die wir dann hier eins zu eins übersetzen müssen, um auf besser Zustände dann setzten zu können. Was für mich der Blick ins Ausland zeigt, ist, es gibt offensichtlich Arrangements in anderen Ländern, in denen der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, zwischen nationaler Herkunft und Bildungserfolg nicht so stark ist wie bei uns. Wenn es das also gibt, macht mir das Mut, danach zu suchen, wie ich das verbessern kann. Da muss dann jedes Land seine eigenen Wege suchen, da kann man sich anregen lassen, aber da kann man nicht irgendein Modell aus irgendeinem Land einfach hierhin übertragen.