Bildungshistoriker: Schreibschrift ist kulturelle Basiskompetenz

Heinz-Elmar Tenorth im Gespräch mit Ulrike Timm · 08.08.2011
Bei der diskutierten Abschaffung der Schreibschrift müssten Veränderungen gut durchdacht und deren Auswirkungen erforscht werden, mahnt der Professor für Historische Erziehungswissenschaft Heinz-Elmar Tenorth. Er warnt vor Experimenten in der Grundschule.
Ulrike Timm: Bei Schulthemen fühlt sich ganz schnell jeder als Fachmann, schließlich waren wir alle mal da, in der Schule, und haben Lesen und Schreiben gelernt – oder auch nicht. Laut PISA kommen nach vier Jahren Grundschule viele ohne wirklich fundierte Kenntnisse im Lesen und Schreiben heraus. Hamburg will es seinen Schülern nun erleichtern, indem die Schreibschrift nicht mehr verpflichtend gelehrt wird. An ihre Stelle soll eine Grundschrift treten – in Druckbuchstaben. Die einen fürchten jetzt den Untergang des Abendlandes, wenn nicht mehr fließend geschrieben wird. Die Druckschriftanhänger verweisen auf Bücher, E-Mails, die Arbeit am Computer, und fragen: Wo sehen Kinder denn heute noch Schreibschrift? Die fließende, flinke Schreibbewegung geht dabei aber wohl über Bord, wenn man sich auf die Druckschrift allein bezieht, was die ja eigentlich eher nonkonformistische "Berliner Taz" zu diesem Kommentar bewog, man würde den Schülern mit Holzpantinen statt mit Turnschuhen ein Rennen zumuten und ihnen sagen, auf Holzpantinen kämen sie doch schneller zum Ziel. Belege für die Wahrheit ihrer Theorien hat pikanterweise keine der beiden Richtungen. Stattdessen gibt es einfach Streit. Zu Gast im Studio des "Radiofeuilletons" ist der Bildungshistoriker und Erziehungswissenschaftler Elmar Tenorth, und wir wollen darüber sprechen, ob die Grundschule zunehmend ein Experimentierfeld für unbewiesene Thesen ist. Schönen guten Tag, Herr Tenorth!

Elmar Tenorth: Schönen guten Tag!

Timm: Was denken Sie denn erst einmal über Schreibschrift und Druckschrift?

Tenorth: Ich habe auch keine Forschungsergebnisse, aber ich würde meinen, dass die Verfügbarkeit über eine flüssige, gute, schnelle Schreibschrift unentbehrlich ist, eine kulturelle Basiskompetenz, auf die man einfach nicht verzichten kann. Und man muss auch sehen, dass das Argument, man läse ja nur Druckschrift, verkennt, dass Lesen und Schreiben zwei für sich selbstständige basale kulturelle Kompetenzen sind, die sich nicht gegeneinander aufrechnen lassen. Nicht jeder, der lesen kann, kann schreiben, aber jeder soll lesen und schreiben können, und zwar flüssig, selbstständig und richtig – wäre meine Position.

Timm: Da höre ich ein gewisses Plädoyer für die Schreibschrift heraus, weil ...

Tenorth: ... notwendig.

Timm: ... vielleicht auch eine fließende, eine feine Bewegung konzentrationsfördernd von der Hand in den Kopf geht?

Tenorth: Ganz wichtig! Alle motorischen Fähigkeiten, die man in der Schule erwirbt, sind unmittelbar verbunden mit kognitiven Prozessen, also mit dem, was ich erkenne, kenne, beherrsche, und von daher würde ich das für sehr wichtig halten, dass aus der Motorik heraus Kognition – Verstehen und Erkenntnis – entsteht, und kann mir gar nicht vorstellen, wie jemand auf die Idee kommen kann, auf einmal die Schreibschrift aufgeben zu wollen! Es gibt auch kein Argument, das das bestätigt.

Timm: Ein fundiertes wissenschaftliches Für und Wider gibt es nicht – für Anhänger beider Schulen eigentlich. Heißt das, da wird ein neuer Trend einfach mal ausprobiert?

Tenorth: Ja, der Trend ist mit dem Argument nicht ganz neu, und das Argument, das viele Grundschulpädagogen bei manchen Reformen immer wieder benutzt haben, war: Wir erleichtern dem Kind irgendetwas. Das dramatischste Beispiel, das Sie vielleicht nicht mehr kennen, aber an das ich mich erinnere, war: Wir erleichtern den Kindern das Lernen von Mathematik, indem wir mengentheoretisch beginnen. Dann haben kleine Kinder auf einmal den schönen paradoxen Begriff der leeren Menge lernen müssen, und ihre Eltern haben gar nicht mehr verstanden, dass das Rechnen in der Schule nicht mehr vorkam. Da wurde es nicht erleichtert, obwohl es die Grundschulpädagogen meinten, so leicht aussieht, dass man die Menge als Grundbegriff der Mathematik lernt. Man hat einfach das verschwierigt, was das alltägliche Leben war, und das ist leider häufig so gewesen.

Timm: Das heißt, das war dann sozusagen eine Probephase am lebenden Subjekt, denn von der Mengenlehre hat man sich ja auch schnell wieder getrennt!

Tenorth: Man musste sich von ihr trennen. Und diese Probephase am lebenden Objekt hat es dann tatsächlich gegeben. Und das ist nicht das einzige Beispiel.

Timm: Wer cancelt eigentlich so was, wenn man merkt: Na ja, wir haben es mit Trial and Error probiert und waren nicht erfolgreich?

Tenorth: Verantwortlich dafür ist die Bildungspolitik, die Schulaufsicht, letztlich das Parlament, weil wir inzwischen für solche Experimente eine im Grunde gesetzliche Grundlage brauchten. Und wenn es nicht so ganz dramatisch ist, darf man das auf dem Wege der Verordnung machen, und der Gesetzgeber, der die Verordnung macht zur Erlaubnis, muss dann auch eine neue Verordnung machen, um den Unfug zu beenden.

Timm: Die Schulpolitik macht das in den Bundesländern jetzt unterschiedlich: Nordrhein-Westfalen zum Beispiel hat dieses Druckschrift-Erlernen im Anfang schon längere Zeit, in den anderen Bundesländern ist die Schreibschrift immer noch verpflichtend. Macht ja auch nichts, wenn alle was anderes lernen. Das liegt in unserem föderalen System, meinte in unserer Sendung Hamburgs Schulsenator Ties Rabe und sagte dies:

Ties Rabe: Ein Durcheinander in dem Sinne gibt es insgesamt in Deutschland, und zwar, weil viele Bundesländer diese Frage völlig ungelöst lassen. Da machen das die Lehrer mehr oder weniger so, wie sie es vielleicht in den Schulbüchern oder wie sie es aufgrund ihrer eigenen pädagogischen Erfahrung für das Beste halten.

Timm: Soweit der Hamburger Schulsenator Ties Rabe vor wenigen Tagen im "Radiofeuilleton". Herr Tenorth, ersetzt denn das föderale System sozusagen das Nachdenken über Reformen?

Tenorth: Ja, das finde ich schon eine sehr kuriose Begründung, die der Schulsenator benutzt, die pure Vielfalt als Begründung dafür zu nehmen, dass er etwas macht, was nach meinem Eindruck unsinnig ist. Das föderale System ist jetzt natürlich weder Begründungen noch in irgendeiner Weise konkrete Maßnahmen, sondern das föderale System ist zunächst nur ein wettbewerbsorientiertes System, dass jeder nach den besten Lösungen suchen kann, aber es ersetzt nicht die Begründungspflicht, und es begründet für sich selber überhaupt nichts. Das ist ein kurioses Argument!

Timm: Ist denn das eigentlich so üblich? Sie haben vorhin das Beispiel der Mengenlehre geschildert. Theoretiker denken sich was aus, schmieden sich ein in sich sie überzeugendes System, und Schulpolitiker sagen: Ja, machen wir mal – einfach so?

Tenorth: Auf lange Sicht – das ist ja der Vorzug der Bildungshistoriker, die die Geschichte seit 200 Jahren kennen, seit wir solche öffentlichen Pflichtschulen haben – auf lange Sicht muss man sagen, sind ganz viele Reformen so in das Schulsystem hineingekommen, dass eine kleine Gruppe von seltener Theoretikern, häufiger Politikern, häufiger auch Praktikern – in Hamburg ist ja jetzt der Grundschulverband sehr aktiv, das ist eine Gruppe von Lehrern –, dass die eine Innovation versuchen, in das Bildungssystem hineintragen, dafür Unterstützung finden, das dann machen könnten, und im Grunde weder ausreichende Daten vorher vorliegen, dass das sinnvoll ist und wirklich etwas verbessert, ohne negative Folgen zu erzeugen. Die zweite Frage wird viel zu selten gestellt, und noch seltener wird dann die Frage gestellt, ob tatsächlich das erreicht worden ist, was man gemacht hat. Es gibt ein anderes Beispiel, gerade im Bereich der Grundschule, das ist die Frage der Leselern-Methode, also der Methode des Schreib-, Leseunterrichts, des ersten Schreib-, Leseunterrichts. Da gibt es Ganz-Wort, Ganz-Satz, Buchstaben - Dutzende von Methoden, die jeweils ihre ganz entschiedenen Befürworter haben, die auch jeweils irgendwo ausprobiert werden, für die es dann jeweils eigene Schulbücher gibt und eigene Lehrmaterialien, und bisher hat niemand plausibel und präzise zeigen können, dass sich die Versprechen, die er mit der jeweiligen Methode verbindet, wirklich so einlösen, wie sie da vorgetragen werden. Und das kennzeichnet leider in Vielem manche der Reformen, die wir kennen, und mit denen wir – übrigens nicht nur in der Grundschule – zu tun haben.

Timm: Im Studio des "Radiofeuilletons" zu Gast ist der Bildungshistoriker Elmar Tenorth, und wenn ich Ihnen jetzt zuhöre, ist es aber letztlich auch eine Bankrotterklärung der Experten, wenn Sie sagen: Na ja, die entwerfen ein System, und dieses System wird dann auf Kinder losgelassen. Das heißt natürlich auch, dass die Theoretiker an den Universitäten – zu denen Sie ja auch gehörten – etwas sich ausdenken, die Praktiker sagen: Ja, ja – und die Schule geht dann baden! Nicht so tolle Aussichten!

Tenorth: Zum Glück bin ich kein Grundschulpädagoge, sodass ich unmittelbar betroffen wäre. Nein, tatsächlich muss man sagen, dass erst relativ spät die Bildungsforschung in dem Sinne empirische Forschung geworden ist, dass sie danach gefragt und dann auch methodisch kontrolliert untersucht hat, welche Effekte man eigentlich in Schulen anrichtet. Die Schule hat sich vorher sozusagen als Selbstbeobachtungssystem darauf verlassen, dass die Lehrer ja Zeugnisse geben, und dass man an denen sieht, was ist, dass es das Abitur gibt, und dass man an denen sieht, ob die Studenten studierfähig sind – aber eine sogenannte Evaluation, also eine nachgehende Messung und eine Kontrolle der Effekte ist an sich für die empirische Bildungsforschung relativ neuen Datums – wenn man das für Deutschland nimmt, vielleicht 20, 30, vielleicht 40 Jahre alt, wenn ich gutmütig rechne –, in den USA in der Zwischenkriegszeit schon entwickelt worden, des 20. Jahrhunderts, zum Teil auch in England. Aber in dem Umfang, wie wir das jetzt heute alltäglich kennen, an PISA-Daten zum Beispiel exemplarisch sehen und an vielen anderen Studien, die es gegenwärtig gibt, ist das ein Phänomen neueren Datums, und erst auch in neuerer Zeit legen die Bildungspolitiker Wert darauf oder sollten sie Wert darauf legen, nur solche Maßnahmen in Gang zu setzen, von denen sie wissen, wie sie begründet sind, und die sie im Prozess beobachten lassen, und bei denen sie auch die Effekte und die Wirkung messen und dann nach Möglichkeit wieder etwas beenden oder umsteuern oder besser machen. Das ist tatsächlich neueren Datums.

Timm: Reden wir mal über die Art des Umsteuerns: In Berlin hat man eine Zeitlang die Einschulung von Fünfjährigen sehr lebhaft propagiert, auf die von Ihnen beschriebene Weise ausprobiert und dann sehr schnell wieder abgeschafft. Nun frage ich mich: Wenn schon die Reform, die Einführung einer Reform ein bisschen auf Trial and Error basiert, wer prüft dann die Wirksamkeit? Und auf welcher Basis wird dann gecancelt? Fragt man da nur die Lehrer? Fragt man die Wissenschaftler? Wen fragt man da?

Tenorth: Bei JÜL und bei dem jahrgangsübergreifenden Unterricht in der Grundschule und bei der frühen Einschulung hat man ja auf die Lehrer gehört, auf die Eltern und auf die Experten und die Opfer, die es unmittelbar vor Ort erlitten haben. Da hat es keine standardisierte Erprobungsuntersuchung gegeben. Bei anderen Maßnahmen, zum Beispiel bei der Frage vierjährige oder sechsjährige Grundschule, da sind ausführliche Untersuchungen gemacht worden. Leider eine Mischlage, und mehr Politik als Wissenschaft ist da im Spiel, muss man ganz nüchtern sagen.

Timm: Mehr Politik als Wissenschaft, stellte der Bildungshistoriker Elmar Tenorth fest, im Bezug auf die Schulpolitik. Der Streit ums Schreibenlernen in Hamburg war unser Ausgangspunkt, und wir sprachen über die Grundschulen als Reformgebiete. Ich danke Ihnen, Herr Tenorth, für den Besuch im Studio!

Tenorth: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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