Bildungsbericht 2016

Schüler für die Zukunft fit machen

Schülerinnen sitzen an einem Computer-Arbeitsplatz in der Grundschule auf dem Süsteresch in Schüttorf / Niedersachen. Die Schule ist Hauptpreisträger beim Deutschen Schulpreis 2016.
Schülern sollte Selbstorganisation und selbstbestimmtes Lernen an ihrer Schule vermittelt werden, fordert Schulleiterin Margret Rasfeld. © picture alliance / dpa / Friso Gentsch
Margret Rasfeld im Gespräch mit Nana Brink · 16.06.2016
Teamfähigkeit und Eigeninitiative sind für Margret Rasfeld wichtige Kompetenzen, die Schülern vermittelt werden sollen. Die Mit-Initiatorin von "Schule im Aufbruch" kritisiert anlässlich der Veröffentlichung des Bildungsberichtes 2016 das gängige Schulsystem.
Heute wird der neue Bildungsbericht vorgestellt. Es ist zu erwarten, dass das deutsche Schulsystem keine Bestnoten bekommt. "Schule muss gründlich neu gedacht werden", sagt Margret Rasfeld, die Leiterin der Evangelischen Gemeinschaftsschule in Berlin-Mitte und Mit-Initiatorin des Reformprojekts "Schule im Aufbruch".
Rasfeld stellt klare Forderungen an das, was Schule heute vermitteln sollte: Schüler sollten dazu animiert werden, "Zukunftsgestalter" zu werden und sich in einer globalisierten, vernetzten, aber auch krisengeschüttelten Welt zurechtzufinden. Dazu gehörten "Metakompetenzen" wie Teamfähigkeit, Eigeninitiative und der Umgang mit Heterogenität.
Rasfeld betont: "Und in der Schule sitzen sie und füllen Arbeitsblätter aus, deren Lösung im Lehrerhandbuch steht ... Schüler verlieren die Lust am Lernen, gehen nicht mehr gerne in die Schule. Wobei Lernen ja etwas Tolles ist, und die Kinder kommen ja anfangs alle in die Schule und wollen etwas lernen."

Warum verlieren Schüler die Lust am Lernen?

Die Aufgabe der Schule sei es, "gelingende Lernerfahrungen" zu vermitteln. Bildungsexperten würden zu selten die Frage danach stellen, warum Schüler die Lust am Lernen verlören. Genau hier setze "Schule im Aufbruch" an. Was die Schüler an ihrer Reformschule lernten, sei Selbstorganisation und der Blick über den Tellerrand der Schule durch wöchentliche Projekttage.
Rasfeld hält dieses Modell für besonders geeignet, um auch Schüler in Brennpunkt-Bezirken zu fördern. Dabei könnten unter anderem auch ältere Schüler als sogenannte Schüler-Coaches zum Einsatz kommen. Damit auch künftige Lehrer ein Gespür speziell für die Bedürfnisse solcher Schüler entwickelten, müsse auch die Lehrerausbildung neu gedacht werden:
"Warum ist es nicht Pflicht, dass Lehramtsstudenten ein Jahr in solchen Schulen mitarbeiten?"

Das Interview im Wortlaut:

Nana Brink: Wenn heute um zehn Uhr der Bundesbildungsbericht vorgestellt wird – der kommt ja alle zwei Jahre neu raus –, gibt es mit Sicherheit wieder jede Menge Einzelkritik am bestehenden Schulsystem. Zu wenig Lehrer, zu wenig durchlässig, zu viele Unterschiede zwischen den Ländern, zu starrer Lehrstoff. Und der Dauerbrenner: Junge Menschen aus sozial schwachen Familien und insbesondere mit Migrationshintergrund haben einfach schlechte Chancen. Das ist ja die Achillesferse des deutschen Bildungssystems. Die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge hat das Problem mit Sicherheit nicht verkleinert. Wir wollen schon mal vorab wissen, welche Reformen denn in deutschen Schulen wir tatsächlich brauchen könnten. Margret Rasfeld ist seit 37 Jahren im Schuldienst und leitet die Reformschule Evangelische Schule Berlin. Ich grüße Sie, schönen guten Morgen!
Margret Rasfeld: Guten Morgen!
Brink: Was stört Sie denn am bestehenden System besonders?
Rasfeld: Mich stört besonders, dass wir nicht die richtigen Fragen stellen, also dass wir im bestehenden System daran herumdoktern, da kleine Veränderungen und Verbesserungen uns wünschen und nicht grundsätzlich Schule neu denken. Wir stehen ja heute vor Riesenherausforderungen, die – in der Welt. Schüler müssen lernen zu handeln, sich zu engagieren, starke Persönlichkeiten werden, Zukunftsgestalt haben, mit Lust am Gestalten. Und in der Schule sitzen sie und füllen Arbeitsblätter aus, deren Lösung im Lehrerhandbuch steht, die sich irgendjemand ausgedacht hat. Schüler verlieren die Lust am Lernen, gehen nicht mehr gern in die Schule.

Kinder lernen gerne

Wobei Lernen so etwas Tolles ist, und sie kommen ja anfangs alle und wollen lernen. Das stört mich. Dass wir nicht an diese Fragen gehen: Wie kommt das, dass die Kinder die Lust am Lernen verlieren? Wie lernt man mit Komplexität umzugehen, wie lernt man, mit Heterogenität umzugehen, wie lernt man, teamfähig zu sein, eigeninitiativ und veränderungsbereit. Nicht in einem System, das sich nicht grundlegend verändert.
Brink: Aber Entschuldigung – ist das vor 30 Jahren nicht schon genauso gewesen? Ich kann mich auch daran erinnern. Ich bin auch nicht gern in die Schule gegangen, und meine Eltern wollten trotzdem, dass ich eine komplexe Persönlichkeit werde.
Rasfeld: Ja, das ist schon die ganze Zeit so.
Brink: Also Sie sagen, das Schulsystem –
Rasfeld: Aber wir können uns es jetzt heute nicht mehr – also die Welt steht ja gerade in einer totalen Krise. Wir haben Riesenzukunftsherausforderungen. Die haben wir noch nicht so gesehen. Die Welt ist globalisiert, vernetzt, wir brauchen viel mehr als das ABC des Wissens, viel mehr. Viel mehr Metakompetenzen. Und vor 30 Jahren war es, glaube ich, noch ein bisschen anders. Man braucht immer schon starke Persönlichkeiten, und es ist toll, wenn Kinder die Lust am Lernen nicht verlieren.
Aber früher war der Lehrer tatsächlich noch mehr der Wissensvermittler oder die Lehrerin. Heute können wir uns Wissen aus so vielen Quellen besorgen, was ja Jugendliche und Kinder auch machen. Und heute kommt es sehr viel stärker darauf an, mit Komplexität umzugehen, veränderungsbereit zu sein. Wir leben ja in einer wahnsinnigen Veränderungsdynamik. Die hatten wir vor 30 Jahren noch nicht so. Die Digitalisierung wird das komplette Leben verändern, und da muss man einfach Verantwortung für sich selber übernehmen, Eigeninitiative lernen und nicht Arbeitsplätze ausfüllen und irgendwelche Pläne erfüllen.
Brink: Können wir das konkreter machen? Sie sind ja Mit-Initiatorin von "Schule im Aufbruch". Das ist eine Projektschule, die Sie ja selber leiten. Was machen Sie denn anders?
Rasfeld: Was wir anders machen? Bei uns lernen die Jugendlichen im –
Brink: Hallo, Frau Rasfeld?
Rasfeld: Ja, ich bin noch da.
Brink: Ach so, die Leitung war etwas schlecht.
Rasfeld: Ja. Wir setzen auf vier wichtige Ziele. Wie lerne ich mich selbst zu organisieren, wie lerne ich Selbstorganisation? Indem ich nach und nach herangeführt werde, mir selbstständig Wissen zu erwerben. Dafür gibt es Lernmaterial, dafür gibt es bestimmte Lernformate. Die Jugendlichen kommen morgens und können sich erst mal entscheiden, will ich heute Deutsch, Mathe oder Englisch lernen. Das erhöht sehr stark die Motivation, als wenn du jetzt schon weißt, ach, jetzt habe ich dieses Fach bei diesem Lehrer. Wir lernen mit Material, das auf verschiedenen Niveaus ist. Sie können sich selbst zum Test anmelden, die Angst ist aus dem System genommen, wir benoten erst ab Klasse neun. Vorher kriegen sie individuelles Feedback – was hast du gut gemacht, wie kannst du dich noch verbessern? Wir haben die Schule so organisiert, dass ein Lehrer nicht am Tag hundert Schüler hat, sondern konzentriert in Teams eingesetzt ist und nur mit drei Klassen es zu tun hat, die Schüler gut kennenlernen kann.

Coachings und Einzelgespräche

Jeder Schüler wird gecoacht, die Lehrer haben wöchentliche Einzelgespräche mit Schülern, dafür haben sie auch Zeit, denn Selbstorganisation und Lernen in Freiheit braucht eine sehr gute Begleitung. Das ist das Erste. Das Zweite ist, wir haben einen wöchentlichen Projekttag. Die Jugendlichen gehen in Projekten eigenen Fragen nach, können die Schule auch verlassen, können ihre Interessen verfolgen. Die Lust an Kreativität und eigene Fragen zu stellen, geht ja oft verloren in Schule. Und das Wichtigste ist, wir haben Fächer, die nur im Leben spielen. Die heißen Verantwortung und Herausforderung. Alle übernehmen eine Verantwortung im Gemeinwesen, und wir schicken sie dreimal auf eine Herausforderung.
Brink: Das klingt alles sehr interessant, bestimmt auch interessant für die Kinder, setzt aber voraus, dass sie natürlich auch das geeignete Personal und genug Geld haben. Und die Kritik an Ihrem Konzept, auch die Kritik an diesen vielen Privatschulen ist ja, dass die Eltern mitmachen, dass genug Geld vorhanden ist, aber das ist ja nicht die Realität, und das ist vor allen Dingen nichts für Kinder aus Hartz-IV-Familien oder Flüchtlingskinder.
Rasfeld: Jetzt bin ich erstaunt. Das Konzept kostet keinen Pfennig mehr Geld. Im Gegenteil. Die Veränderung liegt in Haltung und Mut. Wir haben keine einzige Stunde mehr. Und wenn wir Hartz-IV-Eltern – das ist ja schon auch ein Begriff, den ich gar nicht benutzen möchte –, wenn Sie Hartz-IV-Eltern unterstellen, sie würden sich nicht in Schule engagieren können, dann gehen Sie doch mal in die kleine Kielstraße im tiefsten Norden von Dortmund. Da sind jeden Tag 200 Eltern in der Schule. Die helfen mit im Unterricht, die kriegen da Kurse. Die sind total engagiert.
Brink: Das ist richtig, aber entspricht nicht der Realität in vielen Bereichen, in Berlin zum Beispiel. Das ist ja nicht abwertend gemeint. Das ist einfach keine Chancengleichheit, und die Frage ist ja, wie kann man Chancengleichheit dann auch in solchen Schulen gewährleisten.
Rasfeld: Schulen im sozialen Brennpunkt, nenne ich die jetzt mal, brauchen erst mal mehr Unterstützung als andere. Da liegt schon eine Crux, dass die oft nicht mehr Unterstützung kriegen. Dann denken wir ja sehr häufig im Alten. Sie brauchen mehr Lehrer. Warum schicken wir eigentlich nicht Schülerinnen und Schüler als Helfer da rein? Ich habe ein Konzept entwickelt, das heißt "Bildungsbande", das heißt Bildungsbande, das hat sich auch schon ein bisschen verbreitet in Deutschland. Da gehen Schüler aus siebter, achter Klasse in Schulen im sozialen Brennpunkt, in die ersten Klassen und helfen beim Unterricht.
Und die Kinder haben plötzlich einen Coach an der Seite. Da kommt jemand, der glaubt an mich – die Kinder dürfen den Glauben an sich nicht verlieren. Aufgabe von Schule ist es, erst mal gelingende Lernerfahrung zu ermöglichen. Und der Stoff ist erst mal zweitrangig. Wenn ein Kind nicht mehr an sich glaubt und macht früh eine Erfahrung, ich komme nicht mit, oder die Lehrer sind überfordert mit großen Klassen, dann müssen wir uns andere Dinge ausdenken. Warum ist es nicht Pflicht, dass Lehramtsstudenten ein Jahr in solchen Schulen mitarbeiten? Wir müssen da völlig neu mal denken, und ich kann Ihnen sagen, die Lehrer in den Schulen, wo wir tätig sind – wir haben vier Schulen und haben immer so 40, 50 Kinder, die da mithelfen, die sagen, könnt ihr nicht jeden Tag kommen? Die Kinder kommen angerannt, lernst du heute mit mir. Wir müssen zu völlig neuen Möglichkeiten kommen.
Brink: Frau Rasfeld. Die Schulleiterin Margret Rasfeld. Wir nehmen diese Anregungen mit und setzen die Diskussion natürlich fort. Heute wird ja der Bundesbildungsbericht veröffentlicht, und da gibt es genügend Anlass, weiter zu diskutieren. Danke erst mal …
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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