Bildung

Pisa-Schock in Finnland

Unterricht in einer finnischen Schule
Finnland ist im Pisa-Test-Vergleich nicht mehr an erster Stelle © dpa / picture alliance / Kuvatoimisto Rodeo / Tero Sivula
Von Michael Frantzen · 29.09.2014
Jahrelang belegte Finnland bei Bildungsvergleichen den ersten Platz. Doch im vergangenen Jahr stürzte das Land regelrecht ab: Platz 12! Eine Folge der drastischen Kürzungen im Bildungsbereich - aber nicht nur.
Gutes Benehmen: An der "Pähkinänrinteen"-Grundschule von Vantaa, der Nachbarstadt Helsinkis, legen sie wert darauf. Klassenlehrer Kai-Ari Lundell nickt energisch. Dass seine Schüler aus der fünften Jahrgangsstufe aufstehen, wenn er das Klassenzimmer betritt: Das, findet der schlaksige Zwei-Meter-Mann, dem man seine Anfang 60 nicht ansieht, gehört sich so. Es ist Freitagvormittag, kurz nach elf.
Draußen taucht die Herbstsonne die Fassade der Schule, eines unscheinbaren 80er-Jahre-Bungalows in mildes Licht. Drinnen kramen Lundells 20 Schützlinge ihre Schulbücher aus den Rücksäcken: Finnisch steht auf dem Programm. Die meisten sind elf oder zwölf Jahre alt und sehen mit ihren blonden Haaren und blauen Augen wie Bilderbuch-Finnen aus. Doch in der zweiten Reihe sitzen auch zwei verschleierte muslimische Mädchen. Sie sprechen längst genauso gut Finnisch wie die anderen, meint ihr Klassenlehrer. Lundell blättert in seinen Notizen, ehe er gemächlich durch die Reihen schreitet. Von Frontalunterricht hält er nichts.
"Lehrer genießen in Finnland viel Vertrauen. Wir können unseren Unterricht frei gestalten - solange wir uns an den Lehrplan halten. Alles andere bleibt uns überlassen. Es kommt niemand in meine Klasse, um mir vorzuschrieben wie ich zu unterrichten habe. So jemanden würde ich hochkant rausschmeißen. MIR macht niemand Vorschriften. Wir Lehrer sind unabhängig."
Endlich Mittagspause: Lundells Schützlinge strömen Richtung Mensa, einen hellen Raum, wo sie Spaghetti Bolognese und die in Finnland obligatorische Scheibe Roggenbrot erwarten. Normalerweise setzt sich ihr Klassenlehrer zu ihnen. Heute aber will Lundell erst einmal im Lehrerzimmer schauen, ob jemand auf den neusten Eintrag seines Blogs reagiert hat. Schnellen Schrittes steuert er das Computerterminal in der Ecke an.
Ein Blog zu Schul- und Bildungsfragen: Als Kai-Ari Lundell damit vor fünf Jahren anfing, war er der einzige. Das ist inzwischen anders, allerdings kommt kaum keiner an seine Qualität heran, fanden die Kollegen landesweit und kürten ihn zum Lehrer des Jahres 2013. "Enkelii", sein virtuelles Alter Ego, dürfte es freuen.
"Enkelii ist ein Schweine-Engel. Er hat Flügel. Er fliegt und fliegt gen Himmel und wenn Sie genau hinschauen: Sehen Sie: Sein Lachen: Genau wie meines."
Überall regiert der Rotstift
Bei allem Sinn für skurrilen finnischen Humor: Lundell ist es mit seinem Blog ernst. Sehr sogar. Mit sorgenvoller Mine scrollt er den Bildschirm herunter. Die Gemeinde Vantaa hat ihm und den anderen Lehrern das Gehalt um zehn Prozent gekürzt: Alles andere als berauschend, konstatiert Lundell und klickt auf den entsprechenden Blog-Eintrag. Oder hier, meint er kopfschüttelnd: Warum investiere ein Land wie Südkorea sieben Prozent seines Bruttosozialprodukts in Bildung, Finnland aber nur noch knapp vier.
"Wir machen harte Zeiten durch. Überall wird gespart, um die Kosten zu senken, auch bei uns ins Vantaa. Die Kommune hat viel weniger Geld als vor fünf Jahren, hauptsächlich wegen der Wirtschaftskrise. Deshalb spart sie. Unsere Schule bekommt das längst zu spüren. Beim Mathe-Unterricht beispielsweise: Früher hatten wir zwei Mathe-Klassen mit jeweils zehn Schülern. Jetzt sind alle in einer Klasse. In so einer großen Gruppe kannst du dich natürlich weniger um jeden einzelnen kümmern. Da darf man sich auch nicht wundern, dass die finnischen Schüler beim Pisa-Test in Mathe nicht mehr so gut abgeschnitten haben. Die Politiker aber scheint das nicht zu kümmern. In ihren Sonntagsreden tönen sie zwar immer: Bildung ist das A und O, aber kaum haben sie uns den Rücken gekehrt, setzen sie den Rotstift an. Das ist wirklich nicht gut."
Abgehängt von Shanghai und Singapur
So ändern sich die Zeiten: Bis Mitte der 2000er landete Finnland beim internationalen Bildungsvergleich regelmäßig auf Platz eins. Als Ende letzten Jahres das Ergebnis des letzten Pisa-Tests präsentiert wurde, trauten viele Finnen ihren Augen nicht: Nur noch Platz 12 - abgeschlagen hinter den Spitzenreitern Shanghai, Singapur und Hong-Kong. Kai-Ari Lundell verzieht das Gesicht: Die Asiaten! Ihr auf Leistung getrimmtes Modell ist ihm nicht ganz geheuer.
"Wir Finnen messen uns mit niemanden. Wir vertrauen unserem Schulsystem. Es funktioniert, wir dürfen es nur nicht mit dem Sparen übertreiben. In Europa sind wir immer noch Nummere eins bei der Lesekompetenz und den Naturwissenschaften. Wir sollten uns nicht mit China vergleichen. Was haben die denn für ein Bildungssystem? Sie haben riesige Klassen. Und soweit ich weiß, müssen die Schüler dort den Mund halten. Bei uns in Finnland steht der individuelle Schüler im Mittelpunkt. Wir sind nur fünf Millionen Einwohner, wir sind auf jeden Einzelnen angewiesen. Ein Riesenland wie China kann es sich leisten, dass nicht alle mitkommen. Wir definitiv nicht."
Nicht jeder im Land der Seen und Wälder reagiert so gelassen auf das schlechtere Abschneiden der finnischen Schüler wie "Finnlands Lehrer des Jahres". Bildungsministerin Krista Kiuru sprach von einem "Weckruf" - und kündigte "weitreichende Reformen" an. Gut möglich, dass dementsprechend bald noch mehr Arbeit auf Jorma Kaupinnen zukommt. Der Mann im perfekt sitzenden grauen Anzug hebt die Hände: Kann schon sein. Der Anfang 50-Jährige ist einer von fünf Direktoren des "Nationalen Finnischen Bildungsrates". Als solcher nennt er ein traumhaft gelegenes Büro an der Bucht von "Siltavuori" in Helsinkis Innenstadt sein eigen. Das Jahr über ziehen draußen die Motor- und Segelboote ihre Runden, im Winter - wenn die Bucht zugefroren ist - die Eisfischer. Doch dafür hat Kaupinnen meist keinen Blick. Seine Abteilung überarbeitet gerade im Auftrag des Bildungsministeriums die Lehrpläne für die Vor- und Grundschulen. Ende des Jahres muss alles unter Dach und Fach sein.
Internet statt Schule
"Wenn Sie mich persönlich fragen: Die letzten Pisa-Ergebnisse haben mich nicht wirklich überrascht. Wir haben selbst landesweit Tests durchgeführt und dabei herausgefunden, dass unser Schulsystem Schwächen aufweist. Die Kürzungen im Bildungsbereich mögen eine Rolle spielen. Und dass sich Finnland verändert hat. Wir haben heute mehr soziale Probleme, auch mehr Einwanderung. In ärmeren Gegenden in Helsinki sind die Testergebnisse der Schüler schlechter als im Durchschnitt. Hinzu kommt: Unsere Schüler gehen heute weniger gerne zur Schule als noch vor zehn Jahren. Eine 16_Jährige: Die bezieht ihre Informationen doch aus dem Internet. 'Wozu brauch ich noch Schule?!', denkt sie sich. Schule ist irgendwie altbacken. Dementsprechend weniger lernt sie, dementsprechend schlechter fallen die Resultate beim Pisa-Test aus."
Um drei Prozent haben finnische Schüler bei den Naturwissenschaften schlechter abgeschnitten als beim letzten Pisa-Test, bei Mathematik waren es 2,8 Prozent, beim Leseverständnis 1,7. Jorma Kaupinnen kennt die Zahlen aus dem Effeff. Der Mann, der selber auch Grundschullehrer war, blättert in einer Hochglanzbroschüre seines Hauses. Er hält die Titelseite hochhält: Der Slogan da - meint er - fasse ganz gut zusammen, was ihr Hauptziel sei: "Lebenslanges Lernen und Kompetenz" zu fördern. Doch in Zeiten wie diesen ist das leichter gesagt als getan.
"Der Staat hat auch uns die Mittel gekürzt. Nicht dramatisch, aber es macht unsere Arbeit nicht gerade leichter. Jedes Jahr wird es weniger, das geht jetzt schon seit 2006 so. Wir haben langsam einen Punkt erreicht, wo es eine Herausforderung ist unseren Bildungsauftrag noch gerecht zu werden. Schauen Sie: Als ich 2001 im Nationalen Bildungsrat anfing waren wir 360 Mitarbeiter. Heute sind wir nur noch 280. Wir müssen alle mehr arbeiten. Das ist nicht gut. Wegen der ganzen Kürzungen haben wir auch weniger Möglichkeiten, die finnischen Bildungsträger mit unserer Expertise zu unterstützen."
Im August 2016 soll der neue Lehrplan für die Vor- und Grundschüler in Kraft treten. Der Sommertermin ist kein Zufall: Im August beginnt in Finnland traditionell das neue Schuljahr. Mögen einige finnische Zeitungen und Oppositionspolitiker auch angesichts des "Pisa-Schocks" dafür plädieren, das Schulsystem auf den Kopf zu stellen: Der Nationale Finnische Bildungsrat bleibt seiner Linie treu, die da lautet: Keine Experimente!
"Wir werden keine Revolution vom Zaun brechen. Es wird eher eine Art Evolution. Wir werden uns bei unseren Reformen hauptsächlich auf zwei Dinge konzentrieren: Die individuelle Förderung und das Internet. Im Rahmen unserer neuen Bildungsvorgaben sollen die Schüler eigenverantwortlicher lernen - alleine und untereinander. Dadurch werden sie hoffentlich auch wieder motivierter. Der Lehrer wird eher die Rolle eines Beraters übernehmen - und idealerweise im Unterricht stärker das Internet und virtuelle Netzwerke nutzen. Das geschieht in unseren Klassenzimmern bislang zu wenig."
Lernen - nicht ohne iPad
Wer sehen will, wohin die Reise in Finnland gehen könnte - die Bildungsreise, ist in Tampere gut aufgehoben, der rund 180 Kilometer nördlich von Helsinki gelegenen Industrie- und Universitätsstadt. Genauer gesagt bei Vesa Toivonen, dem jugendlich wirkenden Direktor der "Ausbildungsschule" der Universität Tampere. Sie ist eine von elf Schulen im Land, an denen nicht nur gestandene Lehrer wie Toivonen die rund 900 Schüler unterrichten, sondern auch Lehramts-Studierende. Was sich die Bildungsexperten in Helsinki ausdenken: Hier wird es dem Praxistest unterzogen.
"Wir experimentieren gerade damit, wie Schüler und Lehrer gleichermaßen im Unterricht noch effektiver elektronische Medien und Mobilgeräte nutzen können. Wir haben jedem Schüler in der Oberstufe ein iPad gegeben - kostenlos. Damit haben wir vor zwei Jahren angefangen. Wir schulen unsere Lehrer ständig, wie sie die iPads im Unterricht pädagogisch noch sinnvoller einbinden können. Wir gehen mit der Zeit. Das ist typisch für Finnland - gerade im Bildungsbereich. Der Staat erwartet das von uns."
Mit der Zeit gehen; flexibel sein; sich auf Neues einlassen: Viele im Ausland wollen wissen, wie das funktioniert. Rektor Vesa Toivonen kann sich beim Gang durch einen der schier endlosen Schulflure ein Lachen nicht verkneifen: Fast im Wochentakt schaut irgendeine Delegation vorbei: Letzte Woche waren es die Rumänen, davor Deutsche, Briten und Chinesen. Bildung "made in Finland" - noch zieht das - trotz des Pisa-Schocks.
Traumjob Lehrer
"Wir müssen nur aufpassen, dass wir uns nicht zu sehr auf unseren Lorbeeren ausruhen. Aber ich bin zuversichtlich, dass wir es packen. Gott sei Dank sind Lehrer in Finnland immer noch hoch angesehen und respektiert. Es ist sehr populär Lehrer zu werden. Wir sehen das auch bei unseren Bewerbungen: Wir bekommen eine Menge und können uns die besten aussuchen. Lehrer haben bei uns fast so viel Prestige wie Ärzte."
Traumjob Lehrer: Nicht jeder am Rande von Tampere kann damit etwas anfangen. Christian Palarte jedenfalls nicht. Der 20-Jährige - ein Typ mit Faible für schwarze Kleidung und Junkfood - hat sich mit einem Freund in die Schulbibliothek zurückgezogen, um Russisch zu lernen. In ein paar Wochen macht Christian Abitur, Russisch ist eines seiner Prüfungsfächer neben Geschichte, Englisch, Schwedisch und Finnisch. Dass er auf einer besonderen Schule ist, an der sich viele als Beispiel nehmen, interessiert ihn nicht weiter.
"Für uns ist das alles selbstverständlich. Ich meine: Es ist halt Schule. Ich war mal ein paar Wochen auf einem Gymnasium in Frankreich - im Rahmen eines Austauschprogramms. Mit meinen französischen Altersgenossen möchte ich allerdings nicht tauschen. Im Vergleich zu denen haben wir doch viel mehr Freiheiten. Es gibt zwar Pflichtfächer, aber ansonsten kannst du dir deinen Stundenplan mehr oder weniger selbst gestalten. Also ich würde unser Schulsystem so lassen wie es ist."
Ob sich Finnland das leisten kann, ist eine andere Frage. Der nächste Pisa-Test steht kommendes Jahr ins Haus. Christian Palarte aber kümmert das nicht: Der Liebhaber Dostojewskis und Tolstois wird dann längst die Schule hinter sich gelassen haben und Russisch studieren.
"Dann erinnern wir uns einfach an unsere glorreiche Vergangenheit. An die guten alten Zeiten, wo wir bei den Pisa-Tests Spitze waren."
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