Bildung für Mädchen in Tansania

"Denke nicht ans Heiraten!"

Die Ärztin Calista Simbakalia ist in einem Dorf in Tansania
Die Ärztin Calista Simbakalia ermutigt Mädchen in Tansania für Bildung zu kämpfen. © Deutschlandradio / Julia Amberger
Von Julia Amberger · 23.02.2017
In Tansania wissen die meisten Mädchen auf dem Land, was sie im Leben erwartet: Sie werden früh verheiratet, bekommen früh Kinder und werden Gemüse anbauen oder Schweine züchten. Die Ärztin Calista Simbakalia will das ändern: mit sexueller Aufklärung und Bildung für junge Frauen.
Ein Haus aus rotem Lehm in einer Steppe mitten in Tansania. Drinnen ist es finster und kühl. Es riecht nach Erde. Links steht eine Holzbank, darauf lehnen fünf Frauen – etwa um die 20 Jahre alt. Sie tragen Sport-T-Shirts und lange Röcke. Am Ende des Raumes steht ein Schreibtisch aus Holz. Dort wacht normalerweise der Dorfälteste über die 60-Einwohner-Gemeinde. Die Lehmhütte ist sein Büro. Heute hat er Platz gemacht für Calista Simbakalia, eine Ärztin.
Simbakalia ist hier, weil sie will, dass die Frauen in einer der ärmsten Regionen Tansanias auf eigenen Beinen stehen können. Die Frauen sind hier, weil sie sich bei der Geburt verletzt haben – und nun ein Problem haben. Sakina, eine von ihnen, spielt nervös mit ihren Flip-Flops:
"Als ich mein erstes Kind zur Welt brachte, entstand ein Riss zwischen Vagina und Blase."
Sakina gebar im Krankenhaus, dort wurde der Riss, eine Geburtsfistel, sofort operiert. Doch beim zweiten Kind war es anders:
"Ich lag sehr lange in den Wehen und zog mir wieder eine Fistel zu, sie war noch viel größer. Diesmal war ich nicht im Krankenhaus. Ich konnte mir den Transport dorthin nicht leisten."
Das Resultat: Sakinas Baby starb und die junge Frau musste vier Monate ununterbrochen Urin lassen, verschanzte sich aus Scham in ihrem Zuhause. Bis endlich eine Freundin eine Klinik für Geburtsfisteln informierte – und sie operiert wurde. Doch da war sie bereits alleine:
"Mein Ehemann hat mich verlassen. Ich habe gewartet und gehofft, dass er nach der Operation zurückkommt. Aber er blieb weg. Meine Eltern sind tot. Deshalb muss ich jetzt selbst für mich und mein Kind sorgen."

Vergewaltigungen durch alte Männer

Aufmerksam hört Ärztin Calista Simbakalia der jungen Frau zu. Simbakalia ist schon 70. Mit ihrer ruhigen Stimme und gelassenen Ausstrahlung zieht sie die Frauen in ihren Bann. Sie trägt ein bodenlanges Kleid mit einem farbenreichen Muster, um ihren Kopf hat sie ein Tuch gewickelt.
2012 hat sie in Tansania die Nichtregierungsorganisation "Utu Mwanamke" gegründet. Das Ziel: Sexuelle Aufklärung und Bildung für junge Frauen. Gerade ist sie für die NGO drei Tage lang im Nordwesten des Landes unterwegs.
Hier hat sich wenig verändert: Wenn Frauen vor der Hochzeit schwanger werden, werden sie von ihrer Familie verstoßen. Doch gerade Mädchen sind häufig Opfer von Vergewaltigungen – durch den Lehrer oder einen alten Mann im Dorf. Deshalb wollen die Eltern ihre Töchter früh verheiraten – zur Not auch an den Vergewaltiger. Viele bekommen mit elf oder zwölf das erste Kind.
"Dann sind sie verloren. Sie haben keinen Abschluss, bekommen keinen Job, bleiben im Dorf und bauen vielleicht Gemüse an. Meistens verdrücken sich die Jungs oder Männer, die die Mädchen schwängern. Sie wollen keine Verantwortung tragen. Schlimmer als für die Mutter ist das alles für das Baby, wenn es so aufwächst. Seine Zukunft ist ruiniert."
Calista Simbakalia wurde 1946 als zweites von zehn Kindern in einem Dorf wie diesem geboren. Ihr Leben hätte ähnlich verlaufen können wie das der Mädchen, die sie hier trifft. Hätte.
"Mein Vater hat von mir verlangt, immer die Klassenbeste zu sein. Nicht weniger. Und tatsächlich war ich von der ersten bis zur sechsten Klasse immer die Beste."

Frauen in den Dörfern sind nicht so stark

Simbakalias Vater war Krankenpfleger. Sie bewundert ihn und ist fleißig in der Schule. Denn sie hat einen Traum: Sie will Ärztin werden. Calista Simbakalia erarbeitet sich ein Stipendium für eine weiterführende Schule in Belgien – und sogar den Studienplatz für Medizin.
"In Europa habe ich verstanden, was den Frauen in Tansania fehlt. Und was ihnen eigentlich zusteht, um gesund leben zu können."
Als Simbakalia das erkennt und auch weil sie ihre Familie vermisst, fliegt sie etwas überstürzt zurück nach Tansania.
"Ehrlich gesagt habe ich meine Tutorin angelogen, meine Mutter sei krank, deshalb müsse ich zurück nach Hause."
Ihr Medizinstudium beendet sie in ihrer Heimat und leitet anschließend eine Schule für Krankenpfleger. Als eine der ersten Frauen wird sie ins Gesundheitsministerium berufen. Dort ist sie zuständig für Familienplanung – und seitdem hat sie eine Mission: Sie möchte, dass Mädchen in Tansania irgendwann ein selbstbestimmtes Leben führen, in dem Bildung an erster Stelle steht. Doch das braucht Zeit - und Geduld.
"Die Frauen in den Dörfern hier sind nicht so stark wie auf dem Land in Europa. In Europa sind die Frauen unabhängig, reif, sie können tun und lassen, was sie wollen, sprechen sich mit ihrem Ehemann ab. Aber hier in Afrika ist es ganz anders."
Tansania gehört zu den ärmsten Ländern weltweit. Aufgrund fehlender Versorgung und mangels Wissen sterben jedes Jahr 8.000 Frauen bei der Geburt. Etwa 20 Mal so viele verletzen sich dabei. Eine Mitverantwortung tragen auch die traditionellen Geburtshelferinnen – meist alte Frauen aus dem Dorf.
"Die Geburtshelferinnen sind nicht ausgebildet. Deshalb verursachen sie oft Probleme, statt sie zu lösen. Zum Entbinden braucht man zum Beispiel sterile Handschuhe. Aber sie machen das mit nackten Händen. Darauf tummeln sich immer Bakterien. Also stecken sie die Frauen oder das Baby an."
Pro Geburt bekommen die Helferinnen auf dem Dorf ein halbes Huhn oder ein Stück Schwein. Deshalb wollen sie nicht, dass die Frauen zur Geburt ins Krankenhaus gehen.
"Heutzutage sollten alle Frauen in Krankenhäusern gebären. Aber die Probleme beginnen schon mit dem Transport. In der Regenzeit dauert der Weg vom Dorf ins Krankenhaus oft sechs Stunden. Die Frau liegt aber schon in den Wehen. Wie soll sie jemals rechtzeitig ankommen? Vielleicht kommt das Kind unterwegs zur Welt. Wenn es zu groß ist, kann es sein, dass dabei Risse zwischen Vagina und Blase entstehen – und die Frauen werden inkontinent."
Besonders häufig passiert das in den ländlichen Gegenden Tansanias. Weil das Gesundheitssystem vielerorts nicht funktioniert. Aber auch, weil gerade dort die Frauen so früh schwanger werden. In Jugendclubs klärt Calista Simbakalia sie daher auf.

Berufswunsch: Ärztin oder Krankenschwester

Wir betreten eine Dorfschule, in der ihre NGO extra einen Jugendclub gegründet hat. Es ist düster, die schmalen Fenster sind mit einem Tuch verhängt, um die Hitze auszusperren. Heute sind eigentlich Ferien. Trotzdem drängen sich vor dem Pult zehn Mädchen, zwischen 16 und 18 Jahren. Simbakalia will von ihnen wissen, was sie einmal werden wollen:
Bildung für Kinder in Tansania: Die Ludete Pre-School in Geita ist ein vom Kinderhilfswerk "Plan International" gefördertes Projekt. Die Kinder erhalten Ausbildung, Schuluniform und Mittagessen.
Bildung für Kinder in Tansania: Die Ludete Pre-School in Geita ist ein vom Kinderhilfswerk "Plan International" gefördertes Projekt. Die Kinder erhalten Ausbildung, Schuluniform und Mittagessen.© dpa / picture alliance / Sandra Gätke
Ein Mädchen ruft "Ärztin", eine andere "Krankenschwester" oder "Lehrerin". Aber sie erzählen auch, dass ihre Eltern möchten, dass sie zu Hause helfen und bald heiraten. Simbakalias Eltern waren anders:
"Meine Mutter war zwar nur an der Grundschule, aber sie hat immer gesagt, dass Bildung sehr wichtig ist, vor allem für mich als Mädchen. Meine Eltern haben zu mir gesagt: Denke nicht ans Heiraten. Bildung ist die Nummer eins!"
Diese Botschaft möchte die 70-jährige Ärztin den Mädchen mit auf den Weg geben:
"Die Mädchen haben die elfte Klasse abgeschlossen, aber sie wollen weiter zur Schule gehen. Vielleicht sogar zur Uni. Die meisten von ihnen wollen Krankenschwester werden, dafür braucht man in Tansania ein Diplom. Und die anderen? Polizistin, Lehrerin, Ärztin. Das hat mich verblüfft – vor ein paar Jahren haben sie noch 'keine Ahnung' geantwortet. Was willst du einmal werden? 'Keine Ahnung.' Der Jugendclub hat sie verändert. Jetzt haben sie ein Ziel im Leben – nicht nur Heiraten."
Calista Simbakalia weiß: Sie kann hier in Tansania nur Impulse setzen. Aber wenn es nur eines dieser Mädchen schafft – dann könnte es selbst Vorbild für die anderen sein und ihre Mission fortsetzen.
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