Bilderbuch

Herbeigezauberte Fantasien

Ein Pferd steht grasend auf einem schneebedeckten Feld in Deutschland.
Zunächst ist das Pferd nur ein kleiner Punkt auf einer Wiese - am Ende nimmt es eine ganze Doppelseite ein. © picture alliance / ZB / Arno Burgi
Von Sylvia Schwab · 04.02.2014
Ein kleiner Mann, skizziert mit feiner Bleistiftlinie, bekommt Besuch von einem Pferd, flächig und knallrot illustriert. In Marie Dorléans wunderbar-witziger Bildergeschichte steht es für eigene, bedrohliche Fantasien - die sich aber auch wieder wegschicken lassen.
Bei einem kleinen Mann ist eines Tages ein Pferd zu Gast. Er selbst hatte es zum Tee eingeladen. Vielleicht, weil es so ganz anders ist als er - elegant und selbstbewusst. Aber das Pferd geht nicht wieder nach Hause! Es fühlt sich sauwohl bei ihm, macht sich immer breiter, nimmt schließlich die ganze Wohnung ein und frisst dem Mann buchstäblich die Haare vom Kopf und die Bücher aus dem Regal. Da muss er sich dann doch überlegen, wie er dieses Pferd wieder loswird.
So knapp die Geschichte ist, so hintergründig ist sie auch. Denn das Pferd ist nicht irgendein Tier, sondern es steht bildlich für das Eindringen von Frei- und Wildheit der Natur in die penible Ordnung des Ich-Erzählers. Das Pferd steht für Kraft und Dynamik, während der Mann verklemmt und ängstlich wirkt. Am Schluss wird klar, dass dieses Pferd eigentlich nur der Fantasie des Mannes entspringt. Er hat es sich ausgedacht, vielleicht auch nur geträumt. Und kann es darum auch wieder verschwinden lassen, indem er einfach nicht mehr an es denkt. Das ist dann auch die Idee, die hinter dieser Geschichte steht: Jeder, vor allem auch ein Kind, kann seine Fantasien und Träume selbst bestimmen. Egal, ob das Wunschträume oder Albträume sind.
Ein Pferd, dass immer größer wird
Marie Dorléans hat für ihre pfiffige kleine Geschichte eine wunderbar-witzige und ganz eigene Bildsprache entwickelt, die vor allem durch Kontraste wirkt. Den Mann, seine Wohnung mit Teppichen, Kerzenleuchtern, Bildern an der Wand, zeichnet sie in ganz feinen Bleistiftbildern. Die wirken fast wie alte Stiche oder Radierungen und erinnern in ihrer liebevoll-schnörkeligen Ausarbeitung an die Formen des Jugendstils.
Das Pferd dagegen ist der Knaller! Nicht fein schraffiert, sondern flächig und knallrot bildet es den absoluten Kontrast zur fragilen Welt des Mannes. Für ihn wird es zur Bedrohung, nicht nur durch die Farbe, sondern auch dadurch, das es immer größer wird. Vom winzigen roten Punkt draußen auf der Wiese wächst es jede Seite weiter. Am Schluss nimmt es die ganze Doppelseite ein und die Leser sehen nur noch rot. Ein erstaunlicher Effekt!
Riesenmammut mit Überraschungsauftritt
Dabei wirkt die Diskrepanz zwischen Mann und Pferd, ihrer Größe und Farbe, nicht bedrohlich, sondern äußerst komisch. Und wenn am Schluss das Riesenpferd davon galoppiert, dafür aber ein Riesenmammut auftritt, ist das eine köstliche Überraschung. Und der Beweis dafür, dass die Fantasie alles weg- oder herbeizaubern kann.
Komik steckt auch in den kleinen, präzisen Details dieser Illustrationen: Im Arrangement der schnörkeligen Möbel, in den merkwürdigen Bildern an den Wänden, im Tohuwabohu, das das Pferd anrichtet. Wenn man genau hinschaut, kann man auch erkennen, welche Bücher das Pferd liest – und auch frisst: lauter Pferdebücher. Sogar "Don Quichotte“ fällt seiner Gefräßigkeit zum Opfer, samt der wunderbaren Grafik von Salvador Dalí. Fazit: Dies ist ein Bilderbuch, das erstaunliche künstlerische Kreativität entfaltet, dazu eine psychologisch differenzierte Geschichte erzählt, mit ausdrucksstarke Bilder und einer Menge Spaß. Bravo!

Marie Dorléans: Der Gast
Aus dem Französischen von Anna Taube
mixtvision Verlag, München 2014
40 Seiten, 13,90 Euro, ab 3 Jahren