"Bilder von uns" am Schauspiel Bonn

Der verdrängte Missbrauch

Eine Szene aus der Bonner Inszenierung von "Bilder von uns"
Eine Szene aus der Bonner Inszenierung von "Bilder von uns" © Thilo Beu
Von Stefan Keim · 21.01.2016
Thomas Melle schreibt über Menschen, deren Leben aus den Fugen gerät und die sich am Rande der Gesellschaft wiederfinden. In dem Stück "Bilder von uns", uraufgeführt am Schauspiel Bonn, wird ein Geschäftsmann mit Kindheitsfotos von sich selbst konfrontiert. Ein Stück über Kindesmissbrauch.
Jemand hat Jesko Drescher ein Foto aufs Handy geschickt. Das Bild hat ihn abgelenkt, er wäre fast in eine Schulklasse hinein gefahren. Es zeigt einen Jungen mit nacktem Oberkörper in einer erotischen Pose. Die Lehrerin hält ihn für einen Pädophilen und will die Polizei rufen. Dann sagt Jesko: "Der Junge da, das bin ich." Er wirkt selbst überrascht, dass er diesen Satz so klar formulieren kann.
In Thomas Melles Stück "Bilder von uns" wechseln Dialogszenen mit reflektierenden Prosatexten. Aus verschiedenen Erzählperspektiven nähert Melle sich einem realen Thema. Vor sechs Jahren wurde bekannt, dass jahrzehntelang Schüler des Bonner Aloisiuskollegs von Jesuitenpatern missbraucht wurden. Eine Opfergruppe namens "Eckiger Tisch" hat sich gebildet und vor wenigen Tagen eine Dokumentation des aktuellen Forschungsstandes vorgelegt.
Das Stück beginnt wie ein Psychothriller
Melle erzählt eine fiktive Geschichte, die sich aber in vielen Details an den Berichten aus dem Aloisiuskolleg orientiert. Jesko Drescher, ein erfolgreicher Geschäftsmann, reagiert völlig verstört auf die Handybilder. Er geht auf Distanz zu seiner Ehefrau und sucht ehemalige Schulkameraden auf, um herauszufinden, wer ihm die Fotos geschickt hat.
Das Aloisiuskolleg am Donnerstag (04.02.2010) in Bonn. Auch am Bonner Aloisiuskolleg des katholischen Jesuitenordens hat es Fälle sexuellen Missbrauchs gegeben.
Am Bonner Aloisiuskolleg des katholischen Jesuitenordens hat es mehrere Fälle sexuellen Missbrauchs gegeben.© picture alliance / dpa / Oliver Berg
Thomas Melle schreibt über Menschen, deren Leben aus den Fugen gerät und die sich am Rande der Gesellschaft wieder finden. Seine Romane "Sickster" und "3000 Euro" bekamen gute Rezensionen und wurden für den Deutschen Buchpreis nominiert. In Bonn ist Thomas Melle 1975 geboren worden, am dortigen Theater ist er nun eine Art Hausautor. Im vergangenen Jahr wurde seine Übersetzung von Shakespeares "Königsdramen" am Schauspiel gezeigt, die Uraufführung von "Bilder von uns" ist nun Stadttheater im besten Sinne, ein Stück, das direkt auf Bonner Zeitgeschichte Bezug nimmt.
Das Stück beginnt wie ein Psychothriller im Stile Alfred Hitchcocks. Ein normaler Mann gerät in geheimnisvolle Geschehnisse, die er nicht überschauen kann. Im Mittelteil wird das Stück etwas didaktisch. Vier missbrauchte Ex-Schüler diskutieren, wie sie mit ihren Erlebnissen umgehen sollen.
Starkes, politisches Theater
Einer will radikal aufklären und in Fernsehtalkshows gehen, bei einem anderen funktioniert die Verdrängung perfekt, und er sieht keinen Handlungsbedarf. Ein dritter ist niemals darüber hinweg gekommen, depressiv und selbstmordgefährdet. Während Jesko, von dem alles ausging, irgendwann die Seiten wechselt. Er will allein klar kommen, vergräbt sich immer weiter in sich selbst und entfremdet sich beim Versuch, die Traumata zu verarbeiten, von allen anderen. Benjamin Grüter zeigt diese Entwicklung sehr feinfühlig, das gesamte Ensemble des Bonner Schauspiels zeigt sich von seiner besten Seite.
Alice Buddeberg hat den vielschichtigen Text behutsam und nachdenklich inszeniert, was sonst überhaupt nicht ihre Art ist. Vier Männer und drei Frauen sitzen im Halbkreis auf Stühlen. Jeder verkörpert eine Rolle, die Prosatexte sprechen sie abwechselnd. Diese Passagen bringen eine poetische, philosophische Qualität in das Stück. Das Publikum bekommt die Fotos nie zu sehen, aber die Schauspieler beschreiben die Wirkung der Bilder: "Alles noch ganz lose und weich. Ein Windstoß, und es fliegt auseinander. Knetbar ist es, in der Mache, noch kein Gesicht. – Aber der Körper war schon bekannt. Er war besetzt und sondiert von erwachsenen Augen. Ich hab kein gutes Gefühl dabei. – Dann verdräng es! Das sind wir uns schuldig."
"Bilder von uns" ist starkes, politisches Theater. Anknüpfend an den lokalen Fall erzählt Thomas Melle auf allgemeiner Ebene von den Spätfolgen des sexuellen Missbrauchs auf die Opfer und ihre Angehörigen. Die Rolle der Medien ist ebenso ein Thema wie die Bedürfnisse des Einzelnen. Am Ende wird der Abend wieder zum Psychothriller. Und die Frage, wer die Fotos geschickt hat und aus welchen Motiven, erfährt eine interessante Auflösung, die neue Rätsel aufgibt.

Die nächsten Vorstellungen: 27. Januar, 2., 11., 13., 19. Februar Weitere Informationen: www.theater-bonn.de

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