Bibliothekenboom trotz Digitalisierung

Winfried Nerdinger im Gespräch mit Ulrike Timm · 29.08.2011
Der Direktor des Münchner Architekturmuseums Winfried Nerdinger glaubt, dass es auch in Zukunft viele neue Bibliotheken geben wird. Die Ausstellung "Die Weisheit baut sich ein Haus" zeige, wie sich die Schatzkammern des Wissens zu offenen Mediatheken verändert hätten.
Ulrike Timm: Erst waren es Stelen aus Stein, dann Rollen aus Papyrus und Pergament: Bücher und Festplatten sind in der Geschichte von Bibliotheken eher neueren und neuesten Datums. "Die Weisheit baut sich ein Haus", so der schöne Titel der Ausstellung im Münchner Architekturmuseum, die sich der Geschichte und den Bauten von Bibliotheken widmet und die somit mal eben einige Tausend Jahre der Kulturgeschichte in Siebenmeilenstiefeln durchschreitet.

Winfried Nerdinger leitet das Architekturmuseum und ist ein passionierter Büchermensch dazu. Schöne, dass Sie da sind, guten Tag!

Winfried Nerdinger: Grüß Sie!

Timm: Herr Nerdinger, kann man die erste Bibliothek überhaupt dingfest machen?

Nerdinger: Na ja, so die Allererste nicht, aber wir wissen von Bibliotheken aus dem dritten Jahrtausend vor Christus im alten Ägypten, wir kennen Tonschriftensammlungen aus dem zweiten Jahrtausend aus dem alten Mesopotamien und Steinstelen mit Schriften aus dem alten China, aber ganz genau kann man es nicht sagen.

Timm: Aber wer ein paar Tausend Bücher – wie immer er sie fasst – wer ein paar Tausend Bücher besitzt, hat ja noch keine Bibliothek. Welche Ordnungssysteme gibt es denn und wie spiegeln die auch die Denkweise ihrer Zeit?

Nerdinger: Ja, das ist eigentlich das Wesen der Bibliothek, dass sie Wissen ordnet. Ein französischer Bibliothekar hat das einmal schön formuliert, indem er sagte: 30.000 Menschen sind noch keine Armee und 50.000 Bücher an einem Ort sind noch keine Bibliothek, das ist nur eine Menge gedruckten Papiers. Erst wenn diese Bücher in eine Ordnung gebracht werden, entsteht ein Wissensspeicher, wo ich Wissen auch wieder abrufen kann.

Und im Laufe der Jahrhunderte gab es da verschiedene Systeme. Man hat sich am Lauf der Gestirne orientiert, also so ein Abbild des Himmels versucht, man hat die Bücher geordnet nach den Fakultäten in den Universitäten. Dann in der Aufklärung wurde es streng rational, da gab es ein strenges Schema in der "Encyclopédie" von d'Alembert nach den Grundformen des menschlichen Denkens, der Erinnerung, der Vernunft und der Imagination. Und manchmal hat man dann auch einfach Dezimalklassifikationen genommen.

Timm: Also unser Alphabet, verbunden mit Fakultäten, dass man unterscheidet, geisteswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche, naturwissenschaftliche Lektüre, das ist nur eins von ganz vielen Möglichkeiten?

Nerdinger: Ja. Da hat man im Laufe der Geschichte immer wieder verschiedene Ordnungssysteme untersucht, und das ist auch Spiegel natürlich der jeweils vorherrschenden Vorstellungen von der Ordnung, die über dem Ganzen steht.

Timm: Gibt es eigentlich Schnittstellen, in denen sich das manifestiert, also auch ganz besonders wichtige Bibliotheken, an denen man so was ablesen kann?

Nerdinger: Man kann natürlich auch unterscheiden zwischen den Bibliotheken des Mittelalters, die ja noch relativ klein waren – da gab es nur eine begrenzte Anzahl von heiligen Büchern –, und da war das Ordnungssystem relativ einfach. Diese mittelalterlichen Bibliotheken umfassten nur mehrere Hundert Bände. Mit dem Buchdruck kommt eigentlich so eine Art Quantensprung, natürlich auch in der Quantität. Und dann kommen die ersten Ordnungssysteme, die sind meistens noch nach den Fakultäten der Universität geordnet.

Timm: Wie viel Wissen der Welt ist denn in Alexandria damals abgebrannt?

Nerdinger: Ja, Alexandria ist ja fast so die Urbibliothek, weil der König Ptolemaios der Erste den Auftrag gegeben hat, dort das gesamte Wissen der Antike zu versammeln – hat er zum Teil auch fast gewaltsam dann durchgeführt. Man schätzt, dass dort zwischen 400- und 700.000 Papyrusrollen gesammelt waren. Das war aber wahrscheinlich auch nur ein Teil des Gesamtwissens der Antike.

Timm: Nun sind Sie ja ein Architekturmuseum, Herr Nerdinger, und als die Bibliotheken aus den Klöstern und Schlössern heraus kamen, als die öffentlich wurden, jedermann zugänglich, widerspiegelt sich das auch in der Architektur?

Nerdinger: Ja. Die erste öffentliche Bibliothek war San Marco in Venedig, wobei wir öffentlich nicht ganz so in unserem heutigen Sinne natürlich verstehen dürfen – da konnte nicht jeder nach Belieben rein, das waren also schon die Gebildeten und Adeligen. Und die erste große berühmte Bibliothek war dann die von Michelangelo errichtete Biblioteca Laurenziana in Florenz. Das ist schon ein ganz gewaltiger Auftakt in der Architekturgeschichte, besteht aus zwei Räumen, einem ganz engen, schmalen Schachtraum, der wird fast ausgefüllt von einer Treppe, und da steigt man hinauf dann zu einem lang gestreckten Saal, der sich in die Tiefe erstreckt, und dort wird das Wissen ausgebreitet. Also eine Inszenierung, ein Aufstieg zum Wissen.

Timm: Für eine Bibliothek steht ja eigentlich auch immer der Lesesaal, eine große leere Mitte und an den Rändern dann Bücher, Bücher, Bücher, Bücher. Wie hat man den denn sicherlich auch ganz bewusst zur Zeit architektonisch gestaltet?

Nerdinger: Zuerst sind eigentlich noch so Pulte in den entweder Saalräumen oder Zentralräumen, aber als die Bücher dann immer mehr wurden, hat man sie Wandregale untergebracht, damit waren die Räume frei, man konnte sie auch nun ja auch architektonisch inszenieren. Und da ist ganz besonders im Barock eine wundervolle Fülle an Bauten entstanden – wenn Sie an die Hofbibliothek in Wien denken, das ist ein herrschaftlicher Prachtraum, aber auch die schönen Barockbibliotheken in St. Gallen oder Admont und in anderen Orten. Das waren fast so Pendants dann schon zu Kirchenbauten – auf der einen Seite der sakrale Raum und dem gegenüber dann der weltliche Wissensspeicherraum.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Winfried Nerdinger über die große Ausstellung im Architekturmuseum München, die sich der Geschichte und den Bauten der Bibliotheken widmet. Herr Nerdinger, ist diese Geschichte eigentlich zu Ende, denn die Weisheit oder sagen wir es bescheidener, das Wissen schwirrt doch heute durchs Netz – braucht es da noch neue Bibliotheken?

Nerdinger: Ja, das war eigentlich fast der Ausgangspunkt unserer Ausstellung, dass auf der einen Seite man seit zehn, 20 Jahren ständig lesen kann, Bücher werden verschwinden, alles wird nur noch elektronisch verfügbar sein, aber auf der anderen Seite kann man feststellen, dass noch nie so viele Bibliotheken gebaut worden sind wie in den letzten 20 Jahren. Alle berühmten Architekten scheinen sich geradezu danach zu drängen, Bibliotheken zu bauen, und wir zeigen einen kleinen Ausschnitt nur, was in den letzten zehn Jahren entstanden ist. Das sind schon, was wir zeigen, über 150 große Bibliotheksbauten. Also da ist ein gewisser Widerspruch.

Man kann das nun verschieden interpretieren, man kann sagen, das ist noch so ein letztes Aufbäumen, bevor diese Gattung verschwindet – das hoffe und glaube ich nicht, ich glaube eher, dass eine Art Umwandlungs-, Transformationsprozess stattfindet. Die Bibliotheken verändern sich, sie nehmen die neuen Medien auf und teilweise tragen sie aber auch noch die konventionellen Bücher weiter fort, verbinden sie mit den Medien, zum Teil entstehen aber auch schon Mediatheken, wo eigentlich im Wesentlichen nur noch die neuen Medien präsent sind.

Timm: Wenn man davon ausgeht, dass die Weisheit, die ein Haus braucht, heute dafür weniger Platz braucht, weil die Medien ja immer kleiner werden, dann könnten die Bibliotheken eigentlich auch kleiner werden, war so mein Laiengedanke, als ich durch den Katalog blätterte. Ist aber nicht so. Glas, Stahl, Durchlässigkeit, und die Häuser werden größer, als sie je waren. Wie steht das in Zusammenhang für Sie?

Nerdinger: Weil eben doch wohl weiterhin Bücher produziert werden, und zwar mehr denn je, und weil eben das Leseerlebnis, das Arbeiten und Denken mit Büchern und auch in einer Art Buchgemeinschaft doch ein ganz wesentlicher Teil auch unserer Kultur ist. Aber man kann schon sehen, dass eine neue Form von Bibliotheken entsteht.

Früher waren das ja so etwas in sich abgeschlossene Schatzhäuser, so etwas, ja, Festungsartiges fast – diese neuen Mediatheken, die sind nun ganz offen, fließend, da kann man hineingehen, kann auch drin essen, kann sich eben einstöpseln. Die kommunizieren auch mit der Umgebung, und man versucht, die Besucher fast wie so einen Kunden da zu empfangen und das auch bunt zu gestalten. Also da findet schon so eine Veränderung statt, aber dort sind immer auch noch Bücher vorhanden.

Eine dritte Richtung wäre natürlich, dass man überhaupt nur noch einen Computer, einen iPad oder was auch immer hat, wo man dann irgendwann einmal von jedem Punkt der Erde jede Information abrufen kann, dann brauche ich eventuell überhaupt keine Architektur mehr.

Timm: Und dann werden diese schönen alten Lesesäle endgültig ein Relikt aus musealen Zeiten?

Nerdinger: Das wäre natürlich ewig schade, aber ich glaube, zur Kultur gehört die Gemeinschaft und das Sichtreffen in Bibliotheken, das Nachdenken in dieser Wissensgemeinschaft und Wissensgesellschaft. Das ist, glaube ich, ein essenzieller Teil des Menschen, und insofern hoffe und glaube ich, dass es auch in Zukunft weiterhin noch viele neue Bibliotheken geben wird.

Timm: Herzlichen Dank fürs Gespräch! Winfried Nerdinger, der Direktor des Münchner Architekturmuseums. Da läuft zurzeit eine Ausstellung,"Die Weisheit baut sich ein Haus", zur Geschichte und den Bauten der Bibliotheken, und diese Ausstellung ist in München noch bis zum 16. Oktober zu sehen. Herr Nerdinger, herzlichen Dank!

Nerdinger: Danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema