Bibel-Roman

Die Mutter Gottes und wie sie die Welt sieht

Ein Bildnis der Jungfrau Maria in de Sophienkathedrale in Kiew
Ein Bildnis der Jungfrau Maria in de Sophienkathedrale in Kiew © dpa / pa / Dolzhenko
Von Ursula März  · 18.04.2014
Dieses Buch beruht auf einem umjubelten Theaterstück am Broadway - und es ist ein literarischer Coup: Colm Tóibín schildert die Lebens- und Passionsgeschichte Jesu aus der Sicht seiner Mutter Maria. Und die hat ihre ganz eigene Meinung zu den Ereignissen.
Eine Mutter erzählt die Tragödie ihres Lebens. Sie erzählt von der Entfremdung, vom grausamen Tod ihres Sohnes und sie erzählt dies alles auf ganz und gar persönliche Weise, aus der Perspektive ihrer eigenen, individuellen Erfahrung. Darin liegt das Überwältigende des kurzen Romanes von Colm Tóibín. Denn die Mutter, welcher der irische, 1955 geborene Schriftsteller in der Form der Rollenprosa eine Stimme verleiht, ist nicht irgendeine Mutter, sondern eine weibliche Ikone, wie es sie im christlich-abendländischen Kulturraum nur ein einziges Mal gibt. Sie ist das Inbild aller Mütterlichkeit: Maria, die Mutter Jesu.
Der Roman, der auf einem am Broadway umjubelten Theaterstück beruht, hat den schlichten Titel "Marias Testament". Er ist in einfachen, konzentrierten Sätzen geschrieben und er ist nicht weniger als ein literarischer Coup. Kein anderer Schriftsteller kam je auf die Idee, die Tóibín zu realisieren wagt: Die Lebens- und Passionsgeschichte Jesu aus der Sicht seiner Mutter zu schildern und zu interpretieren.
Maria hadert mit düsteren Erinnerungen
Sie ist, in der Erzählzeit des Romans, mittlerweile eine alte Frau, lebt allein in der antiken Stadt Ephesos, hadert mit düsteren Erinnerungen und merkt, dass sie belauert wird. Zwei Jünger Jesu, deren zudringliches Verhalten entfernt an Boulevardjournalisten erinnert, suchen sie in ihrem Haus auf, fragen sie nach den Ereignissen im Leben Jesu aus, die sie doch aus nächster Nähe erlebt haben muss: Die Wunder, die er vollbrachte, den Märtyrertod am Kreuz, den er erlitt, die Wiederauferstehung. All jene Ereignisse also, aus denen in der Überlieferung der Evangelisten der zentrale Teil des Neuen Testaments besteht.
Aber Maria bestätigt den biblischen Sinn dieser Ereignisse keineswegs. Von Erlösung hält sie so wenig wie vom Glauben an die Wiederauferstehung. Sie hält nichts von den Lehren ihres Sohnes, auch nichts von der charismatischen Wirkung, die er zu Lebzeiten auf Menschen ausübte. In den Augen dieser Mutter war er eine Art Rädelsführer, der sich mit einer, wie sie sagt, "Bande" einließ, die durchs Land reiste und die einfache Bevölkerung mit hochtrabenden Sprüchen verführte.
Eine mutige Kontrafaktur des Neuen Testaments
Schaudernd erinnert sie sich, wie er sie in der Öffentlichkeit verleugnete, schon bei der Hochzeit von Kana nichts mehr von ihr wissen wollte, weil sie seinem Aufstieg zum gefeierten Guru im Weg stand. Und sie erinnert sich, wie er ihre Mahnungen vor den römischen Häschern ignorierte und offenen Auges ins Unglück lief.
"Marias Testament" ist eine mutige Kontrafaktur des Neuen Testaments. Aber es ist von seiner Intention und seinem Sinngehalt her kein blasphemischer Roman. Colm Tóibín nimmt sich lediglich die literarische Freiheit, eine Wahrheit erzählen, die sich auf der Rückseite der
Bibel ereignet. Es ist die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn nicht beschützen konnte und der somit das Schlimmste geschah, was einer Mutter geschehen kann. Wie Tóibín diese Wahrheit formt, ist grandios.
Programmtipp: Auszüge aus "Marias Testament" hören Sie am Samstag, 19. April, um 17.30 Uhr in unserer Lesung.

Colm Tóibín: "Marias Testament"
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Hanser Verlag, München 2014
128 Seiten, 14,90 Euro

Mehr zum Thema