Bevölkerung aus ehemaligen Kolonien wird in Frankreich nicht anerkannt

Moderation: Holger Hettinger · 08.11.2005
Die andauernden Unruhen in Frankreich sind nach Ansicht der Historikerin Laurence Marfaing Ausdruck dafür, dass die französischen Bürger aus den ehemaligen Kolonien des Landes immer noch nicht anerkannt seien. Außerdem stelle sich die französische Gesellschaft nicht der Kritik an der eigenen kolonialen Vergangenheit, so Marfaing weiter.
Holger Hettinger: Ausschreitungen und kein Ende. Frankreichs Premierminister Villepin schließt einen Militäreinsatz gegen die Randalierer nicht aus, und der Bürgermeister von Raincy hat eine Ausgangssperre verhängt, und doch gab es in der zwölften Krawallnacht in Folge das gewohnte Bild: Brennende Autos, Schüsse und Steine auf Polizeibeamte. Zwar waren die Ausschreitungen nicht so schlimm wie in den Nächten zuvor, aber die Angst bleibt.

Welche Rolle spielt die französische Kommunalpolitik in diesem Zusammenhang? Das ist nun unser Thema mit Laurence Marfaing. Die Historikerin forscht am Zentrum Moderner Orient. Das ist eine Forschungseinrichtung in Berlin, die sich mit dem komplexen Wechselspiel zwischen überwiegend islamisch geprägten Gesellschaften und den islamischen Nachbarregionen beschäftigt.

Frau Marfaing, es wäre sicherlich falsch, die gewalttätigen Ausschreitungen in französischen Vorstädten auf eine Ursache eng führen zu wollen. Welchen Anteil hat denn Frankreichs Umgang mit seiner kolonialen Vergangenheit an dieser Situation?

Laurence Marfaing: Ich glaube, der Hauptfehler Frankreichs liegt daran, dass sie die Dienste der Kolonialbevölkerung nicht anerkennen, die Dienste der Kolonialbevölkerung als Soldaten, als Widerstandkämpfer, aber auch als Arbeiter seit dem Zweiten Weltkrieg hauptsächlich bis in die siebziger Jahre oder sogar noch früher. Die algerische Bevölkerung, die Kabilen, haben viel mitgewirkt beim Bau der Metro in Paris zum Beispiel.

Stattdessen hat Frankreich immer einen Diskurs der Zufriedenheit für sich selbst gehabt, das heißt, sie hat die Zivilisation in die Kolonien gebracht, Infrastruktur, Schulbildung, Gesundheitswesen usw. Natürlich hat die Kolonialisierung sicher für Austausch und Öffnungen für alle Beteiligten auch was mit bewirkt.

Aber ich glaube schon, dass die Jugendlichen heute, die die Krawallen machen, wirklich es schwer haben, sich in den Vätern zu erkennen, weil Frankreich den Stolz der Väter nicht füttern kann, das heißt, die Dienste der Kolonialzeit, ihr Mitwirken am Bau der französischen Kultur, der französischen Entwicklung usw. mitgewirkt haben.

Hettinger: Wieso entlädt sich das ausgerechnet bei diesen, den Fernsehbildern nach zu schließen, eher jugendlichen Menschen aus Algerien, aus Marokko, die in diesen Vorstädten leben. Wie kommt es zustande, dass ausgerechnet diese Generation jetzt diese Eskalationen bewirken?

Marfaing: Die Eskalation ist heute gekommen, weil Sarkozy sich so ausgedrückt hat, wie er sich ausgedrückt hat. Er hat sie nämlich als (???), als Gesindel, glaube ich, tituliert. Er hat wirklich den Finger darauf getan, das heißt, diese Jugendlichen werden damit stigmatisiert, dass sie eben "Schurken" sind, dass sie nichts machen. Ich glaube, als Sarkozy das gesagt hat, hat er sie alle in die gleiche Tüte getan, und er hat ihnen wieder mal diesen Stolz weggenommen.

Sie haben es satt, dass man ihnen überhaupt nichts übrig lässt, um ihre Identität wieder aufzubauen. An den Vätern können sie sich nicht wiedererkennen, in Frankreich sind sie nur die Ruhestörer, diejenigen, die Geld kosten, diejenigen, die nichts machen können, weder in der Schule noch nachher im Beruf. Ich glaube, das ist der Punkt, dass man diesen Jugendlichen überhaupt nichts lässt, um eine Identität aufzubauen, die eben würdig ist, ein Jugendlicher, ein heranwachsender Mensch zu sein.

Hettinger: Dieses Phänomen spricht ja auch Bände, was den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit anbetrifft, denn diese Menschen, die da aus Algerien nach Frankreich in die Vorstädte gezogen sind, das sind keine Ausländer, das sind ja Franzosen vom Statut her. Aber dennoch: Wenn man Sarkozys Äußerungen so hört, sie gehören nicht wirklich dazu. Wie kommt es zu dieser Spaltung?

Marfaing: Ich glaube schon, dass diese Spaltung daher kommt, dass eine Seite, das heißt die Kolonialgeschichte, die Größe Frankreichs daran war ja der große Stolz der Franzosen. Das heißt, die französische Regierung will diese Zeit als Größe darstellen und will diese Zeit nicht in Frage stellen, und andererseits – das ist wie ein Spagat – diese Leute, die aus den Kolonien kommen, werden als Fremde stigmatisiert. Sie sind natürlich Franzosen und seit eh und je, als die Algerier, die Marokkaner, die Afrikaner, Subsahara nach Frankreich gekommen sind, bis in die achtziger Jahre brauchten sie kein Visum, um zu kommen.

Ich glaube, das Problem kam auch am Ende der achtziger Jahre dadurch – das war wieder eine Beleidigung -, als diese Leute ein Visum gebraucht haben, das heißt, sie wurden wie alle anderen Migranten oder Herankommenden nach Frankreich als Fremde tituliert, und ich glaube, das ist zum Beispiel ein Auslöser gewesen, sie noch mehr als Fremde zu sehen, das heißt, sie, die privilegiert waren, waren plötzlich gezwungen, sich als Fremde zu bekennen Frankreich gegenüber, obwohl Frankreich immer noch diesen Diskurs hatte, sie gehören dazu, die Kolonien waren ein Teil Frankreichs.

Das heißt, es gibt ständig diesen Spagat von der französischen Regierung, sie gehören zu uns, wir haben eine gemeinsame Geschichte miteinander gemacht, und wiederum werden sie als Fremde stigmatisiert, weil, wenn sie in Frankreich sind, werden sie nicht in Frankreich als volle Franzosen akzeptiert.

Hettinger: Also da hat man Menschen genommen und gesagt, ihr seid jetzt Franzosen, aber ihr seid es auch wieder nicht.

Marfaing: Ihr seid mindere Franzosen, ihr seid mindere Soldaten, ihr seid Arbeiter, wenn ihr Arbeiter seid, dann seid ihr auch unqualifizierte Arbeiter. Das heißt, im Grunde sind sie immer etwas, was unter der normalen französischen Bevölkerung liegt.

Hettinger: Wenn keine Möglichkeit besteht, hier sich über die Nation oder über den Staat zu identifizieren, welche Rolle spielt denn dann die Religion, welche Rolle spielt der Islam?

Marfaing: Der Islam, die Moscheen haben natürlich dazu aufgerufen, dass man sich ruhig verhalten soll. Sarkozy hat vor sechs Monaten irgendwie versucht, auf dieser Ebene die Moscheenkontrolle zu bekommen, dass er sie als französische Institution deklariert hat, angesehen hat, aber der Islam ist vielmehr in Frankreich ein Ruhestifter. Die Moscheen haben sich im Augenblick wirklich dafür ausgesprochen, dass diese Jugendlichen zu Hause bleiben müssen.

Hettinger: Ist dieser Machtkampf, den Sarkozy jetzt im Moment bringt, ist das letztlich der Versuch eines Menschen, der Karriere machen will im politischen System und dafür andere Leute missbraucht?

Marfaing: Es wird darüber gesprochen in den Banlieus. Sie sagen, das ist kein Zufall, dass das jetzt passiert. Wir sind jetzt anderthalb oder zwei Jahre vor der Wahl, und Sarkozy versucht irgendwie, das auf dieses Spiel zu bringen als … das auf diese Krawalle zu bringen. Er versucht schon, als Retter Frankreich da zu kommen, er bringt die Sicherheit, er ist in der Lage, die Sicherheit in Frankreich wieder zurückzubringen und diese Banlieus, die ein Problem oder ein schwarzer Punkt in Frankreich sind, irgendwie zu bändigen.

Ich glaube schon – das ist überhaupt kein Geheimnis -, dass die Leute der Banlieus sagen, er provoziert uns so viel seit sechs Monaten oder seit einem Jahr mit seinem Sicherheitsdrang, dass er das nur provozieren konnte, dass wir nur dagegen agieren konnten. Viele sagen, im Grunde ist es ein Kalkül von ihm, wenn er das schafft, jetzt Ruhe in den Banlieus zu bringen, und er wird als Retter dann gesehen, als einziger, der die Macht hat, diese Leute in Gewalt zu bekommen.

Hettinger: Das erzählt ja auch viel über den Umgang mit der Geschichte dieser Kolonien in Frankreich. Wenn man zum Beispiel an Algerien denkt, eine Kolonialgeschichte, die mit einem blutigen Krieg zu Ende gegangen ist, immer noch ein Tabuthema im politischen Diskurs. Ich glaube, erst seit fünf oder sechs Jahren wird es nicht mehr als Auseinandersetzung verharmlost, sondern wirklich als Algerienkrieg bezeichnet. Warum tut sich Frankreich da so schwer?

Marfaing: Ich glaube schon, dass Frankreich sich allgemein schwer tut mit seiner Kolonialgeschichte. Die Kolonialgeschichte wird immer, wie ich vorhin sagte, als große Epoche der Geschichte gesehen, und ich glaube, Frankreich hat Angst, die Fehler dieser Geschichte, oder, na gut, die Konflikte, die in dieser Geschichte passiert sind, irgendwie an die Öffentlichkeit zu bringen, zu anerkennen, dass die Kolonisation keine friedliche Geschichte gewesen ist, dass, um ein Land zu erobern, auch als Kolonisator, dass man auch mit Gewalt das machen muss.

Ich glaube, Frankreich will an diesen Punkt nicht herankommen, weil sie Angst haben, diese Idee der französischen Republik als Zivilisationsstifter, als Menschenliebe, Frankreich hat im Grunde immer erwartet, dass die Mitbürger seiner Kolonien aus Liebe zu Frankreich Frankreich anerkennen, und ich glaube, Frankreich hat diese Wunde noch nicht pflegen können, dass die Leute der Kolonien, die Bevölkerung der Kolonien sich doch gegen Frankreich entschieden haben.

Die Franzosen allgemein haben das nicht überwunden, aber die Regierung ist nicht in der Lage, irgendwie das in Frage zu stellen, sich zu fragen, warum hat im Endeffekt die Kolonialbevölkerung sich gegen Frankreich entschieden, während Frankreich so viel versucht hat, um irgendwie diese Bevölkerung zu zähmen oder an sich zu bringen oder zu zivilisieren oder das Gute dieser Welt zu bringen. Ich glaube, das ist immer der Spagat der französischen Regierung.

Hettinger: Das war die Historikerin Laurence Marfaing. Sie forscht am Zentrum moderner Orient in Berlin.
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