Beunruhigendes Dasein

31.07.2012
In "Die Stille um Maja Abramowna" erzählt die russische Journalistin das tragische Scheitern einer Holocaust-Überlebenden in der Sowjetunion. Das Schicksal der verzweifelt kämpfenden Heldin des Romans lässt den Leser fasziniert mitleiden.
Eine einfache Frau erzählt ihr Leben. Sie beginnt mit ihrem Namen und fährt atemlos fort. Die Atemlosigkeit gibt sich nicht mit der Zeit, schließlich hat sie eine Menge erlebt in ihrem Leben, das sie aus dem Dorf Ostjor nach Kiew und Moskau führte. Ihr Bericht hetzt voran und bricht immer wieder mit einem "Aber darum geht es nicht" ab, um neu anzusetzen. Doch von dem zu erzählen, worum es geht, will Maja Abramowna nicht gelingen.

Margarita Chemlins "Die Stille um Maja Abramowna" ist der Roman eines tragisch scheiternden Lebens, und das Tragischste an ihm ist, dass die Frau, die ihn erzählt, ihr Scheitern nie begreift.

Maja Abramowna ist schön und legt Wert darauf. Nach dem Großen Vaterländischen Krieg, in dem ihr Vater stirbt, absolviert sie Ende der 40er-Jahre die Abendschule und arbeitet in der Sparkasse, obwohl sie die Verantwortung für das fremde Geld als außerordentlich bedrückend empfindet. Abends studiert Maja Pädagogik, denn "ich mochte Kinder. Ihren Anblick, und auch sonst. Aber da brach das erste Gefühl über mich herein."

In diesen drei unauffälligen Sätzen, von Olga Radetzkaja wie das ganze Buch in eine einfache, trockene und ungeachtet aller Knappheit viel verratende Sprache übertragen, ist das halbe Lebensdrama beschlossen. Maja mag den Anblick von Kindern mehr als diese selbst, und noch mehr als der Anblick von Kindern gilt ihr das "Gefühl": Maja verliebt sich.

Bald wird sie schwanger. Der Geliebte ist verheiratet, und seine Frau rettet ihre Ehe mit einem Appell an Majas Liebe: Die junge Frau sei doch Jüdin und wolle sicher nicht, dass ihr Kind und dessen Vater in diesen antisemitischen Zeiten zu leiden hätten, oder? Hier tritt der zweite, meist verborgene dramatische Strang des Romans hervor: der sowjetische Antisemitismus der Nachkriegszeit und die Furcht vor ihm bei denen, die die Judenmorde der Deutschen nicht vergessen können. Maja erzählt von der Erschießung aller Juden ihres Dorfes Ostjor en passant auf weniger als einer Seite, doch die Ereignisse prägen sie mehr als alles andere.

Staatlicher Antisemitismus und gesellschaftliches Beschweigen der "faschistischen" Judenmorde sorgen dafür, dass aus Majas Wunsch nach Glück stets Unglück entsteht. Die junge Frau spricht nicht über ihre Gefühle und Gedanken, "darum geht es nicht." Das Leben ist für sie ein einziger Kampf. Aus der Einsamkeit sucht sie sich durch immer neue Männer, neue Heiraten, neue Kinder zu befreien. In beinahe jedem sieht sie einen Feind und behandelt ihn auch so. Maja gilt als rücksichtslos, fühlt sich aber verkannt und als eigentliches Opfer. Als ihr Sohn Mischa, den sie einem anderen Mann unterschob und von ihrer Mutter hat erziehen lassen, von ihr nichts wissen will, gibt sie ihn voller Selbstmitleid auf. Einmal noch versucht sie, Kontakt aufzunehmen – vor allem, um einem Liebhaber gegenüber als sorgende Mutter zu erscheinen. Mischa verweigert sich. Die Stille um Maja nimmt zu.

Die russische Journalistin und PR-Managerin Margarita Chemlin, Jahrgang 1960, lässt in ihrem beunruhigenden ersten Roman die Heldin atemlos sprechen und den Leser fasziniert leiden. Er weiß dank einer subtilen, doppelbödigen Sprache bald mehr als Maja und bleibt doch hilflos. Das Leben einer sowjetischen Überlebenden des Holocaust rollt vor seinen Augen mit der Gewalt einer Tragödie ab.

Besprochen von Jörg Plath

Margarita Chemlin: Die Stille um Maja Abramowna
Roman
Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
310 Seiten, 24,95 Euro
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