Beunruhigende Familienwelten

25.06.2010
Die chilenische Schriftstellerin und Drehbuchautorin Carla Guelfenbein erzählt, wie die auf den ersten Blick kompakte Welt einer Familie in unterschiedliche Teile zerfällt. Was verdrängt wird, schwillt an und wird zur ungestümen Kraft.
Hinter der Barriere des Schweigens spielt sich nicht selten das Eigentliche ab. Stößt man vor in diese Zone, gelangt man mitunter an Abgründe, an denen klar wird, dass nichts mehr sein wird, wie es früher war. Die hübschen Fassaden der Wohlhabenheit fallen dann in sich zusammen, aus ihren Resten steigen die Tragödien auf.

Auf einem Familienfest belauscht der kleine Tommy ein Gespräch unter Erwachsenen und erfährt auf diese Weise, dass seine Mutter sich das Leben genommen hat. Schritt für Schritt recherchiert der Junge die Umstände des Todes seiner Mutter, es wird für ihn eine Reise, die ihn schließlich selbst das Leben kostet. Sein Vater Juan, ein engagierter und erfolgreicher Herzchirurg, findet erst ganz am Schluss der Geschichte heraus, womit sein Sohn sich beschäftigt hat.

Eingepuppt in den Kokon des Scheinhaften, des äußerlich Makellosen, der ausgestellten Perfektion, ist er nicht in der Lage, das Ausmaß der inneren Konflikte seines Sohnes einzuschätzen. Die liegen nicht nur im Aufdecken der wahren Geschichte seiner an Schizophrenie erkrankten Mutter, vielmehr zeigt sich, dass der herzkranke und daher körperlich schwächliche Junge in der Schule Drangsalierungen seitens seiner Mitschüler ausgesetzt ist.

Die Krise, in der Juans Beziehung zu seiner zweiten Frau steckt, nimmt er in der Routine seines anstrengenden Alltags zunächst kaum wahr. Eine gänzlich lautlose Distanzierung greift zwischen ihm und Alma immer weiter um sich.

Als sie einer alten Jugendliebe wiederbegegnet, fühlt sie sich zu dem Mann stark hingezogen, auch wenn ihre Erinnerungen an ihre lange zurückliegende kurze Affäre keine guten sind: Den instabilen jungen Mann, der damals gerade eine Alkoholentziehungskur hinter sich hatte, fand sie eines Morgens schlafend im Bett ihrer etwas vergnügungssüchtigen Mutter wieder.

In wechselnden Monologen erzählen die drei Hauptfiguren diesen Roman. Die auf den ersten Blick kompakte Welt einer Familie wird auf diese Weise zerlegt in unterschiedliche Welt-Bilder, ja Welten, die nur an den Oberflächen miteinander verbunden sind.

Mit äußerster Konsequenz konzentriert sich Carla Guelfenbein auf die verdeckten und mit Vorliebe beschwiegenen Seiten der Existenz, die als verborgene Konflikte die Katastrophe in sich tragen, weil das Ungesagte, das Verdrängte anschwillt und zur ungestümen Kraft wird. Dieser ganz in dunklen Tönen hervorragend erzählte Roman verströmt von der ersten bis zur letzten Seite eine tiefe Beunruhigung.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Carla Guelfenbein: Der Rest ist Schweigen
Aus dem Spanischen von Svenja Becker
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
335 Seiten, 19,95 Euro
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