Betrachtungen über den freien Blick

14.06.2010
Fenster haben eine lange Tradition in der Kulturgeschichte - schon Noahs Arche soll ein Fenster gehabt haben. Sie rahmen und eröffnen Blicke, die häufig ins Freie gehen. In seinem Buch untersucht Rolf Selbmann, was Fenster bedeuten.
Ist es kühn oder doch eher vermessen, wenn Rolf Selbmann sein Buch über das Fenster, das nur etwa 200 Seiten umfasst, eine Kulturgeschichte nennt? Immerhin versucht er nicht weniger als die Darstellung eines kulturgeschichtlichen Phänomens von der "Antike" bis zur "Moderne".

Fenster beschreibt Selbmann als "Schwellen" oder als "Grenzorte", deren Gegenpol die Wand bildet. Während das Fenster Durchlässigkeit garantiert, soll die Wand jede Form des Durchdringens – auch optisch – verhindern. Fenster rahmen, und sie eröffnen Blicke, die häufig ins Freie gehen.

Schon aus diesem Grund haben sie in der Kunstgeschichte eine lange und vielen Veränderungen unterliegende Tradition, die Selbmann so beschreibt: "Hatte das 18. Jahrhundert das Fenster als Mittel zur Lichtgestaltung und die Romantik es als metaphysische Schwelle definiert, so setzt die Moderne das Fenster für die Erfahrung einer diffusen Schwellenstruktur ein."

Das Fenster lädt aber auch zu einem Wechselspiel ein: es gestattet nicht nur, von innen nach außen zu sehen, sondern es geht auch umgekehrt. Beim Versuch, die Fensterwahrnehmung zu systematisieren, unterscheidet Selbmann vier Idealtypen: das Fenster als Lichtwand, als Fensterraum, als Rahmen und als Schaufenster.

Diese typologische Beschreibung wird auf 17 Seiten abgehandelt, wobei der Unterschied zwischen "Fensterraum" und "Rahmen" unscharf bleibt. Zur Rubrik "Fensterraum" gehören Fensterbilder nach Ansicht des Autors dann, wenn sie den "Mittelpunkt der Betrachtung" bilden und also mehr darstellen, als einen "Funktionsgegenstand".

Allerdings ließen sich auch die von Selbmann unter dem "Rahmen"-Aspekt herangezogenen Bildbeispiele dem Fensterraum zuordnen. Keine Rolle spielt in diesem Buch das Fenster in der Fotografie, und auch Beispiele aus dem Film sind äußerst spärlich. Gänzlich unterbelichtet bleibt auch das Schaufenster. Kein Wort verliert der Autor darüber, seit wann es Schaufenster gibt und welche Bedeutung die Schauwerbung innerhalb der großstädtischen Warenwelt hatte.

Dennoch, das Buch ist lesenswert. Aber es ist keine Kulturgeschichte, sondern eher ein Essay, der viele Beispiele aus der Literatur und der bildenden Kunst versammelt. Da das Buch reich bebildert ist, fühlt man sich gut unterhalten, nur Thesen oder überzeugende Systematisierungsversuche darf man nicht erwarten.

Dafür werden einige, vielleicht kaum noch erinnerte Fenstergeschichten in Erinnerung gerufen. So soll auch Noahs Arche ein Fenster gehabt haben. Wenn das stimmt, wäre Gott der erste Auftraggeber für den Bau eines Fensters gewesen.

Aus einem anderen Fenster schaute Goethe in Rom, der dabei von Tischbein auf einer Zeichnung festgehalten wurde. Während der Dichter auf die Straße blickt, sieht der Betrachter nur den Rücken des Schauenden. Wie dieses Motiv über Caspar David Friedrich bis hin zu Dali variiert wird, gehört zu den überzeugenden Kapiteln einer ansonsten viele Aspekte ignorierenden Studie, von der man sich mehr erhellende Einblicke erhofft hätte.

Besprochen von Michael Opitz

Rolf Selbmann: Eine Kulturgeschichte des Fensters von der Antike bis zur Moderne
Reimer Verlag, Berlin 2010
221 Seiten, 39,00 Euro